Antisemitismus als »Ritual der Zivilisation«

Horkheimers und Adornos »Dialektik der Aufklärung« (1944/47)

Anmerkungen

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung,
New York: Social Studies Association 1944 (hektographiertes Manuskript);
Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam: Querido 1947; Frankfurt a.M.: S. Fischer 1969; Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1988
(und öfter); Frankfurt a.M.: S. Fischer 2022 (»Jubiläumsausgabe«
mit einem Vorwort von Eva von Redecker).
Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5: ›Dialektik der Aufklärung‹ und
Schriften 1940–1950, hg. von Gunzelin Schmid Noerr,
Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1987.
Die Seitenangaben der Zitate im folgenden Text
beziehen sich auf die Taschenbuch-Ausgabe von 1988.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schrieben die »Dialektik der Aufklärung« vor acht Jahrzehnten in der Emigration, quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie war als eine Art »Flaschenpost« gedacht, die dann tatsächlich im Zuge der studentischen Protestbewegung der 1960er-Jahre entkorkt wurde – durchaus gegen Widerstände von Horkheimer, der aktivistischen Missbrauch von Gedanken aus einem anderen Kontext befürchtete. Seitdem gilt die Schrift, in der »die Aufklärung« – verstanden als das menschliche Bestreben, sich mittels Naturbeherrschung und Vernunft zu emanzipieren – einer Selbstkritik unterworfen wird, als ein Klassiker der Sozialphilosophie, der immer wieder neu gelesen, oft als antiquierte Kulturkritik verworfen wird und gleichwohl auch immer wieder neue Liebhaber findet.1

Vor 35 Jahren, um 1990 herum, habe ich den Text zum ersten Mal gelesen, und zwar mit dem üblichen Kannitverstan-Erlebnis; doch seitdem hat er mich begleitet, denn schon bei der frustrierenden Erstlektüre ging ein Sog von diesen »philosophischen Fragmenten« aus, die das große Ganze des Desasters der Menschheitsgeschichte erfassen wollen. Sehr gern habe ich nun meine zerfledderte Fischer-Taschenbuch-Ausgabe von 1988 wieder zu Hand genommen, mit all den Unterstreichungen und Fragezeichen, die von der damaligen Mühe der Lektüre zeugen.

Doch bevor wir zur Alt- und Neulektüre kommen, zunächst einige Hinweise zum Buch und zu seinem Entstehungskontext: Ohne den Mord an den europäischen Juden direkt zu erwähnen, wurde es im Schatten von und im Wissen um »Auschwitz« geschrieben. Die Autoren stellten sich die Frage, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt« (Vorrede vom Mai 1944, S. 1). Es ging nun nicht mehr, wie noch zu Beginn des Projekts »Kritische Theorie« in den 1920er-Jahren, um die ausgebliebene kommunistische Revolution oder um die Unmöglichkeit von Revolution in der kapitalistischen Gesellschaft, sondern um eine menschheitsgeschichtliche Katastrophe, die angesichts der technischen Möglichkeiten und des Fortschritts der Produktivkräfte eigentlich undenkbar gewesen war, aber nun mit ebendiesen Dingen in Verbindung gebracht werden sollte: Zivilisation und Massenmord waren demnach ineinander verschränkt. In der »Dialektik der Aufklärung« wurden mit einer geschichtsphilosophischen Perspektive der Aufstieg und die Selbstzerstörung »der Aufklärung« reflektiert. Vor allem im wissenschaftlich-technischen Projekt der Naturbeherrschung sahen die Autoren die Antwort auf den Triumph der Destruktivkräfte. Was sich im Faschismus entladen habe, sei nicht einfach nur ein enthemmter unmenschlicher Kapitalismus, sondern die gesamte mythische Gewalt der von Herrschaft geprägten menschlichen Vor­geschichte. Naturbeherrschung und Naturverfallenheit, Fortschritt und Regression, Moderne und Mythos waren in dieser pessimistischen Deutung unausweichlich ineinander verschlungen. Gleichwohl erfolgte die Kritik der Aufklärung in der Hoffnung, mit ihrer Hilfe aufgeklärtes Denken retten zu können, indem Aufklärung »aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft« gelöst werde (Vorrede, S. 6). Horkheimer und Adorno betrachteten die okzidentale Zivilisationsgeschichte unter dem Fluchtpunkt Auschwitz – nach Hitler musste man demnach selbst Homer anders lesen.2

Die philosophische Wesensbetrachtung der missglückten Zivilisationsgeschichte hatte eine B-Seite, nämlich die empirischen Studien über den autoritären Charakter, die im Kapitel »Elemente des Antisemitismus« Niederschlag fanden.3 Die geschichtsphilosophische Spekulation geschah also auf dem Fundament qualitativer empirischer Studien und historischer Erfahrung. Bei den Frankfurter Gelehrten sollten Sozialforschung und politische Gesellschaftskritik die Philosophie begründen, begleiten und aktualisieren.

Bereits vor 35 Jahren faszinierte mich gerade diese Mischung aus philosophischer Tiefgründigkeit und dem gleichzeitigen Gefühl, dass wesentliche Probleme der sozialen Gegenwart hier verhandelt werden, so wie es die Psychoanalyse für Individuen vorsieht. Die ungeheure literarische Wucht der Schrift spielte natürlich ebenfalls keine geringe Rolle. Martin Mittelmeier hat das Leseerlebnis so beschrieben: Dieses Buch sei schwer zu fassen – man versuche nur mal in dem Kapitel »Begriff der Aufklärung« (S. 9-49), die wichtigsten Stellen zu unterstreichen oder es in Abschnitte einzuteilen. Und doch habe jeder Satz eine ungeheure Sogkraft, eine ästhetische Wirkung.4 In der Tat: Die Autoren bauen keine Argumentation auf, sondern variieren die immergleiche These – dass bereits der Mythos Aufklärung sei und Aufklärung in Mythologie zurückschlage. Die Sätze sind apodiktisch, und doch entsteht der Eindruck hoher Plausibilität. Die geschichtsphilosophische Erzählung ist maßlos in ihrer Reichweite, aber es gibt darin kein unnützes Wort.

Schon zu meiner Studienzeit stand allerdings die Kritik im Raum, die These von der »Dialektik der Aufklärung« sei selbst ein Mythos. Der Adorno-Schüler Herbert Schnädelbach hatte beispielsweise 1989 befunden, diese Aufklärung über die Aufklärung schlage ihrerseits in Sozialmythologie zurück, denn sie erzähle wie eine griechische Tragödie die Urgeschichte des scheiternden Subjekts, das über die Naturbeherrschung die Freiheit verfehlt, die es gewinnen möchte. Horkheimers und Adornos »Dialektik« sei zudem keine philosophische Methode, sondern gerate zur Ontologie des falschen Zustands. Daher müsse Kritische Theorie, wenn sie aktuell bleiben wolle, den Rückwärtsgang von der narrativen Geschichtsphilosophie zur Gesellschaftstheorie einschlagen.5 Das hatte bereits Jürgen Habermas vorexerziert, der in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981) die »Dialektik der Aufklärung« als eine geschichts- wie subjektphilosophische Sackgasse deutete, die pessimistisch jedes soziale Handeln wie vernünftige Kommunikation ausschließe.6

In den bundesrepublikanischen Geisteswissenschaften war »Geschichtsphilosophie« ohnehin längst den Exorzisten überantwortet worden, zum Beispiel dem Philosophen Odo Marquard, der Mitte der 1970er-Jahre konstatiert hatte: »Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kommt darauf an, sie zu verschonen.«7 (Freilich, die geschichtsphilosophischen Dämonen spukten und spuken in Form unreflektierter Annahmen durchaus weiter, zum Beispiel in großflächigen Prozessbegriffen wie Rationalisierung, Differenzierung und Modernisierung, was Wolfgang Knöbl neuerdings für die Soziologie gezeigt hat.8) Das »Ende der großen Erzählungen« (Jean François Lyotard) war also zur Zeit meiner Erstbekanntschaft mit der »Dialektik der Aufklärung« längst auch in Westdeutschland ausgerufen und angenommen worden; übrig blieb nichts außer Faszination für Studenten wie mich, die von sozialwissenschaftlich oder sozialhistorisch operationalisierten Strukturprozessen auf Mikro-, Meso-, Makroebene oder dem spröden Analysedeutsch in den Wissenschaften nicht so richtig satt wurden und lieber die ästhetische Brillanz der »Dialektik der Aufklärung« goutierten.

Weitere Gegenwartswirklichkeiten nährten diese Faszination für die Idee einer »Dialektik der Aufklärung« mit dem Kulminationspunkt »Auschwitz« und der These eines total vergesellschafteten falschen Ganzen. Um 1990 lebte man in einer Mediengesellschaft, in der mit der Privatisierung des Fernsehens und der Digitalisierung die »Kulturindustrie« neue Breiten- und Tiefendimensionen erhielt. Es schien, als wäre Adorno ein Prophet gewesen. Zudem wurde seit den 1970er-Jahren das Mensch-Natur-Verhältnis in ökologischer Perspektive problematisiert. Nicht zuletzt (und für mich mit mehr Emotionen verbunden als die beiden anderen Aspekte) erlebte man immer wieder antisemitische Eruptionen, auch wenn (oder vielleicht sogar: weil?) in der Bundesrepublik hässliche Worte gegen Juden eigentlich tabuisiert waren – und daher meist der Zionismus und Israel für das antijüdische Ressentiment herhalten mussten. Trotz der nun beginnenden konkreten, das heißt kriminalistischen Aufarbeitung der NS-Vernichtungspolitik (Taten, Täter, Tatorte) und des einsetzenden Memory-Booms (bald bekannt unter Adornos Wort der »Aufarbeitung der Vergangenheit«), schien der Antisemitismus zur DNA nicht nur der bundesdeutschen Gesellschaft, sondern des christlichen Abendlandes als auch der modernen globalisierten Welt insgesamt zu gehören. Soziologisch erforscht wurde der Antisemitismus bis dahin allerdings sehr wenig.9 Das Kapitel »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung« war noch immer der gehaltvollste theoretische Text, den man über dieses scheinbar ewige soziale Phänomen lesen konnte.

Beim jetzigen Wiederlesen dachte ich: Wer spricht denn heute noch von »Aufklärung«, wenn Kant nicht gerade einen runden Geburtstag hat? Am meisten wohl die Anhänger postkolonialer Theorien, die damit »den Westen« meinen, der im Namen von Universalismus und Vernunft den Globalen Süden unterworfen und beherrscht habe bzw. weiter beherrsche. In der Tat waren auch Horkheimer und Adorno Kritiker jener Aufklärung, allerdings solidarische Kritiker: »Wir hegen keinen Zweifel […], daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.« (Vorrede, S. 3, und Buchrücken meiner Ausgabe von 1988) Das ist Dialektik in Reinform, mit der man übrigens bestens den Kolonialismus und sein Nachleben kritisieren könnte (sowie selbstredend eine postkoloniale Kritik, die auf essentialistische Identität setzt und auf im wahrsten Sinne des Wortes schwarz-weißen Weltbildern beruht).

Jenseits der Abrechnung mit der männlich-weißen Aufklärung ist das Pathos um diese weitgehend verschwunden, außer wenn der Bundespräsident seine pastorale Stimme erhebt. Die Rhetorik von Vernunft, Freiheit, Fortschritt, Menschheit zündet im Westen nicht mehr so richtig, wie auch das Gegenteil des Lichtwerdungsglaubens, der Kulturpessimismus, als modrig bis reaktionär gehandelt wird. Überhaupt, Geschichtsphilosophie befindet sich schon seit langem auf dem Abstellgleis der Geschichte, deren Entschlüsselung sie versprach. Und wer doziert heute noch über »Dialektik« im Sinne der Frankfurter Schule, die damit den anmaßenden Zugriff auf die Totalität von Geschichte und Gesellschaft verband, wenn auch nur in negativ-dialektischer Form, als gewendeter Hegelianismus sozusagen, aber mit der Beteuerung, keine philosophischen Systeme mehr errichten zu wollen? Heute sind Forscher gefragt, nicht Weltdeuter. In den Wissenschaften fasst man widersprüchliche, zweideutige Ereignisse, Phänomene, Prozesse oder Strukturen in Begriffe wie »Ambivalenz«, die man als Dialektik ohne Geschichtsphilosophie definieren kann.10 Recht so, wenn damit nicht das Gebot verbunden ist, überhaupt keine Zusammenhänge mehr zu denken, die man nicht exakt beweisen kann.

An dem zwiespältigen Lektüreerlebnis von einerseits antiquierter, andererseits aktueller Gesellschaftskritik hat sich gegenüber der Erstlektüre eigentlich nicht viel verändert, außer dass ich den Worten der beiden geistigen Autoritäten weniger gläubig folge, dabei aber ihren Pessimismus nun eher teile. Jenseits der geschichtsphilosophischen Spekulation finde ich nach wie vor überzeugend, dass Dialektik als Denkmethode meist hilfreich ist, um gesellschaftliche Dynamiken zu erfassen und auch zu kritisieren. In den meisten sozialen Phänomenen, gegenwärtigen wie historischen, sind widersprüchliche Tendenzen angelegt, die wiederum mit größeren Zusammenhängen korrespondieren. Das Internet zum Beispiel erschien anfangs wie ein demokratisches Paradies – jede Person noch am entlegensten Platz dieser Erde konnte ungeachtet ihrer sozialen Stellung zu Wort kommen und am Diskurs partizipieren;11 mittlerweile sind wir angesichts der Monopolisierungstendenzen in der kapitalistischen Medienwirtschaft und infolge der asozialen Netzwerke, die eine demokratische Öffentlichkeit von unten zerstören, einigermaßen ernüchtert. Die liberalisierte und demokratisierte Öffentlichkeit schafft sich quasi selbst ab, indem sie immer partizipativer wird, ihre Produktionsorte aber privatisiert werden. Die Kulturindustrie dringt tatsächlich so tief in das Bewusstsein junger Generationen ein, wie bereits Adorno es für die USA um 1945 mit dem Adjektiv »totalitär« behauptet hat, ja die Digitalisierung hat einen neuerlichen »Strukturwandel der Öffentlichkeit« bewirkt.12 Die Warenform der kulturellen Produkte ist dabei längst nicht mehr das schlimmste Problem;13 gravierender sind die Verrohung der Sitten und die primitivsten Manipulationen, die nun, ganz demokratisch, auch von unten gepflegt werden. Schließlich die Klima­frage: Die Reflexion über das Mensch-Natur-Verhältnis ist noch dringlicher geworden, aber das wissen wir auch ohne die »Dialektik der Aufklärung«, ohne dass sich viel ändern würde. Wer nicht glaubt, dass wir einem industriekapitalistischen Gefängnis sitzen, soll mal versuchen, in Deutschland ein Tempolimit einzuführen.

Am überzeugendsten an der »Dialektik der Aufklärung« finde ich noch immer die Idee, dass der Antisemitismus eine Art Ritus der Zivilisationsgeschichte ist. Man hat nach vielen Jahrzehnten von Frieden, Wohlstand und relativ großer Freiheit, in der die vernünftige und freiheitliche Sozialphilosophie von Habermas zumindest in der Bundesrepublik der adäquate Ausdruck der Zeit war, das Gefühl, dass doch ein Verhängnis über dem Zusammenleben der Menschen liegt. Es mag passieren, was will – der Hass, das Vorurteil, das Ressentiment, das Juden betrifft und oft sogar weltanschaulich vorgetragen wird, scheint Nietzsches These von der Wiederkehr des Immergleichen zu bestätigen. Der Antisemitismus ist symptomatisch, an Israel scheiden sich weiterhin die Geister. Dass da auch keine Aufklärung hilft, wussten bereits die Autoren der »Elemente des Antisemitismus«, die diesen zum Schlüsselphänomen für eine kritische Gesellschaftstheorie erklärten.

In sieben Paragraphen und Perspektiven, aber doch innerhalb des umfassenden Rahmens, nämlich der westlichen Zivilisationsgeschichte, wird in der »Dialektik der Aufklärung« der Antisemitismus umkreist – sozialpsychoanalytisch, politökonomisch, religionsgeschichtlich, sozialanthropologisch, geschichtsphilosophisch. Die Autoren sagen: Die Verfolgung und die Gewalt gegen die Juden offenbaren die falsche Ordnung in ihren Grundfesten; man verfolge die Juden, weil sie schon verfolgt worden waren und gezeichnet sind. Der Antisemitismus entlädt sich demnach in vielen Formen und aus unterschiedlichen Motiven: in Herrschaftsstrategien, irregeleiteter klassenkämpferischer Wut, Frustrationen der Ohnmacht, konformistischen Rebellionen, unterdrückten Trieben, paranoiden Projektionen und Idiosynkrasien gegenüber anderen Menschengruppen, vor allem aus Unglück am versprochenen und ausgebliebenen Glück der Menschheitsgeschichte. »Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde.« (S. 180) Wie früher der Christusmord und die Geldwirtschaft, so werde alles Unbehagen an der modernen Welt mit den Juden in Verbindung gebracht. Antisemitismus ist demnach der Hass auf alles, was an das Misslingen der Zivilisation erinnert. Die antisemitische Tat wurde laut Horkheimer/Adorno schließlich zum Selbstzweck, »die Judenfrage« habe sich als »Wendepunkt der Geschichte« erwiesen (S. 209).14 Was 1944 noch bevorstand: Selbst Auschwitz würde den Juden, die nach dem Fortschritt auch noch Palästina »kolonisierten«, zur Last gelegt werden. Die heutigen scharfen Töne, die gegen die Erinnerungskultur gerichtet sind, folgen nicht zuletzt der schlichten Logik, dass damit die Legitimation Israels angegriffen werden soll.

Als die »Dialektik der Aufklärung« in Buchform herauskam, war es ebenfalls 80 Jahre her, dass der erste Band von Karl Marxʼ »Das Kapital« erschienen war (1867). Obwohl Horkheimer und Adorno spürten, dass mit diesem Werk die Katastrophen ihrer eigenen Zeit nicht mehr adäquat zu begreifen waren, ja dass überhaupt das Zeitalter von Kapitalismus, Klassenkampf und Revolution vergangen war, warfen sie die Kritik der politischen Ökonomie nicht über Bord. Im Gegenteil, gerade Adorno blieb in Fragen von Tausch und Wert ziemlich orthodox. Allerdings brauchte es Übersetzungen, Aktualisierungen und eine Offenheit für neue Erfahrungen, um das Projekt »Kritische Theorie« am Leben zu halten, so wie es die »Dialektik der Aufklärung« intendierte. In diesem Sinne ist der sozialphilosophische Klassiker heute zu lesen. Die Wahrheit hat einen historischen Zeitkern, sagten die Frankfurter. Die »Dialektik der Aufklärung« mag eine Ruine sein, als Steinbruch für Neubauten sind die »Philosophischen Fragmente« aber nach wie vor nützlich. Beobachten und Denken müssen wir allerdings selbst.


Anmerkungen:

1 Es gehört zu der öffentlichkeitsorientierten Praxis der Geisteswissenschaften, vor allem bei Jubiläen an ihre Klassiker zu erinnern und sie neu zu lesen. Was immer man von dieser durchaus beliebten Textsorte halten mag – für künftige Historikergenerationen sind es ausgezeichnete Quellen. Was die »Dialektik der Aufklärung« betrifft, hat diese Zeitschrift 2004 einen Mitautor des Bandes »Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule« (Frankfurt a.M. 1999) um einen Beitrag gebeten: Clemens Albrecht, Die Dialektik des Scheiterns. Aufklärung mit Horkheimer und Adorno, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 318-323. Instruktiv ist noch immer der Text eines Horkheimer-Schülers und Herausgebers der Gesammelten Schriften, der gleichsam den Reigen eröffnete: Alfred Schmidt, Übergang zur verwalteten Welt, in: Günther Rühle (Hg.), Bücher, die das Jahrhundert bewegten. Zeitanalysen – wiedergelesen, München 1978, Tb.-Ausg. Frankfurt a.M. 1980, S. 142-151. Rühle war damals Feuilleton-Chef der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Sein »ZEIT«-Kollege Fritz J. Raddatz betätigte sich selbst als Interpret in der von ihm herausgegebenen ZEIT-Bibliothek der 100 Sachbücher (Frankfurt a.M. 1984, S. 304-306). Neben dem Feuilleton sind Handbücher der geeignete Ort, um Erinnerungstexte über den sozialphilosophischen Klassiker zu studieren. Jüngstes Stück ist der Eintrag von Jacques-Olivier Bégot, in: Cyril Lemieux u.a. (Hg.), A History of the Social Sciences in 101 Books, Cambridge, Mass. 2023, S. 1-3. Hervorstechend im Rahmen der »Handbuchisierung« (Dirk Braunstein) der »Dialektik der Aufklärung« ist m.E. der Beitrag von Philipp von Wussow, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 2, Stuttgart 2012, S. 118-124, der die jüdische Perspektive der Autoren betont. Über die Karriere des »Jahrhundertbuches« informiert Martin Mittelmeier, Freiheit und Finsternis. Wie die »Dialektik der Aufklärung« zum Jahrhundertbuch wurde, München 2021.

2 Vgl. das »Nachwort des Herausgebers« Gunzelin Schmid Noerr, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5: ›Dialektik der Aufklärung‹ und Schriften 1940–1950, Frankfurt a.M. 1987, S. 423-452, insb. S. 423-425; außerdem Dan Diner, Aporie der Vernunft. Horkheimers Überlegungen zu Antisemitismus und Massenvernichtung, sowie Detlev Claussen, Nach Auschwitz. Ein Essay über die Aktualität Adornos, beide in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988, S. 30-53 und S. 54-68.

3 Vgl. dazu jüngst Philipp Lenhard, Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule, München 2024, S. 372-430.

4 Mittelmeier, Freiheit und Finsternis (Anm. 1), S. 23-26, und zum komponierenden Schreiben Adornos ebd., S. 155-160.

5 Herbert Schnädelbach, Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung, in: Harry Kunneman/Hent de Vries (Hg.), Die Aktualität der ›Dialektik der Aufklärung‹. Zwischen Moderne und Postmoderne, Frankfurt a.M. 1989, S. 15-35.

6 Vgl. das Kapitel IV: »Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung«, in: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, S. 455-534, und seine Kritik an den Aporien der »Dialektik der Aufklärung« in: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 130-157 (Vorlesung V: Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno). Zum »Phänomen Habermas« empfehle ich die Essays von Philipp Felsch, Der Philosoph. Habermas und wir, Berlin 2024.

7 Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a.M. 1973, S. 13.

8 Vgl. Tamás Miklós, Der kalte Dämon. Versuche zur Domestizierung des Wissens. Übersetzt von Eva Zador, München 2016; Wolfgang Knöbl, Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie, Berlin 2022.

9 Detlev Claussens Habilitationsschrift »Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus« (1987 als Buch erschienen) stand in der westdeutschen Soziologie ziemlich allein auf weiter Flur.

10 Siehe Florian Meinel, Ambivalenz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 15 (2021) H. 4, S. 103-104 (dort als Beitrag zu einem kleinen »Wörterbuch der weitschweifigen Begriffe«).

11 Naja, nicht ganz; sie musste natürlich lesen und schreiben können sowie über Strom verfügen und die Mittel für ein Endgerät besitzen.

12 Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022.

13 Und war für den Erfinder des Begriffs auch nie so schlimm, wie es in der »Dialektik der Aufklärung« klang; das Existenzialurteil hielt Adorno nicht davon ab, oft und gern ins Kino zu gehen.

14 Zum Verhältnis Horkheimers und Adornos bzw. der Frankfurter Sozialphilosophie zum Judentum und zur antisemitischen Vernichtungspolitik vgl. Anson Rabinbach, Die Frankfurter Schule und die ›Jüdische Frage‹, 1940–1970, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 21 (2024) H. 1, S. 3-27 (zuerst 2014 auf Englisch erschienen und nun übersetzt von Robert Zwarg). Diese Perspektive ist erstmals zu finden in: Diner, Zivilisationsbruch (Anm. 2). Zur Vorgeschichte von Diners Sammelband im Kontext der Frankfurter Jüdischen Gruppe vgl. Jörg Später, Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik, Berlin 2024, S. 559-575.

Zum Weiterlesen:

Das Register der Rubrik »Neu gelesen« finden Sie hier.

Lizenz

Copyright © Jörg Später | CC BY-SA 4.0

Im Beitrag enthaltenes Bild-, Ton- und/oder Filmmaterial ist von dieser Lizenz nicht erfasst; es gelten die dort jeweils genannten Lizenzbedingungen bzw. Verweise auf Rechteinhaber.