Die Mühsal der Zugänglichkeit

Methodische Herausforderungen beim Aufbau virtueller Lesesäle

  1. Entdeckungsreisen im virtuellen Archiv und die Einbuße der Sinnlichkeit
  2. Erschließung als Hindernis digitaler Bereitstellung
  3. Auswahl durch Kommunikation
  4. Virtuelle Lesesäle mit verlässlicher Beratung

Anmerkungen

Archive investieren mittlerweile sehr viel Geld in die Digitalisierung ihrer Bestände, um sie ihren NutzerInnen komfortabel online bereitzustellen. Mit dem Aufbau virtueller Lesesäle geht es nicht mehr um die schon traditionell zu nennende Form der Digitalisierung, bei der exemplarisch besondere Einzelstücke in Form einer Ausstellung online präsentiert werden, sondern es geht tatsächlich um die Bereitstellung von Archivgut zur wissenschaftlichen Auswertung im virtuellen Raum statt im analogen Lesesaal. Doch während Fördermittel in großem Stil beantragt und bewilligt sowie die technischen Rahmenbedingungen geschaffen und ausgebaut werden, finden inhaltlich-methodische Diskussionen in Deutschland bisher kaum statt.1 In Frankreich hingegen wird in Anlehnung an das vor 30 Jahren erschienene Buch von Arlette Farge der »Geschmack des Archivs« im digitalen Zeitalter debattiert,2 und in der Schweiz wird das klare Ziel verfolgt, dass der virtuelle Raum den analogen ersetzen soll.3 In skandinavischen Ländern ist dies sogar schon geschehen. Dabei ist es in Deutschland keine programmatische Festlegung, dass am traditionellen Lesesaal festgehalten wird, oder muss es zumindest nicht sein, weil die schiere Menge an analogem Archivgut noch für lange Zeit auch herkömmliche Lesesäle erforderlich machen wird. Umso schwieriger wird es in dieser Übergangsphase, die Konturen des virtuellen Raumes genauer zu fassen und zu klären, was eigentlich das Ziel der digitalen Bereitstellung sein soll: eine Art Add-on, ein gleichwertiges Nebeneinander oder eine neue Form der Quellennutzung?

1. Entdeckungsreisen im virtuellen Archiv und
die Einbuße der Sinnlichkeit

Was Archive und ihre NutzerInnen in der Übergangsphase vom Analogen zum Digitalen verlieren und gewinnen können, wird in den Vereinigten Staaten gerade sehr intensiv am Beispiel der neu zu errichtenden Präsidentenbibliothek für Barack Obama diskutiert. Präsidentenbibliotheken sind Archive, welche Aufzeichnungen des jeweiligen Präsidenten am Ende seiner Amtszeit übernehmen, unter Aufsicht des Nationalarchivs der USA verwahren und der Allgemeinheit zugänglich machen. Für Obama wird derzeit ein Presidential Center in Chicago gebaut – es wird die erste Institution dieser Art sein, welche einen ausschließlich digitalen Zugang zum Archivgut bieten wird. Nun liegt hier bereits der weitaus größere Teil der Aufzeichnungen in digitaler Form vor, aber auch die analogen Unterlagen werden nur als digitale Abbilder zugänglich sein. In einem Interview auf die geplante rein digitale Präsidentenbibliothek angesprochen, erwidert der Historiker und Lyndon B. Johnson-Experte Robert A. Caro: »I don’t want anyone deciding what’s going to be digital. I don’t want anything standing between me and the papers. I think the younger generation doesn’t know what it’s like to hold the actual thing in your hand.«4 Er bringt damit zwei Kernfragen auf den Punkt: Wer entscheidet über die Auswahl, die angesichts der schieren Masse des analogen Archivgutes zwingend erfolgen muss, und was wird aus der sinnlichen Erfahrung des Kontakts mit dem Original?

Die VerfechterInnen der digitalen Variante stellen dem Verlust sinnlicher Erfahrung und dem Monopol auf spektakuläre Entdeckungen die Möglichkeiten und Chancen einer breiten Öffnung der Archive in digitaler Form entgegen und beschreiben dies als eine neue, eigene Form der Serendipität.5 Demnach kann auch das Stöbern im Netz diese Serendipität erzeugen, eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als überraschende Entdeckung erweist; ein Mehrwert, der sich aus der größeren Offenheit für Fragen und der ungleich größeren Anzahl an Fragenden ergibt. Michael Hollmann, der Präsident des Bundesarchivs, hat diese positive Vision des virtuellen Lesesaals als tatsächliche Verwirklichung des archivgesetzlichen Anspruchs beschrieben, der jeder Person Zugang zu Archivgut ermöglicht, sofern die Schutzfristen abgelaufen sind.6 Der kulturelle Wert von Archivgut ergibt sich nach Hollmann nicht – oder zumindest nicht vorrangig – aus seinem materiellen Wert, da es als unveräußerliches Kulturgut keinen Verkehrswert besitzt. Der eigentliche Wert der Bestände erwächst aus der Wahrnehmung durch die NutzerInnen. Tatsächlich wird Archivgut gesichert und erschlossen, damit es wahrgenommen wird, d.h. damit NutzerInnen es lesen, betrachten, hören oder auf andere Weise zur Kenntnis nehmen und für ihre wissenschaftlichen oder sonstigen Zwecke verwenden können. Der freie Zugang über das Internet lässt sich somit auch als Erfüllung des institutionellen Zwecks eines Archivs verstehen. Die digitale Bereitstellung bietet die Chance, einem weit größeren AdressatInnenkreis als bisher die Teilhabe am kulturellen Erbe zu ermöglichen.

Aber ein virtueller Lesesaal ist kein digitales Abbild des analogen. Bei seinem Aufbau müssen die methodischen Bedingtheiten berücksichtigt werden, wenn der Anspruch darin besteht, nicht bloß eine Sammlung wertvoller Einzelstücke ins Netz zu stellen. Dies soll am Beispiel des Bundesarchivs mit seinen mehr als 400 km Akten, 12 Mio. Fotos, 150.000 Filmen ganz überwiegend aus dem Bereich der Zeitgeschichte und seinen Digitalisierungsbemühungen aufgezeigt werden.

2. Erschließung als Hindernis digitaler Bereitstellung

Quellenkundlich sind Digitalisate schwer zu fassen. Sie sind die digitalen Abbilder verschiedener analoger Quellengattungen (Urkunden, Akten, Fotos etc.) und werden in der Regel nicht als eigene Quellenkategorie gewertet.7 So, wie sie heute präsentiert werden, verfügen Digitalisate nicht über die besonderen Eigenschaften originär digitaler Quellen, welche sich durch automatisierte Verarbeitbarkeit und Verknüpfbarkeit auszeichnen. Ihre Integrität lässt sich nicht am Digitalisat selbst, sondern nur mit Hilfe des analogen Ausgangsstückes eindeutig beweisen. Um Digitalisate interpretieren und einordnen zu können, bedarf es zunächst der gleichen grund- und hilfswissenschaftlichen Kompetenzen wie für die Arbeit mit den Originalen. Kollaborative Werkzeuge für das neuzeitliche Schriftgut gibt es im Gegensatz zu bereits bestehenden Angeboten im Bereich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen nicht. In der Regel muss jede Nutzerin und jeder Nutzer die präsentierten Quellen selbst sowohl sprachlich verstehen als auch entziffern können. Ebenso sind Grundkenntnisse über Aktenführung, Aktenpläne und die verschiedenen Entstehungsstufen von Dokumenten unverzichtbar. Die bloße digitale Bereitstellung löst damit nicht das Problem, dass »die wissenschaftliche Community sukzessive die Fähigkeit verliert, dieses immense und zunehmend besser zugängliche kulturelle Erbe adäquat zu erschließen und für die eigene Forschung fruchtbar zu machen«.8 Es ist zwar bereits heute technisch möglich, mit Technologien des Web 2.0 und der Linked Open Data Kontexte sichtbar zu machen. Das gilt vor allem für geographische und biographische Bezüge, die über Normdaten noch vergleichsweise simpel kenntlich gemacht werden können. Mit Sicherheit werden hier zukünftig auch andere Ordnungslinien als die klassischen provenienzbezogenen Gliederungen zum Vorschein gebracht werden können. Ebenso sind auch im Bereich der Zeitgeschichte die erwähnten kollaborativen Werkzeuge denkbar, mit denen Wissen geteilt werden kann. Die schiere Menge und Heterogenität des Materials wird aber auf absehbare Zeit den Großteil der NutzerInnen auf ihre eigenen grundwissenschaftlichen Kompetenzen verweisen. Die digitale Bereitstellung kann daher den intellektuellen Zugang zu Archivgut nicht erleichtern, den praktischen dafür umso mehr.

Diese praktische Hilfe ist insofern besonders geboten, als die Zahl der NutzerInnen, die in die Lesesäle kommen, stagniert. 2018 waren es im Bundesarchiv 5.300 Menschen mit 8.200 Benutzungsvorhaben, davon 4.000 wissenschaftliche. Verändert hat sich die Aufenthaltsdauer in den Lesesälen: Im Durchschnitt sind es nur noch weniger als vier Tage pro Benutzungsthema. Zu den persönlichen Benutzungen kommen rund 63.000 schriftliche Anfragen im Jahr.

Die Zahlen können sich sehen lassen, doch blättert man durch die Quellenverzeichnisse mancher Neuerscheinungen, wundert man sich, wie viele Arbeiten ganz ohne die Verwendung von Archivgut auskommen, auch wenn oder gerade weil es im Bundesarchiv Kilometer von Akten zu den Themen gegeben hätte. Angesichts der steigenden Zahlen von Forschungsvorhaben ist dies eine eher traurige Bilanz. Wie lässt sich darauf reagieren? Die Archive sind insgesamt dabei, ihre Angebote auf den Prüfstand zu stellen. Dies wird nicht nur im Bundesarchiv zu gravierenden Veränderungen der Facharbeit führen. Hier lautet das Ziel, den digitalen Wandel in der archivischen Arbeit nachzuvollziehen.9 Damit ist nicht nur die Digitalisierung im engeren Sinne gemeint, sondern es geht um alle Kernbereiche des fachlichen Arbeitens. Dabei können die digitale Bereitstellung und die Erschließung, das heißt die inhaltliche Beschreibung des Archivgutes, nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Zum Teil haben diese Veränderungen schon vor vielen Jahren begonnen, ohne dass sie damals mit dem Schlagwort des digitalen Wandels versehen worden wären.

Rückblick auf die Anfänge der digitalen Überlieferung, hier aus der DDR:
Das Foto zeigt einen PC von Robotron. Die überlieferten Daten waren auf Magnetbändern bzw. -kassetten oder auf Disketten gespeichert. Auf den Disketten befanden sich vorwiegend frühe Anwendungen im Datenbankverwaltungssystem »Redabas«, der DDR-Variante von »dBASE«. Die wichtigsten Bestände sind die Häftlingsdateien des Ministeriums des Innern, der Zentrale Kaderdatenspeicher, Grenzzwischenfälle an der innerdeutschen Grenze, viele maßgebliche Statistikdaten sowie Informationen über Eingaben von DDR-BürgerInnen beim Staats- und Ministerrat. Die Daten sind im Bundesarchiv heute auf einem Massenspeicher abgelegt.
Die Datenträger werden nicht vollständig, aber exemplarisch aufbewahrt.
(Bundesarchiv, B 198 Bild-2017-0220-044, Foto: Jürgen Nobel)

Der erste Schritt war die Digitalisierung der bis dahin analog geführten Findbücher und Karteien. Es folgten die Öffnung der eigenen Datenbank für die NutzerInnen und die Abkehr von den Findbüchern. Diese waren bis vor wenigen Jahren im Prinzip die Quintessenz archivarischen Arbeitens, die exakte Beschreibung abgeschlossener Überlieferungsteile einschließlich wissenschaftlich fundierter Bestandseinführungen. Mit der Öffnung der zugrundeliegenden Datenbanken für den externen Zugriff gibt es solche Formen der Vollendung nicht mehr. Freigeschaltet sind auch Bereiche, die nicht den Qualitätskriterien entsprechen, welche bisher für Findbücher galten. NutzerInnen erhalten damit deutlich mehr Material in direktem Zugriff, aber es ist weniger detailliert beschrieben als früher.

Trotz dieser bereits vollzogenen Änderung ist aber die Vorstellung bestehen geblieben, dass es möglich sein könnte, alle abgeschlossenen Überlieferungsteile so zu beschreiben, dass sich NutzerInnen vollkommen selbstständig in der Datenbank bewegen, ihre Akten bestellen und auswerten können – ohne Unterstützung durch ArchivarInnen, welche die gesparte Zeit bei der NutzerInnenberatung in eine möglichst weitgehende Beschreibung der noch nicht erschlossenen Überlieferung investieren können.

Ein Blick auf die Zahlen macht schnell klar, dass das zumindest im Bundesarchiv nicht funktionieren wird. Denn mehr als 1.100 Personenjahre wären nötig, alles gleichmäßig zu beschreiben.10 Und es sind nicht nur die hohen Zahlen der Rückstände, es sind auch die gewaltigen Herausforderungen der neu – und zwar digital – entstehenden Überlieferung, die jede Aussicht auf Zielerreichung illusorisch machen, zumal nicht mehr, sondern tendenziell weniger Personal an der Erschließung arbeitet. Eine Diskussion über diese in den meisten Archiven wohl ähnliche Situation findet aber in der Fachliteratur auch auf internationaler Ebene nicht statt. Hier werden fast nur die Erschließungsstandards diskutiert und weiterentwickelt, ohne die Frage zu stellen, woher die Informationen für die immer granulareren Metadatensets kommen sollen.11

Ein Umsteuern ist zwingend erforderlich und lässt sich auch fachlich begründen. Im Durchschnitt werden jedes Jahr im Bundesarchiv 185.000 Akten benutzt. Insgesamt verwahrt das Bundesarchiv 17 Mio. Akten. Selbst wenn man nur die 4,5 Mio. heute frei zugänglichen Akten nimmt, um einen Durchschnittswert zu errechnen, ergibt sich, dass eine Akte einmal alle 24 Jahre benutzt wird. Was bedeutet das? Die 20 am stärksten nachgefragten Akten des Bundesarchivs werden zwischen 34- und 79-mal pro Jahr benutzt. Damit zeigt sich schnell, dass es eine große Menge an Überlieferung gibt, die vielleicht nur einmal von einem absoluten Spezialisten konsultiert wird. Diese sehr unterschiedliche Benutzungshäufigkeit rechtfertigt auch ein differenziertes Vorgehen bei der Beschreibung der Bestände. Der Festlegung der Erschließungsintensität liegt immer eine Güterabwägung zugrunde: Eine dokumentenbezogene umfassende Erschließung bedeutet die Beschränkung auf einen Bruchteil der vorhandenen Überlieferung; eine grobe, kursorische Erschließung ermöglicht dagegen die grundsätzliche Zugänglichkeit des gesamten Überlieferungsspektrums und erfüllt damit die Grundbedingung wissenschaftlichen Arbeitens, erfordert aber auch die Bereitschaft der NutzerInnen, sich auf ein solches Angebot einzulassen.

Künftig wird es im Bundesarchiv detailliert erschlossene Leitbestände geben. Der Rest, so er denn bis heute nicht erschlossen ist, wird nur noch dann tiefer erschlossen, wenn ein tatsächliches oder ein anzunehmendes Benutzungsinteresse daran besteht. Das setzt zwei Dinge voraus: Es muss zumindest eine rudimentäre Information zu einem Bestand zu finden sein, damit jemand überhaupt fragen kann, und der Austausch mit den NutzerInnen muss wieder in Gang kommen. Die Regel, dass un­erschlossenes Archivgut nicht benutzbar ist, darf und wird es nicht mehr geben. NutzerInnen und ArchivarInnen müssen hier gemeinsam Wege finden, wie relevantes Material ausgewertet werden kann. Das erfordert Flexibilität auf Seiten des Archivs, aber auch Bereitschaft seitens der NutzerInnen, sich ggf. durch hunderte von Akten zu kämpfen – zunächst einmal unabhängig davon, ob Archivgut analog oder digital genutzt wird. Das Finden relevanten Materials erfordert die gleichen Kompetenzen. NutzerInnen müssen blättern und dafür auch zumindest ein rudimentäres Grund­wissen mitbringen, wo sie finden könnten, was sie suchen. Wichtigste Voraussetzung ist das Wissen darum, dass sich Archivgut, so wie es von den meisten Archiven aufbereitet ist, nicht googeln lässt, d.h. dass eine Stichwortsuche vielleicht Glücks­treffer hervorbringen, aber niemals zu einem annähernd vollständigen Recherche-Ergebnis führen kann, weil die Akten nur auf der Titelebene erschlossen sind und Dokumentenbetreffe und Namen der Beteiligten nicht aufgenommen sind. Hilfreich wären hier Möglichkeiten zur Volltextrecherche, die es aber zumindest mittelfristig nicht geben wird, weil die technologischen Voraussetzungen, unikales Archivgut vernünftig als Volltext zu erfassen, noch fehlen. Denn auch eine lernende Software wird zumindest in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein, auf jeder Seite in Schrift und Gestalt unterschiedliche Handschriften oder Marginalien zu erfassen und korrekt darzustellen.

3. Auswahl durch Kommunikation

Eine »Grundversorgung« mit Erschließungsinformationen bleibt unverzichtbar, um es den NutzerInnen zu ermöglichen, für sie relevante Bereiche zu identifizieren und auch deren Digitalisierung zu veranlassen. Eine solche nutzergesteuerte Anreicherung des digitalen Angebots ist eine wichtige Säule beim Aufbau eines digitalen Lesesaals. Das bedeutet, dass die NutzerInnen statt einer teuren Archivreise eine Digitalisierung relevanter Akten in Auftrag geben, die ihnen dann über das Netz zur Verfügung gestellt werden. Damit verbunden ist der Service, die Quellen in den Fußnoten der Publikation dauerhaft und stabil verlinken zu können. Idealerweise können dann alle LeserInnen gleich auf den Link gehen und sich selbst ein Bild machen. In der aktuellen Diskussion um Forschungsdateninfrastrukturen liegt hier potentiell auch ein wichtiger Beitrag, den Archive zumindest für die Geschichtswissenschaft leisten. Damit könnte vermieden werden, dass an vielen Stellen Repositorien für in diversen Forschungsprojekten digitalisiertes Archivmaterial unterhalten werden müssen. Vorausgehen müsste eine deutlich engere Kooperation von WissenschaftlerInnen und Archiven im Vorfeld der Forschungsvorhaben, um zu digitalisierende Bereiche identifizieren und dann entsprechend bereitstellen zu können. Im Feld der jüngsten Zeitgeschichte bedarf es hierzu ggf. auch eines Vorlaufes für die Bewertung und die Erschließung, der realisierbar ist, wenn rechtzeitig Absprachen erfolgen. Im Bundesarchiv werden derzeit schwerpunktmäßig die Bereiche Soziale Sicherung, Migration und Integration sowie die Überlieferung des Bundesverfassungsgerichtes erschlossen. Hinzu kommt ein mit Drittmitteln gefördertes Projekt zur wirtschaftlichen Transformation in den neuen Bundesländern, in dem vor allem die Akten der Treuhandanstalt erschlossen werden. Für die nächsten drei Jahre wurden die Themen Innere Sicherheit, bilaterale internationale Beziehungen sowie Wiedergutmachung und Rückerstattung priorisiert. Diese Schwerpunkte ergeben sich hauptsächlich auf Basis der NutzerInnenanfragen. Weitere oder folgende Schwerpunkte können gesetzt werden, wenn von Forschungsseite konkretes Interesse bekundet wird.

Eine zweite Säule des Aufbaus des digitalen Angebots ist die systematische Digitalisierung durch das Archiv selbst. Wegen der genannten Mengen ist ein flächen­deckender Ansatz der Digitalisierung vollkommen ausgeschlossen. Deshalb müssen Auswahl-Entscheidungen getroffen werden. Angesichts der Zahlen zur Benutzungsfrequenz einzelner Akten erscheint eine komplette Digitalisierung allerdings auch trotz aller methodischen Unschärfen fachlich nicht geboten.

Neben der Benutzungshäufigkeit bietet sich heute aus Gründen des Datenschutzes und des Urheberrechtes die Beschränkung auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg an, da Unterlagen aus der Zeit nach 1945 einer solchen Fülle juristischer Restriktionen unterliegen, dass der Prüfaufwand nicht zu leisten ist. Allerdings stellt sich hier erneut die Frage nach dem Ziel der Digitalisierung: Geht es um die möglichst umfangreiche Darstellung von Archivgut für eine unbestimmte Menge an NutzerInnen im Netz, ist dieser Ansatz der richtige. Soll aber der virtuelle Lesesaal als echter Forschungsraum genutzt werden, ist ein Ausschluss der Zeitgeschichte nach 1945 eigentlich nicht akzeptabel. Beschränkte Zugänge wären technisch ohne großen Aufwand einzurichten, wie das Beispiel des Schweizerischen Bundesarchivs zeigt.12 Da aber viele Archive auf Drittmittel für die Digitalisierung angewiesen sind, verhindern hier die momentanen Förderrichtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die weitere Entwicklung, da nur finanziert wird, was zu mindestens 95 Prozent uneingeschränkt online gestellt werden kann. Hier müssten sich auch die ForscherInnen positionieren und ihren Bedarf an solchen Angeboten formulieren.

Das Bundesarchiv hat sich in einem ersten Projekt vor einigen Jahren zunächst auf Unterlagen zum Ersten Weltkrieg beschränkt und ist im März 2018 mit dem Portal »Weimar – die erste deutsche Demokratie« online gegangen.13 Es handelt sich hier um Work in Progress. In den nächsten Jahren sollen 4 Millionen Digitalisate von Akten aus der Zeit der Weimarer Republik verfügbar sein. Zu den Akten kommen auch Fotos, Töne und Filme – Quellengattungen, die der historischen Forschung mit dem Portal stärker zugänglich gemacht werden sollen. Das große Ziel ist es, bis 2033 auch alle relevanten Quellen zum Nationalsozialismus online verfügbar zu machen.

Bei einer nutzergesteuerten Anreicherung des digitalen Angebots stellt sich die Frage nach der Richtigkeit der Auswahl nicht; bei der vom Archiv veranlassten dafür umso mehr. In der Auswahl für die Digitalisierung kommt den sogenannten Rückgratbeständen eine besondere Bedeutung zu – für Weimar unbedingt die Reichskanzlei, die den Recherche-Einstieg zu fast jedem Thema bieten kann, welches das Handeln staatlicher Stellen umfasst. Um den jeweiligen Kontext einzelner Dokumente zu wahren, werden nur vollständige Akten digitalisiert. Außerdem beschränkt sich das Angebot digitalisierter Quellen nicht auf Schriftgut, sondern umfasst auch Fotos, Filme, Töne und Karten, beispielsweise Filmmaterial aus den frühen Wochenschauen der 1920er-Jahre, Tonaufnahmen von Wahlkampfreden oder Fotos aus dem Bildbestand Georg Pahl, der mehrere Tausend Fotos aus dem Alltagsleben und zu politischen Ereignissen der Weimarer Republik enthält.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mit der Auswahl für die Digitalisierung ein erneuter Auswahlprozess durchlaufen wird, nachdem bereits bei der Übernahme in das Archiv entschieden wurde, was dauerhaft aufbewahrt wird und was nicht. Dies gilt insbesondere für die Zeit nach 1945, da hier in großem Stil verdichtet werden muss, um überhaupt noch eine Auswertung zu ermöglichen.

Die Digitalisierung verschärft diese Verdichtung noch einmal. Mit ihrer Onlinestellung werden Bestände in den Vordergrund gerückt. Das hat unschätzbare praktische Vorteile, birgt aber auch methodische Risiken, weil möglicherweise das, was nicht im Netz ist, gar nicht mehr wahrgenommen wird.14 Allerdings ist das kein Argument gegen die Digitalisierung. Die Frage lautet vielmehr, was in den Vordergrund gestellt wird und für wen. Archive bedienen nicht nur spezifische NutzerInnengruppen (Wissenschaft, Genealogie, Journalismus); sie verfolgen auch einen historisch-politischen Bildungsauftrag, der sich an die kaum zu spezifizierende »allgemeine« Öffentlichkeit wendet. Hier kann es durchaus zu Kollisionen, um nicht zu sagen zu methodischen Unschärfen kommen. Ein Beispiel mögen die vielen Quellen zur Frauengeschichte sein, welche das Bundesarchiv in seinem Weimar-Portal präsentiert. Hierbei handelt es sich um eine bewusste, thematische Auswahl, die keineswegs ein repräsentatives Bild der allgemeinen Quellenlage darstellt – ist es doch äußerst mühsam, in der großen Menge der Überlieferung überhaupt Quellen zu oder von Frauen zu finden.

Berücksichtigt werden muss auch, dass jedes Archiv ein Thema nur aus dem Blickwinkel seiner eigenen Quellen präsentieren kann. Das ist beim Bundesarchiv ganz überwiegend die deutsche und die staatliche Perspektive. Für eine umfassende gesamtgesellschaftliche oder gar transnationale Perspektive müssen zwar die Bestände des Bundesarchivs herangezogen werden, sie reichen aber nicht aus. Im europäischen Kontext gibt es bereits grenzübergreifende Portale wie Europeana oder Archives Portal Europe, doch erlauben sie schon wegen der Sprachproblematik bisher keine themenbezogene Suche.

Die Herausforderung bei der Bereitstellung von Quellen liegt für die Archive darin, bestimmte Themen zu platzieren und dennoch eine weitestgehend ergebnisoffene Auswertung zu ermöglichen. Zentral ist es, die Auswahlkriterien ebenso transparent zu machen wie die Tatsache, dass eine Auswahl stattgefunden hat. Diese ist – anders als die Bewertungsentscheidung bei der Übernahme ins Archiv – reversibel, wenn sich Nutzungsinteressen ändern, indem das Angebot entweder nutzergesteuert ergänzt oder vom Archiv selbst erweitert werden kann.

4. Virtuelle Lesesäle mit verlässlicher Beratung

Als Folge der Digitalisierung verändern sich die Beziehungen zwischen Archiven und ihren NutzerInnen. Um noch einmal Robert A. Caro zu zitieren: Es steht jemand zwischen den Beständen und dem Nutzer. Umso wichtiger ist die Kommunikation beider Seiten. In bisherigen Visionen virtueller Lesesäle wird eher davon ausgegangen, dass diese direkte Kommunikation verschwinde. Damit werde der Archivar »Makler von Quellen, ohne dass seine inhaltliche Expertise gefragt ist«,15 weil sich die NutzerInnen im digitalen Angebot selbst bedienen können. Der Erschließungszustand und auch die noch geringe Auswahl der vorhandenen Digitalisate erfordern aber im Gegenteil gerade ein gutes Beratungsangebot – nicht um den NutzerInnen die Recherchen abzunehmen, sondern um sie anzuleiten, im großen Angebot das zu finden, was für ihre jeweiligen Fragen einschlägig ist. Ohne eine solche Vermittlung besteht die Gefahr, dass die digitalen Angebote nicht zur Kenntnis genommen werden und die Chance ungenutzt bleibt, Quellenkunde themenbasiert wieder mehr in die Lehre einzubeziehen, weil digitalisierte Quellen nicht erst in aufwendigen Archivreisen ermittelt werden müssen und so auch zur Grundlage von Seminar-, Bachelor- und Masterarbeiten werden können.

Die neuen Angebote fordern jedoch nicht nur die Archive heraus, sondern auch ihre NutzerInnen. Der Zugang wird nie vollkommen voraussetzungslos, das heißt ohne grundwissenschaftliches Basiswissen möglich sein, selbst wenn Hilfsmittel und Quellen deutlich näher zueinandergebracht werden können als in der analogen Welt. Aber darüber hinaus bedarf es auch unter den gegebenen personellen und finanziellen Rahmenbedingungen der Archive einer Bereitschaft der NutzerInnen, sich wirklich auf die Suche machen zu wollen, die mühsam und langwierig sein kann. Die Vorstellung einer quasi-automatischen Bereitstellung einschlägiger, fachlich aufbereiteter und erschlossener Dokumente mag als Zukunftsvision durchaus hilfreich sein, ist aber mittelfristig nicht realisierbar. Digitale Angebote von Archiven bedeuten demnach nicht die Bereitstellung einschlägiger Einzeldokumente auf Knopfdruck, sondern das Angebot, Erschließungs- und Digitalisierungsprojekte an konkreten Nutzungsinteressen auszurichten und die verwerteten Quellen dauerhaft referenzierbar und – soweit rechtlich möglich – allgemein zugänglich zu halten.

Die neu entstehenden virtuellen Lesesäle dürfen sich wiederum nicht auf die reine Bereitstellung von Digitalisaten nach analogem Muster beschränken. Die Nutzung eines Originals war eine »sinnliche Brücke zwischen seinem Benutzer und der Zeit und den Umständen, mit denen er sich als Wissenschaftler, Familienforscher oder schlicht als interessierter Bürger auseinandersetzt«.16 Der Verlust dieser Erfahrung kann ausgeglichen werden, wenn wirklich etwas Neues an ihre Stelle tritt. Virtuelle Lesesäle müssen daher die Möglichkeit bieten, Forschungserfahrungen mit anderen NutzerInnen zu teilen, indem nicht nur gelesen, sondern auch referenziert, verknüpft, kommentiert oder diskutiert werden kann. Ebenso müssen neue Suchstrategien ausprobiert und nachgenutzt werden können, damit – durch systematische Recherchen oder als pure Glückstreffer – bedeutsame Entdeckungen möglich werden.


Anmerkungen:

2 Band 253 (2019), Heft 1, der Gazette des archives enthält unter dem Titel »Le goût de l’archive à l’ère numérique« elf Beiträge zu diesem Thema.

6 Michael Hollmann, Archivgut im Zeitalter seiner digitalen Verfügbarkeit, in: Archivalische Zeitschrift 95 (2017), S. 9-26.

7 Christian Keitel, Digitale Archivalien, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, 20.11.2017. Einen interessanten abweichenden Ansatz verfolgt Julie Giovacchini, De la source à l’image: y-a-t-il une philologique numérique?, in: La Gazette des archives 253 (2019) H. 1, S. 53-70.

9 Andrea Hänger/Michael Hollmann, Das Bundesarchiv im digitalen Wandel, in: Forum. Das Fachmagazin des Bundesarchivs, Ausgabe 2018, S. 4-33.

10 Das bedeutet: 1.100 Menschen würden es in einem Jahr schaffen, 110 in 10 Jahren und 11 in 100 Jahren.

11 Vgl. z.B. Lina Bountouri, Archives in the Digital Age. Standards, Policies and Tools, Cambridge 2017, S. 1-22.

14 Vgl. Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 331-352.

15 Max Plassmann, Archiv 3.0? Langfristige Perspektiven digitaler Benutzung, in: Archivar 69 (2016), S. 219-223, hier S. 221.

16 Hollmann, Archivgut (Anm. 6), S. 11.

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