1. Die spezifische Epistemologie der Zeitgeschichte
2. Die Mitlebenden als Medienkonsumenten
3. Das Ende der Gutenberg-Galaxis als Beginn der Zeitgeschichte
Als Hans Rothfels vor gut 50 Jahren die Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ bestimmte,1 hatte er als den zu bearbeitenden „Rohstoff“ in erster Linie schriftliche Quellen im Sinn. Nicht dass ihm und seinen Zeitgenossen die Bedeutung audiovisueller Medien verborgen geblieben wäre - für die an politischen Prozessen und Entscheidungen interessierte Geschichtsschreibung galt zu dieser Zeit aber noch der Grundsatz veritas in actis, wenn auch relativiert durch die Einschränkung, dass gerade in der Moderne der Grundsatz „Quod non est in actis non est in mundo“ seine Gültigkeit verloren habe.2 Zeitschriften und Tageszeitungen wurden nur bedingt als vollwertige Quellen eingestuft.3 Die von den audiovisuellen Medien auf Grundlage analoger Aufzeichnungsverfahren erstellten Spuren vergangener Wirklichkeit blieben demgegenüber Quellen, deren Aussagewert nur eine abgeleitete Bedeutung zukam: Politisches Handeln, das wiederum, geschichtswissenschaftlich gesehen, in erster Linie aus schriftlichen Überresten zu rekonstruieren war, gab den Rahmen für das Wirken der modernen Medien ab, wenn sie denn überhaupt zur Kenntnis genommen werden.4
In der folgenden Skizze wird der Versuch unternommen, Rothfels’ klassische Formulierung auf ihren Sinn in einer von audiovisuellen Medien geprägten Gegenwart hin zu befragen. Rothfels ging noch ganz selbstverständlich von einer unmittelbar gemeinsamen Betroffenheit des Historikers und seiner „mitlebenden“ Forschungsobjekte aus, indem er 1917 als den Anfang dieser Epoche setzte: Die „Epoche der Mitlebenden“ war mit der Zeit der existenziellen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur als einem weltumspannenden Ereignis identisch. Zeitgeschichte ging in dem auf, was die Zeitgenossen der europäisch-nordamerikanischen Hemisphäre an Bürgerkriegen, wirtschaftlichen Krisen, Zerfall von Demokratien und Aufstieg von Diktaturen, Völkermord und totalem Krieg, Vertreibung und nationaler Schande hautnah durchlebt hatten. In der Gegenwart der frühen 1950er-Jahre schien diese unablässige Dynamik, die 1917 begonnen hatte, eine neue, höhere Stufe erklommen zu haben: Die ganze zivilisierte Welt war in ein demokratisches und ein totalitäres Lager geteilt, und das Ende der durch diesen Antagonismus definierten Epoche lag in weiter Ferne.
Die Selbstverständlichkeit dieser Koinzidenz von Zeitzeugenschaft und globalem Systemkonflikt ist nach der Auflösung des sowjetischen Imperiums hinfällig, und dies nicht nur aus dem trivialen Grund, dass die Generationen, die den Beginn dieser Epoche noch erlebt haben, nicht mehr unter uns weilen. Wenn man, etwa unseren französischen Nachbarn mit ihrem konventionellen Festhalten an 1789 als dem Beginn der histoire contemporaine nacheifernd, die deutsche Zeitgeschichte sich nach und nach zu einem vielschichtigen historiografischen Raum ausdehnen lässt, bedarf es neuer Kriterien und Zugangsweisen, um sie in ihrer historischen Eigenart zu bestimmen. Sie lässt sich etwa diachronisch auffächern. Die durch die Erforschung der SED-Diktatur und der Geschichte des Kalten Krieges bis 1990 ausgelösten Impulse für eine Ausdehnung empirischer Forschung bis unmittelbar in die Gegenwart haben zu Vorschlägen einer Einteilung in ältere (bis 1945), jüngere (1945 bis 1989) und jüngste bzw. neueste (seit 1990) Zeitgeschichte geführt.5 Das ist pragmatisch gedacht und von der politischen Geschichte her auch kaum angreifbar, lässt aber vieles offen.
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Die „Epoche der Mitlebenden“ stellt sich diesen heute nicht mehr nur oder in erster Linie als eine durch den Eintritt der Weltpolitik in das Leben aller gekennzeichnete Epoche dar. Im Verständnis der Zeitgenossen war die von ihnen durchlebte Zeit zugleich von Umwälzungen der Lebensweise geprägt, die im Epochenkonflikt von Demokratie und Diktatur nicht aufgingen. Vielmehr haben sie diesen geradezu transzendiert, indem sie - wenn auch nur im europäisch-transatlantischen Kontext! - zu seinem Ende beigetragen haben. Die lang anhaltende Wohlstandsentwicklung seit den 1950er-Jahren hat nicht nur die Überlegenheit demokratischer Ordnungen gegenüber den diktatorischen beglaubigt. Sie hat zugleich den Realitätsbezug der Vielen über die Erfahrung, „Betroffene“ von Weltpolitik zu sein, weit hinaus geführt: Konsumgesellschaft und Massenkultur brachten neue Dimensionen der breitgestreuten Teilhabe an den materiellen wie ideellen Ressourcen der eigenen Zivilisation hervor, die unser heutiges Verständnis des Mitlebens und des Miterlebten prägen. Eine Zeitgeschichte, die die ehedem selbstverständliche Konzentration auf die politische Geschichte hinter sich lässt, muss diesen säkularen Wandel in ihre Gegenstandsbestimmung integrieren.6
Eine Dimension dieses Wandels ist die sich über mehrere Jahrzehnte hinziehende Etablierung der Audiovision7 als eine alle Lebensbereiche durchdringende Praxis des Realitätsbezugs, der Kommunikation und der Reproduktion sozialer Beziehungen. Das fängt mit dem beiläufigen Radiohören beim Aufstehen, der Zeitungslektüre am Frühstückstisch und dem Musikhören beim Autofahren an und endet noch lange nicht mit der allabendlichen Vereinigung der Familie vor dem Fernseher. Die Befriedigung ästhetischer und informatorischer Bedürfnisse lässt sich per Kino, Musik- und Hörbuch-CDs sowie Video und DVD höchst individuell gestalten; gelegentlich wird auch noch ganz altmodisch ein Buch gelesen, öfter hingegen eine Zeitschrift, denn diese erleichtert die Orientierung im immer unübersichtlicher werdenden Medienverbund. Dessen Zusammenhalt und Verfügbarkeit zu steigern ist eine der her-vorstechenden Gebrauchswerteigenschaften der weltweit verwobenen Computer: Sie erlauben uns neben dem rationalisierten Umgang mit dem „Altmedium“ der gedruckten Schrift den digital verbundenen Einsatz dieser Medien sowie die Bearbeitung und Re-Kombination ihrer Produkte entsprechend individuellen Bedürfnissen.8
Das Problem der Zeitgeschichte besteht nun nicht darin, überhaupt „die“ audiovisuellen Medien als Quelle, Gegenstand und (weitgehend indirektes) Medium ihrer Forschungsarbeit zu akzeptieren.9 Dazu ist in den vergangenen Jahren schon vieles geschrieben worden.10 Die fürs Historische Zuständigen in den Kommunikations- und Medienwissenschaften führen ihre Gegenstände selbstverständlich bis an die Gegenwart heran und decken somit die Zeitgeschichte als Epoche ab.11 In der Zeitgeschichte als geschichtswissenschaftlicher Subdisziplin haben sich einzelne Institutionen, Verbünde audiovisueller Medien und ihr sozialer Gebrauch als legitime und ergiebige Untersuchungsgegenstände erwiesen.12 Die Einbeziehung audiovisueller Quellen bei der Behandlung von historischen Problematiken, die nicht über solche Medien selbst definiert sind, ist hingegen selten anzutreffen. Insgesamt fällt auf, dass diese Praxis kaum im Horizont der spezifischen Epistemologie der Zeitgeschichte reflektiert wird, die Rothfels in ihrer Grundfigur formuliert und Hans Günter Hockerts vor zehn Jahren im Lichte eines post-historistischen Methodenverständnisses rekapituliert hat.13
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Diese gegenüber der Behandlung anderer Epochen spezifische Epistemologie besteht in der Überlagerung zweier widersprüchlicher Konstitutionsfaktoren zeithistorischer Erkenntnis: Der Bezugspunkt „Mitlebende“ relativiert nicht nur die zu untersuchende Epoche, sondern setzt die zeithistorische Praxis einem höheren Druck nichtwissenschaftlicher Ein- und Gegenrede aus als Forschungsfelder zu den früheren Zeiträumen. Zugleich definiert sich Zeitgeschichte aber auch absolut durch den Bezug auf das Zeiterleben universalisierende Zäsuren, deren Nachwirkungen mit dem Ableben derjenigen, die diese Erschütterungen selbst erlebt haben, noch lange nicht abgeklungen sind. Das, worum es in der Zeitgeschichte geht, ist - im Vergleich mit der Geschichte anderer Epochen - etwas, was das gegenwärtige Gemeinwesen noch immer akut betrifft. Das mag im Falle Frankreichs die Französische Revolution sein, auch wenn sich daneben, nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen, eine mit der „Grande Guerre“ einsetzende Geschichte des 20. Jahrhunderts und eine durch die Befreiung 1944 abgegrenzte „Geschichte der Gegenwart“ (histoire du temps présent) etabliert hat. In Deutschland nimmt die Auseinandersetzung um Demokratie und Diktatur im 20. Jahrhundert diese Stellung ein, weshalb das von Rothfels postulierte Epochenjahr 1917 - „Oktoberrevolution“ in Russland, Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg - von der politischen Geschichte her gesehen weiterhin Plausibilität besitzt.
Unter diesen Bedingungen das Geschäft der historischen Aufklärung zu betreiben14 heißt vor allem, im Angesicht der Erwartungen und Zumutungen der interessierten Zeitgenossen wissenschaftliche Kriterien des Umgangs mit den Überresten jener Geschichte, „die noch qualmt und raucht“, zur Geltung zu bringen. Das findet auf zwei Ebenen statt: In der innerwissenschaftlichen Kommunikation muss der Einfluss außerwissenschaftlicher Faktoren kontinuierlich reflektiert und kritisch bewertet werden, um ihnen gegenüber die Eigenarten des wissenschaftlichen Umgangs mit Vergangenheit zu definieren. Das ist nicht gleichbedeutend mit dem ohnehin zum Scheitern verurteilten Versuch, diesen Einfluss kategorisch zu negieren, sondern bedeutet lediglich, ihn bewusst als Konstitutionsbedingung des eigenen wissenschaftlichen Handelns zu veranschlagen. In der öffentlichen Kommunikation fungiert die Zeitgeschichtsforschung als Expertin, die den aus den spontanen Evidenzen des Miterlebens, den politischen Interessen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen bis hin zur Unterhaltung resultierenden Erzählungen weitere, auf „wissenschaftliche Objektivität“ gegründete Darstellungen hinzufügt. Damit trägt sie zum reflexiven Moment in der Erinnerungskultur bei, ohne aber historische Wahrheit garantieren zu können.
Das Medium, in dem die Zeitgeschichtsforschung diese Verfremdungsleistungen mit System und Methode vollzieht und in dem sie deren Ergebnisse meist präsentiert, ist die Druckschrift, und die vorherrschenden Bedeutungsträger sind gedruckte Worte und Sätze. Zeitgeschichte als wissenschaftliche Praxis ist logozentrisch, und sie adressiert ihre „mitlebende“ Öffentlichkeit in einer Weise, als ob deren intellektuelle und kulturelle Praxis ebenfalls unaufhörlich um Buchstaben und Begriffe kreisen würde. Dieser Vorgang ist für sich genommen überhaupt nicht neu: Er gehört der longue durée einer auf Verschriftlichung gestützten Konstruktion von Wirklichkeit an, die deren soziale Gültigkeit sichern und damit Macht reproduzieren soll, und die der moderne Staat bestimmten Professionen anvertraut hat. Wenn daher Zeitgeschichte als staatlich alimentierte Einrichtung vor das Publikum tritt, so nimmt sie dabei auch immer dessen Legitimationsgründe mit in Anspruch, wobei diese selbst wiederum unterschiedlich aufgefasst werden können und sich im Lauf der Jahrzehnte auch tiefgreifend gewandelt haben. Zeitgeschichte ist wie die anderen historischen Subdisziplinen ein Abkömmling dieses historischen Bündnisses von Staat und Wissenschaft. Staatlich gesetzte Wahrnehmungen und Handlungen und deren schriftfixierte Praxis in Recht und Verwaltung begründen die Positivität ihrer Argumentationsweisen: Was in den Akten steht, ist wirklich, im Zweifelsfall zumindest wirklicher als das, was nicht drin steht oder woanders zu lesen wäre.
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Dank der zivilgesellschaftlichen Errungenschaften der Bundesrepublik wie anderer Industrienationen hat sich diese Staatsfixiertheit mittlerweile zugunsten eines pluralen, stärker gesellschaftsbezogenen Verständnisses von Gegenständen und Konzepten aufgefächert. Dennoch hält der Wissenschaftsbetrieb der Zeit- wie anderer Geschichten an der logozentrischen Arbeitsweise fest. Für diese Arbeitsweise bringt der/die Historiker/in meist eine bildungsbürgerliche Sozialisation mit, die ihn bzw. sie frühzeitig auf das Schriftmedium nicht nur als unabdingbarer, sondern im Grunde auch hinreichender Voraussetzung von Realitätskonstruktionen einstimmt, die für sich das Prädikat der Objektivität reklamieren können. Ein Blick in die Curricula der Oberstufe genügt, um sich davon zu überzeugen: Schriftliches ist weiterhin primär, Audiovisuelles letztlich sekundär. 108 Jahre nach der Erfindung des Kinos wird in Deutschland zum ersten Mal ausführlich über einen Bildungskanon der 35 wichtigsten Spielfilme diskutiert.15
Angesichts der Bedeutung, die die audiovisuellen Medien für die „Mitlebenden“ besitzen, kann ihre in Forschung und Lehre noch immer feststellbare Nachrangigkeit als Gegenstand und Quelle nur als Anachronismus bezeichnet werden. Dieser macht sich am stärksten in einem Phänomen bemerkbar, zu dem die akademische Zeitgeschichte durch ihre mitverschuldete Nichtzuständigkeit beigetragen hat, das sie aber um so heftiger wie ein ihr angetanes Unrecht beklagt: die Entstehung eines nur lose mit der Wissenschaft kommunizierenden eigenen Marktes für Zeitgeschichte in den Unterhaltungsmedien. Zwar arbeiten bereits etliche studierte Historiker in deren Redaktionen und für die von diesen beauftragten Produktionsfirmen, doch gibt es keinen gemeinsamen Raum der Reflexion und der Debatte über das Verhältnis von wissenschaftlichen Standards und mediengerechter Darstellungsweise.16
Die Herausforderung, das wissenschaftliche und methodische Profil von Zeitgeschichte zu aktualisieren, erfordert eine doppelte Überschreitung der bisherigen Art und Weise, sich selbst und anderen die Eigenart ihres Gegenstands und ihrer Arbeitsweise zu erklären. Zum einen ist das Konzept der „Mitlebenden“ zu überprüfen. Zum anderen ist der für die absolute zeitliche Begrenzung der Zeitgeschichte („1917“) maßgebliche, an der herkömmlichen Politikgeschichte ausgerichtete Wirklichkeitsbegriff zu hinterfragen.
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2. Die Mitlebenden als Medienkonsumenten
Weniger „wer“ die Mitlebenden sind, sondern vielmehr „wie“ sie „mitleben“ gilt es zunächst zu überdenken. Obwohl sich Zeithistoriker des Spannungsverhältnisses zur Zeitzeugenschaft in ihrem gesellschaftlichen Umfeld immer bewusst waren, blieb ihnen die Vorstellung vom „Mitleben“ selbst weithin unproblematisch. „Mitlebende“ waren solche, die wie der Zeithistoriker selbst Krieg und Niederlage, Wirtschaftskrise und Wirtschaftswunder, Verfall der Demokratie und Errichtung der Diktatur, Völkermord und Überleben direkt und indirekt erlebt hatten - natürlich in je unterschiedlichen, gegensätzlichen Positionen und Situationen. Über den Modus der Anteilnahme an diesen Geschehnissen wie dem ihrer Erinnerung in der Gegenwart brauchte sich eine staats- und politikzentrierte Zeitgeschichte keine Gedanken zu machen. Er bestand im materiellen und ideellen Erfasstwerden von Ereignissen, die auf das Handeln von Großorganisationen wie Staat, Unternehmen und Parteien zurückgingen und sich daher auch in deren Formen des Wirklichkeitsbezugs zurückübersetzen ließen: Verwaltung, Recht, Schrift. Die Erforschung von Phänomenen, die außerhalb dieser vertrauten Praxis lagen, wie etwa die unübersehbare Bedeutung der audiovisuellen Propaganda für die Revolution der Bolschewiki oder den nationalsozialistischen Führerstaat, blieb demgegenüber eine Domäne von Nachbarwissenschaften.
Erst unter dem Einfluss erfahrungsgeschichtlicher Fragestellungen begann die Zeitgeschichtsforschung, diese verkürzte Vorstellung vom „Mitleben“ zu differenzieren. Sie entdeckte zunächst, dass die Mitlebenden kaum über Schrift und Buch, sondern eher im Medium der erzählten Lebensgeschichte auf ihre Vergangenheit Bezug nehmen. Dabei existierten andere Logiken der Zäsurbildung als die politikgeschichtlichen: „Gute“ und „schlechte“ Zeiten standen allenfalls vermittelt mit Demokratie und Diktatur in Beziehung; Hierarchien von Wirklichkeitsbezügen konnten je nach Schicht, Geschlecht, Generation und ethnischer Zugehörigkeit völlig anders angeordnet sein, als es dem Wirklichkeitssinn des Historikers entsprochen hätte. Der oral history entging schließlich auch nicht, dass das „Mitleben“ ihrer Interviewpartner sowohl in der Gegenwart wie schon in der Vergangenheit den Konsum von Medienprodukten einschloss: Harald Welzer hat kürzlich anhand von unbewusst als eigenes Erleben erzählten Spielfilmszenen in Zeitzeugeninterviews ein eindrückliches Beispiel für die Bedeutung audiovisueller Teilhabe an vergangener Wirklichkeit berichtet.17 Kurzum: Die heutigen „Mitlebenden“ müssen auch als „Mithörende“ und „Mitsehende“ konzipiert werden, um ihre Erfahrungen und Erzählungen angemessen deuten zu können. Ihre Lebenswelt war und ist bestimmt von der alltäglichen Gegenwart der Audiovision, ihre Erfahrung von Wirklichkeit auch vermittelt über die Klänge von Schallplatte und Radio, die Fotos in den Illustrierten, die bewegten (Ton-)Bilder in Wochenschauen, Spielfilmen und Fernsehen.
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Konstituierung des Gegenstandes von Zeitgeschichte, wenn man versucht, dieser Tatsache gerecht zu werden? Auf die naheliegendste haben Studien wie die bereits erwähnte von Welzer hingewiesen: In den Erinnerungen der Mitlebenden sind am eigenen Leib erfahrene Ereignisse von medial vermittelten zu unterscheiden. Das wäre zunächst eine Frage der sorgfältigen Quellenkritik und, wie immer bei oral history, einer „hautnahen“ Rekonstruktion des jeweiligen Erfahrungskontextes, zu dem selbstverständlich die zeitgenössische Audiovision mit ihren Formaten und Narrativen gehört. Wer sich etwas über den Alltag im Bombenkrieg erzählen lassen will und die zeitgleich rezipierten Wochenschauen und Durchhaltefilme oder aber die nach 1945 verbreiteten audiovisuellen Bearbeitungen dieses Geschehens nicht kennt, sollte besser in der Studierstube bleiben.
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Auf einer allgemeineren Ebene ist in Rechnung zu stellen, dass audiovisuelle Medien nicht lediglich Botschaften übermitteln, sondern selbst auch Botschaften sind: Sie bezeichnen und symbolisieren fortwährend nicht nur Abwesendes, sondern zugleich auch sich selbst und insbesondere sich selbst im Verhältnis zu anderen, gleichzeitig oder vorher existierenden Medien und Medienprodukten. Medienkonsumenten nehmen dies wahr, merken es sich und verbinden ihr Wissen mit ihrer sonstigen Praxis der Teilhabe an Wirklichkeit in einer arbeitsteiligen, in öffentliche und weniger öffentliche Räume strukturierten Gesellschaft. Die Angebote der audiovisuellen Medien sind integriert in die kommerzielle Logik des modernen Konsums: standardisierte Angebote in hohen Auflagen mit je nach Gattung unterschiedlich langen Umschlagszeiten. Sie müssen im Moment ihres Konsums „aktuell“ sein, wobei sich der Maßstab der Aktualität vom Gebrauchswert her definiert. Ergibt sich bei auf das tägliche Informationsbedürfnis abgestellten Nachrichten die Verfallszeit der Aktualität von selbst, so wird sie bei anderen Produkten durch den mit anderen Konsumartikeln korrespondierenden Wechsel der Moden hergestellt. In Verbindung mit den als eine Folge von Zäsuren erlebten und erinnerten technischen Umwälzungen der audiovisuellen Infrastruktur können dabei einander folgende oder miteinander konkurrierende Stile und Geschmacksrichtungen mit den unterschiedlichsten Bedeutungen aufgeladen werden. Bei entsprechend intensiver Aneignung durch die Konsumenten hinterlassen sie eine eigengesetzliche Chrono-Logik, ein spezifisches Wissen um vergangene Zeiträume.
Gerade die audiovisuell vermittelte Popularkultur erweist sich unter diesem Aspekt als ein Rahmen, der für viele Menschen (gewiß nicht für alle, aber die Anzahl der Historiker übertreffen sie allemal) Orientierung in der Vergangenheit vorgibt: Vierziger Jahre - Lale Andersen, Glenn Miller und die Caprifischer; Fünfziger Jahre - Marilyn Monroe, Elvis Presley und der Heimatfilm; Sechziger Jahre - Beatles, Stones, Woodstock, Winnetou-Filme; jede/r könnte nach Belieben solche Chronologien erstellen. Kommerzielle Radiounternehmen haben sich schon längst darauf spezialisiert, bestimmte Altersgruppen an ihren popkulturellen Sozialisationserlebnissen zu packen und sich als „der“ Musik-Sender für „die“ Musik der „Sechziger“, „Siebziger“ etc. Jahre zu profilieren. Der Geschichts-Sinn der Mitlebenden stützt sich also - keineswegs nur, aber auch - auf die miterlebte und im Gedächtnis als Orientierungshilfe gespeicherte Aktualität vergangener Medienprodukte. Audiovisuelle Medien, insbesondere solche, die im Alltag der Unterhaltung dienen, sind Geschichtsmaschinen eigener Art, die der Zeithistoriker gut kennen sollte.18
Die Mitlebenden wie sich selbst als audiovisuell Mitlebende konzipieren zu können bzw. zu müssen ist seinerseits an ein bestimmtes Niveau historischer Erfahrungen mit audiovisuellen Dispositiven und deren Durchschlagen auf wissenschaftliche Diskurse geknüpft. Die Historikergeneration Rothfels‘ war noch zu sehr in den schriftzentrierten und „realistischen“ Prämissen historistischer Praxis befangen, als dass sie Zeitgeschichte um die audiovisuellen Realitätsbezüge in Richtung auf ein plurales und konstruktivistisches Wirklichkeitsverständnis hätte erweitern können. Eher im Gegenteil: Die Nazidiktatur schien, bildungsbürgerliche Vorurteile bestätigend, die prinzipielle Gefährlichkeit audiovisueller Massenkommunikation unter Beweis gestellt zu haben, und auch die USA-Erfahrungen rechter wie linker Emigranten hatten die kritische Distanz zur „Bewusstseinsindustrie“ und zur Unterhaltung als anti-intellektuellem Geschäft eher verstärkt. Die Mythen und Legenden, gegen die eine aufklärerische Zeitgeschichte Anfang der 1950er-Jahre antreten musste, hatten nicht zuletzt in Gestalt von massenhaft konsumierten Audiovisionen ihre fatale Wirkung entfaltet, und demgegenüber galt es, die Suprematie des gedruckten Wortes wieder zu etablieren.
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Wenn wir ein solches bildungsbürgerlich-skeptisches Beharren auf Distanz zur Welt der audiovisuellen Medien heute als weltfremd ansehen, so haben wir damit an einem umfassenden Wandel der Wahrnehmung von Medien teil, der sich auf dem Feld der allgemeinsten Weltsichten und Theorien in unserer Gesellschaft vollzieht. Ohne große Übertreibung lässt sich behaupten, dass Medientheorien, -philosophien und -ethiken mittlerweile in das Zentrum der allgemeinen, „Laien“ und Wissenschaftler einschließenden Öffentlichkeit gerückt und zu einem dominanten Ansatz der Welterklärung auf-gestiegen sind.19 Kein Ereignis, ob Naturkatastrophe, Krieg, Revolution, Weltrekord oder Literaturskandal, in dessen Kommunikation nicht zugleich die Reflexion über dessen mediale Inszenierung enthalten ist. In vielen Fällen liegt diesem Effekt die Intention des Urhebers des Ereignisses zugrunde: Die mediale Inszenierung ist bereits Bestandteil des Ereignisses. Diese Reflexivität kann verschiedenen Zwecken dienen. Als kritischer Kommentar seiner selbst erinnert das Medium den Empfänger an den Konstruktionscharakter der Kommunikate; als ostentative Selbstinszenierung, als Selbst- und Fremdzitat steigert es die Intensität des Mediengebrauchs, zeigt was jenseits der vordergründigen Vermittlung von Information und Ästhetik noch alles in ihm steckt: ein unendliches Repertoire an Bezügen, Erinnerungen und Wechselwirkungen.
Diese Selbstreferentialität der Medien ist keineswegs neu, sondern von vornherein in ihnen angelegt, auch schon in den Schriftmedien. Die rasche Entwicklung und technische Ausdifferenzierung des audiovisuellen Dispositivs hat die Möglichkeiten der Selbstbezüge, wechselseitigen Verschaltungen und Bild-im-Bild-Effekte sprunghaft anwachsen lassen, vor allem aber: Das Wissen um die Effekte der Selbstreferentialität des Medienverbundes ist zum Alltagswissen der Mediennutzer geworden, insbesondere seitdem mit der Digitalisierung und umfassenden Konvertibilität der Produkte der fortwährende Wechsel zwischen verschiedenen Medien im Begriff ist, zu einer weiteren Kulturtechnik zu werden.20 Auch hier gilt die Binsenweisheit von der Anatomie des Menschen als Schlüssel zur Anatomie des Affen: Je umfassender wir die Wirkungsweise und Logik der Medien-Vernetzung auf digitaler Grundlage zu nutzen wissen, desto leichter vermögen wir die Historizität des herkömmlichen, auf Analogaufzeichnungen gestützten audiovisuellen Dispositivs in seiner technisch-kognitiven Distanz zu den Schriftmedien zu erfassen.
3. Das Ende der Gutenberg-Galaxis als Beginn der Zeitgeschichte
Zeitgeschichte steht angesichts dieses massiven, innerhalb eines Menschenalters durchgesetzten Umbaus der Welterfahrung „ihrer“ Mitlebenden vor der Herausforderung, darüber nachzudenken, wann diese Entwicklung eigentlich angefangen hat und was dieser Anfang für den Horizont ihres Fragens und ihres Gegenstandes bedeutet. Wann beginnt die „Epoche der Mitlebenden“, wenn wir diese auch als „Mithörende“ und „Mitsehende“ konzipieren? Durchaus in Analogie zu der von Rothfels als absoluter Bezugspunkt seiner Definition gesetzten politik- und welthistorischen Problematik lässt sich auch für die Geschichte der Medien eine epochale Problematik von globaler Tragweite bestimmen.21 Allerdings muss dabei von einem langen Epochenübergang gesprochen werden, der sich kaum in einer Jahreszahl wie etwa „1917“ komprimieren lässt. Gemeint ist der Vorgang, der als „Ende der Gutenberg-Galaxis“ (Norbert Bolz) bezeichnet wird, also das Ende der Hegemonie der Druckschrift in der gesellschaftlichen Konstruktion und Aneignung von Wirklichkeit. Eine die Sinne adressierende und nicht mehr lediglich sinnzentrierte Kommunikation kehrte in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Kommunikation zurück, aber auf technisch revolutionierter Grundlage: Sie basiert auf „authentischen“ Sinneseindrücken in tendenziell unbegrenzten öffentlichen Räumen.22
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Das Epochale dieses Übergangs ist für die pragmatischen Medienmacher schon lange eine Selbstverständlichkeit. Alles Vergangene, was sich heute durch Wiederverwendung von Überresten früherer analoger Aufzeichnungen repräsentieren lässt, gehört im Mediengeschäft - zumindest wenn es sich um Töne und bewegte Bilder dreht - zum Ressort „Zeitgeschichte“. Kombiniert mit Aufnahmen heutiger Erinnerungsinterviews, auktorialem Einbringen schriftlicher Überlieferung und Vergangenes imitierenden Spielszenen hat sich daraus die „zeithistorische Dokumentation“ als Programmformat sui generis (und Hassobjekt etlicher Zeithistoriker) etabliert. Unbekümmert um akademische Gepflogenheiten greift TV-Zeitgeschichte damit hinter die Epochenmarke 1917 zurück: Die Klänge der ersten Edisonwalzen und die Bilder des frühen Kintopp historischen Erzählungen zugrunde zu legen gehört ganz selbstverständlich zu ihrem Aufgabenbereich.23
Der rationale Kern dieser weitgehend unreflektierten Epochenbildung wird offenkundig, wenn man sich die gesellschaftsgeschichtliche Tragweite der mit der Audiovision möglichen Versinnlichung der Massenkommunikation in zweierlei Hinsicht vor Augen führt:
• Die Speicherung und/oder zeitgleiche Übermittlung analoger Aufzeichnungen ermöglichen Gewissheitserfahrungen in großer zeitlicher bzw. räumlicher Entfernung von den zu erfahrenden Objekten. Die Nachvollziehbarkeit der Aufzeichnungsverfahren verbürgt die Existenz und die Eigenschaften des Dargestellten durch Inanspruchnahme derjenigen Sinne, die im Alltag lebensnotwendige (oder auch unterhaltsame) Gewissheiten vermitteln: des eigenen Sehens und Hörens. Dazu gesellt sich das Wissen um die Ubiquität dieses Vorgangs: Alle anderen mit Gesichts- und Hörsinnen ausgestattenen Mitlebenden, ob alt oder jung, Mann oder Frau, und vor allem: reich oder arm, können an dieser Form der schlagartig sich ausdehnenden Welterfahrung teilnehmen. Es bedarf keiner langwierigen Dressur wie bei der Schrift, um mühevoll das Produkt eines abstrahierenden Kodierungsverfahrens wieder in konkrete Vorstellungen zurückzuübersetzen. Die durch Analogaufzeichnungen gewonnenen Repräsentationen bedienen sich des Authentizitätssinns: So wie man lebende Menschen an Stimme, Gesicht und Bewegungen erkennen kann, kann man sie auch auf Bildern und Tonträgern identifizieren.
• Gegenüber dem hohen Indexikalitätsgrad, also der Eigenschaft von durch analoge Aufzeichnungsverfahren hergestellten Klängen und Bildern, „authentisch“ auf konkrete Ausschnitte vergangener oder gleichzeitiger Wirklichkeit zu verweisen, bleibt der Sinn des Aufgezeichneten oder Abgebildeten vergleichsweise offen. Was wem dieser oder jener Sinneseindruck bedeutet, ist nicht so leicht zu fixieren wie der Sinn, der in einer bestimmten Auswahl von schriftlich übermittelten Worten und Sätzen enthalten sein soll. Umfangreiche Kontextualisierungen drängen sich auf, um den Gehalt über die pure sinnliche Gewissheit hinaus zu steigern - sei es eine entsprechend aufgebaute Folge von Bildern und Tönen, sei es das Hinzufügen von Schriften und Klängen, sei es der jeweilige Medienverbund, mit dem Bilder und Töne verschaltet sind.24
Aus dieser Sinnarmut ihres Rohmaterials ergibt sich eine eigentümliche Widersprüchlichkeit moderner audiovisueller Medien. Im Kontext von Herrschaft und Steuerung gesellschaftlicher Kommunikation betrachtet, bieten sie neue Möglichkeiten der Manipulation von Wahrnehmungen: solche, die auf sinnlich-emotive und weniger auf rationale Weltaneignung zielen. Zugleich aber erfolgt die Aneignung audiovisueller Produkte auf Grundlage einer „wilden“, unsystematisch erworbenen und keineswegs disziplinierten Kompetenz des Sehens und Hörens. In Worte und Sätze gefasste Argumente können zur Wahrnehmung eindeutiger Botschaften zwingen, wenn der Adressat die Technik der Dekodierung der abstrakten Symbole beherrscht. Bei Kompositionen von Bildern, Tönen und Texten mögen Rezipienten nach eigenem Ermessen über die gesprochenen Worte hinweghören, Bilder entkontextualisieren, ihren eigenen Sinn in sie investieren oder auch die intendierte Bedeutung mangels Medienerfahrung verfehlen - und dennoch individuellen Gewinn daraus ziehen. Diese unmittelbare Nachbarschaft von Manipulation und Eigen-Sinn mobilisiert die Propagandastrategen und das Publikum gleichermaßen: Die ersteren rechnen mit leichter Beute und stoßen beim Publikum doch immer wieder an die Grenzen ihrer Bemühungen, da der Gebrauch der audiovisuellen Angebote nie in der Realisierung intendierter Botschaften aufgeht.
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Für den Fragehorizont der Zeitgeschichte ergibt sich daraus, dass historisch sedimentierte Medienkompetenzen besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Im Wahrnehmen der durch analoge Aufzeichnungen konstruierten „Echtheit“ ist das Wissen um deren Mängel, um eventuelle Manipulationen, um Grenzen und Möglichkeiten ihrer Kombinationen und Verschaltungen bereits angelegt. Die Selbstbezüglichkeit audiovisueller Medien erinnert an deren Materialität; sie lenkt die Aufmerksamkeit der Rezipienten nicht nur auf die Botschaft, sondern auch auf die Beschaffenheit, Leistungsfähigkeit und Anwesenheit des Botschafters. Als Zugang zur Welt der sozialen Tatsachen erfordert die Nutzung der audiovisuellen Kommunikation die Gewöhnung an die Eigenarten der „Beobachtung zweiter Ordnung“: Man hört und sieht eine Gesellschaft von Mithörenden und -sehenden, die anderen beim Mithören und -sehen zuhören und zusehen.
Vom Standpunkt einer Zeitgeschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich die Etablierung der Audiovision zugleich als diejenige Entwicklungsstufe gesellschaftlich genutzter Medien dar, in der sich die konstitutive Differenz der Schrift gegenüber der Audiovision als technisch-kulturelle Distanz Geltung verschaffte. Mit dieser Distanz ist daher auch die lange Tradition der Kritik der modernen „Massenmedien“ zu historisieren: Ihr galten die durch die Audiovision angebotenen Repräsentationen tendenziell als „uneigentlich“ und in besonderem Maße manipulationsanfällig - ein intellektualisierter Negativabdruck der Hybris, mit der autoritäre Herrscher glaubten, durch den Verbund der schriftlichen und audiovisuellen Medien alle und alles nach Belieben kontrollieren und steuern zu können. Demgegenüber betont eine Sozialgeschichte der Medienproduktion und des Mediengebrauchs die Gebundenheit dieser Sichtweise an Kämpfe um Machtressourcen, deren Wechselfälle jedoch weniger der Konkurrenz um Deutungen des industriell-technischen Fortschritts als der Mobilisierbarkeit und den Bedürfnissen eines sich ständig erweiternden und auf Teilhabe drängenden Publikums folgten.25 Am Ende dieser langen Auseinandersetzungen steht die Universalisierung des medienzentrierten Denkens in seinen alltäglichen wie hochgebildeten Varianten: Von den Teletubbies bis zur medienwissenschaftlichen Fachtagung kreist Realitätswahrnehmung vor allem um deren Medialisierung.
Die Tatsache, dass sie sich im Vergleich zu ihren Nachbarwissenschaften verspätet auf diesen epochalen Vorgang einlässt, gibt der Zeitgeschichtsforschung die Gelegenheit, Vorteile des Spätentwicklers zu nutzen. Nach bewährt eklektizistischer Art der theoriegeleiteten Geschichtswissenschaft wird sie die Meta-Erzählungen der Medientheorie in ihre Problematik einbauen, ohne sich um Detailfragen einer disziplinären Kohärenz und Eigenständigkeit von Medienwissenschaft und Medientheorie26 bekümmern zu müssen. Dafür bleibt den Zeithistorikern um so mehr Energie, die Voraussetzungen ihres eigenen Tuns wie ihrer eigenen Subjektivität27 als einer auch von der Geschichte der audiovisuellen Medien und deren heutiger Praxis determinierten Disziplin zu reflektieren. Das betrifft ihr Engagement als Forscher: In der Beschäftigung mit der Vergangenheit müssen sie die habitualisierte Geringschätzung der nichtschriftlichen Überlieferung und der Audiovision als sozialer Praxis überwinden. Es betrifft ihre Kommunikationsfähigkeit: In der Auseinandersetzung mit der Gegenwart müssen sie die vielfältigen Möglichkeiten audiovisuell übermittelter Zeitgeschichten schätzen lernen. Es betrifft Zeitgeschichte in der Lehre: In der Ausbildung zukünftiger (Zeit-)Historiker, unter denen nicht wenige als Journalisten, Ausstellungsmacher etc. arbeiten werden, muss der reflektierte Umgang mit audiovisuellen Quellen denselben Platz einnehmen wie derjenige mit Akten, Büchern und (elektronischen) Zeitschriften.
1 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8, hier S. 2.
2 Ebd., S. 4.
3 Vgl. Peter Steinbach, Zeitgeschichte und Massenmedien aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999, S. 32-52.
4 So nach wie vor der Grundtenor bei Horst Möller, Was ist Zeitgeschichte?, in: ders./Udo Wengst (Hg.), Einführung in die Zeitgeschichte, München 2003, S. 13-51.
5 Vgl. ebd., S. 25f. Für eine Begründung der „neuesten Zeitgeschichte“ siehe Hans-Peter Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 5-28.
6 Vgl. anhand der Bundesrepublik Paul Erker, Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefizite, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 202-238.
7 „Audiovision wird zum Amalgam für eine Vielzahl - ehemals getrennter - medialer Kommunikationsformen und stellt die vorläufige Erfüllung jenes Projektes der Besetzung der Köpfe und Herzen mit kulturellen Industriewaren dar, das im 19. Jahrhundert begonnen wurde“, so Siegfried Zielinskis Bestimmung, die er seinem Entwurf einer „integrierten Mediengeschichte“ zugrundelegt: Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 11, S. 15.
8 Jochen Hörisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a.M. 2001, S. 383f.
9 Als frühe Reflexion dazu siehe Bodo Scheurig, Einführung in die Zeitgeschichte, Berlin 1962, Kap. II: „Quellen der Zeitgeschichte“.
10 Vgl. etwa die Beiträge in Wilke, Massenmedien (Anm. 3); ferner Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-32; Axel Schildt, Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 177-206; Bernd Weisbrod, Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270-283. Vgl. zuletzt auch in epochenübergreifender Sicht Fabio Crivellari/Marcus Sandl, Die Medialität der Geschichte. Forschungsstand und Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Geschichts- und Medienwissenschaften, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 619-654.
11 Z.B. Jürgen Wilke (Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1999; Thomas Beutelschmidt, Sozialistische Audiovision. Zur Geschichte der Medienkultur in der DDR, Potsdam 1995; Knut Hickethier, Mediengeschichte, in: Gebhard Rusch (Hg.), Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden 2002, S. 171-207.
12 Z.B. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995; Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hg.), Zuhören und Gehörtwerden, Bd. 1: Radio im Nationalsozialismus, Bd. 2: Radio in der DDR der fünfziger Jahre, Tübingen 1998.
13 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993) H. 29-30, S. 3-19. Weisbrod, Medien (Anm. 10), S. 280, weist auf dieses Desiderat hin: „[...] das mediale Setting von massenhaften Print- und Bildmedien sowie die flächendeckende Radio- und Fernsehkultur [muss] als der historisch spezifische Modus der öffentlichen Selbstverständigung in der Zeitgeschichte gelten, der in der Historie jedoch bisher kaum hinreichend Berücksichtigung gefunden hat.“
14 Christoph Kleßmann, Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 240-262.
15 Filmkanon. Ein Symposium der Bundeszentrale für politische Bildung, online unter URL: <http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/43637/dokumentation-filmkanon>.
16 Die gemeinsame Veröffentlichung der Sichtweisen des Universitäts-Historikers Norbert Frei und des Historiker-Journalisten Volker Ullrich auf die Goldhagen-Debatte stellt eine Ausnahme dar: Norbert Frei, Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. Über die Repräsentation des Holocaust im Zeitalter der Visualisierung, in: Sabrow/Jessen/Große Kracht, Streitgeschichte (Anm. 14), S. 138-151; Volker Ullrich, eine produktive Provokation. Die Rolle der Medien in der Goldhagen-Kontroverse, in: ebd., S. 152-170.
17 Harald Welzer, Familiengedächtnis. Über die Weitergabe der deutschen Vergangenheit im intergenerationellen Gespräch, in: WerkstattGeschichte 30 (2001), S. 61-64, hier S. 63, dazu kritische Entgegnungen von Alexander von Plato und Norbert Frei, ebd. S. 64-68. Siehe auch Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002.
18 Vgl. auch Knut Hickethier, Das Programm als imaginäres Museum, in: TheaterZeitschrift 33/34 (1993), S. 9-22.
19 Vgl. ders., Zwischen Gutenberg-Galaxis und Bilder-Universum. Medien als neues Paradigma, Welt zu erklären, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 146-172. Nach Jochen Hörisch, Sinn (Anm. 8), S. 17, fungiert „heute Medientheorie als diensthabende Fundamentaltheorie“. Crivellari/Sandl, Medialität (Anm. 10), schlagen eine medienwissenschaftliche Neubegründung von (kulturwissenschaftlich verkürzter) Geschichte und Geschichtswissenschaft vor.
20 Vgl. Hörisch, Sinn (Anm. 8), S. 389ff.
21 Ich verzichte hier darauf, eine Periodisierung dieses von audiovisuellen Medien (mit)geprägten Zeitraums zu diskutieren; siehe dazu das sozialhistorisch, d.h. an der alltagsrelevanten Nutzung und nicht an den Erfindungen und dem Ersteinsatz neuer Technologien ausgerichtete Stufenmodell bei Schildt, Jahrhundert (Anm. 10): Die erste Stufe bis ca. 1930 kennzeichnet demnach der Verbund von Massenpresse, Fotografie und Stummfilm (hinzuzufügen wäre die Phonographie); die zweite von ca. 1930 bis 1960 steht im Zeichen von Hörfunk und Tonfilm; die darauffolgende dritte ist durch die Dominanz des Fernsehens geprägt.
22 So die leitende These von Hörisch, Sinn (Anm. 8), S. 14.
23 Thomas Fischer, Geschichte als Ereignis. Das Format „Zeitgeschichte im Fernsehen“, Vortrag im ZZF Potsdam, 13.3.2003.
24 Die Unentbehrlichkeit der (im Wortsinne) Kon-Textualisierung für die Bedeutung von Fotografien lässt sich sehr eindrücklich am auf den Holocaust bezogenen kollektiven Bildgedächtnis und dessen „Fehlleistungen“, Verkürzungen, aber auch Veränderungen zeigen. Vgl. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
25 Diese praxeologische Sichtweise lag dem Forschungsprojekt zur Geschlechtergeschichte des Radios im Nationalsozialismus und der DDR zugrunde: Marßolek/Saldern, Zuhören (Anm. 12).
26 Den gelassenen Verzicht auf diese begründet Stephan Porombka, Nach den Medien ist in den Medien. Einige Anmerkungen zur aktuellen Medienwissenschaft, in: Zeitschrift für Germanistik (NF) 13 (2003), S. 350-356.
27 Den in der Zunft der Zeithistoriker üblichen Verzicht der Selbstreflexion als (Forscher-)Subjekte diskutiert Eric J. Engstrom, Zeitgeschichte as Disciplinary History: On Professional Identity, Self-Reflexive Narratives, and Discipline-Building in Contemporary German History, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 399-425.