- Die Pyrenäen als Landschaft der Übergänge
- Geschichten einer Flucht
- Auf der Ruta Walter Benjamin
- Der Blick zurück
- Die Konjunktur der Erinnerung
- Walter Benjamin und der Eigen-Sinn – Passagen
1. Die Pyrenäen als Landschaft der Übergänge
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.
Francos Katalonien-Offensive vom Dezember 1938 bedeutete für Hunderttausende spanische Zivilisten und Soldaten republikanischer Einheiten die Flucht ins Exil. Die Internationalen Brigaden hatten sich schon am 28. Oktober mit einer Parade in Barcelona verabschiedet. Über die Pyrenäen kam man nur noch durch Katalonien, die letzte republikanische Gegend im Nordosten Spaniens, über die Berge und entlang der felsigen Küste. Im harten Winter 1938/39 flüchteten innerhalb weniger Wochen rund 500.000 Menschen über die Pyrenäen nach Frankreich; allein über den Coll dels Belitres (wörtlich übersetzt: Pass der Gauner, der Schamlosen) gingen schätzungsweise 90.000 bis 100.000 Flüchtlinge.[1] Diese Emigration ist in die spanisch-französische Erinnerung eingegangen als Retirada – ein Begriff, der der Militärsprache entlehnt ist. Er bedeutet Rückzug und eben nicht Flucht, obwohl die Mehrzahl der Betroffenen fliehende Zivilisten waren. Sein Konnotationsraum hat etwas Vorläufiges: Die Sache ist noch nicht verlorengegeben, die Niederlage nicht endgültig.[2] Enrique Líster, ein legendärer kommunistischer General der republikanischen Armee, konnte seine Truppen nicht auf offener Straße außer Landes bringen. Er nutzte einen versteckten Pfad, der oberhalb der Küste über den ersten Gebirgspass ging, den Coll de Rumpissar auf über 500 Metern Höhe. Dieser Weg trug in der Folgezeit den Namen Ruta Líster. Von Portbou aus führt er flach landeinwärts, um dann abrupt auf die Passhöhe aufzusteigen, von wo es auf nahezu doppelter Wegstrecke durch Geröllfelder und Weinberge ins französische Banyuls-sur-Mer hinuntergeht.
Diese heiße Fluchtroute hatte kaum Gelegenheit abzukühlen, bevor sie im Sommer 1940 in die entgegengesetzte Richtung reaktiviert wurde. Zahlreiche deutsche Intellektuelle, unter ihnen auch Walter Benjamin, waren vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Frankreich ausgewichen, vor allem nach Paris und an die Côte d’Azur.[3] Nach dem Einmarsch der Deutschen operierte in Marseille ab August 1940 das amerikanische Emergency Rescue Committee (ERC), koordiniert von Varian Fry, mit dem Ziel, diese Intellektuellen außer Landes in Sicherheit zu bringen. Als Schiffspassagen kaum noch zu organisieren waren, nutzten die Flüchtenden den Weg über den Coll dels Belitres.[4]
Walter Benjamin befand sich seit 1933 im Exil, überwiegend in Paris, teils bei seinem Freund Bert Brecht in Dänemark und auf Ibiza. Noch zur Jahreswende 1939/40 widerstand er den Aufforderungen seiner Ex-Frau Dora, Paris zu verlassen, und erneuerte trotz wiederholter Internierungen lieber seinen Ausweis in der Bibliothèque Nationale. Erst im Frühjahr 1940 brachte er seinen Besitz in Sicherheit. Im Mai reiste er nach Lourdes, und Ende August gelangte er zu spät zu Varian Fry nach Marseille.[5] Die Gestapo machte im September 1940 den Weg über den Coll dels Belitres dicht.[6] Fluchthelfer und Schützlinge mussten deshalb auf eine andere, schwierigere Route ausweichen: die Ruta Líster.
Wie ein Palimpsest hat diese Route verschiedene Namen getragen, je nachdem, welche Persönlichkeit die Wahrnehmung und Erinnerung bestimmte. Nach Ruta Líster hieß sie 1940/41 für einige Zeit F-Route, F wie Lisa Fittko, die wichtigste Fluchthelferin über die Pyrenäen, die aus antifaschistischer Überzeugung mit Varian Fry und dem ERC zusammenarbeitete – zu dessen Mitarbeitern wiederum ein Mann mit dem Decknamen Hermant gehörte, der selbst über die F-Route flüchtete: der spätere Professor Albert O. Hirschman.[7] Heute ist dieser Pfad als Wanderroute markiert, leicht zu finden, ausgestattet mit Infotafeln, und er firmiert unter dem Namen seines »Erstbegehers«, der zu einer Ikone legitimer Flucht werden sollte, ein herausragender Fall inmitten einer Landschaft der Querungen, nicht zuletzt wegen seines tragischen Endes in Portbou: Ruta Walter Benjamin.
Walter Benjamin konnte seine eigene Fluchtgeschichte nicht erzählen – er hat bekanntlich nicht überlebt. Es kursieren Variationen seines Entkommens, das letztlich keines war. Sie unterscheiden sich in wichtigen Details[8] und fügen sich doch zu einem weitgehend plausiblen Narrativ. Es erzählt von einem, der sich mit größter Mühe über eine Grenze brachte und trotzdem ohne Rettung in die Mühlen des feindlichen Systems geriet. Es besagt, genauer, dass Benjamin Ende September 1940 über die alte Ruta Líster ging, geführt von Lisa Fittko und in Begleitung der Fotografin Henny Gurland sowie deren Sohn Joseph. Im Glauben, über alle nötigen Papiere zu verfügen, meldete sich Benjamin in Portbou bei der Polizei und erfuhr, dass Spanien neuerdings ein französisches Ausreisevisum verlangte. Eine Übernachtung in der Fonda de Francia wurde ihm zugestanden, dann sollte er nach Frankreich zurückgebracht und an die deutschen Besatzer übergeben werden. Um der sicheren Vernichtung im Konzentrationslager zu entgehen, nahm er sich mit einer Überdosis Morphin das Leben. Das französische Ausreisevisum brauchte man kurz darauf nicht mehr, und so konnten die anderen weiterreisen. Benjamin wurde in Portbou beerdigt, das Grab war jedoch nur für fünf Jahre bezahlt, sodass der Verbleib seiner sterblichen Überreste ungewiss ist.
Dieses Narrativ beruhte lange Zeit ausschließlich auf Berichten von Lisa Fittko (Grenzüberquerung) und Henny Gurland (Ankunft in Portbou und Selbstmord).[9] Fittkos Lebenserinnerungen sind zum Referenztext über Benjamins Flucht geworden. Ihre Memoiren erschienen erst 1985, also 45 Jahre nach den Ereignissen, und Fittko hat sie offenbar nicht früher niedergeschrieben.[10] In der Literatur wäre sie eine unzuverlässige Erzählerin. Ihr Bericht bewegt sich zwischen Zeugenschaft und Selbstbeschreibung, er ist zugleich eine Appropriation; sie ist den Weg Dutzende Male gegangen, und diese Wiederholungen müssen sich über das erste Mal gelegt haben. Henny Gurland war 1952 gestorben und konnte weder etwas beisteuern noch berichtigen. Lisa Fittko (1909–2005) wurde weltweit als Benjamins Fluchthelferin gefeiert – zu Recht, doch welche Anregungen, Interessen und späteren Einflüsse mögen ihre Erinnerung gefärbt haben? Das stete, häufig unkritische Fortschreiben der Fluchtgeschichte kulminierte darin, dass der Nachruf auf Fittko in der »New York Times« ihrer eigenen Lebensbeschreibung folgte und ihre Erinnerungen als Fakten darstellte.[11] Zu Benjamins Selbstmord existiert ein Brief Gurlands, der zur Pyrenäenüberquerung fast nichts sagt, aber neben etlichen Details zu den Ereignissen in Portbou die Erinnerung des Abschiedsbriefes enthält, den Benjamin ihr für Theodor W. Adorno mitgegeben haben soll. Sie vernichtete den Brief auf der Flucht und setzte seinen Wortlaut später wieder zusammen.[12] Fittkos und Gurlands Angaben sind Rekonstruktionen. Wer die Ruta Walter Benjamin nachgeht, verfolgt Spuren der Erinnerung.
3. Auf der Ruta Walter Benjamin
Am 25. September 2017, der sogenannten diada, dem Plus-Minus-Jahrestag von Benjamins Flucht, gehe ich nach einem üppigen Frühstück in einem guten Hotel in Banyuls-sur-Mer los. Ich bin, was Schuhe und Ausrüstung angeht, bestens ausgestattet. Welches Schuhwerk mag Benjamin noch gehabt haben, dem es in seinem Exil an allem Materiellen mangelte? Lisa Fittko sollte für ihre »Ladung« nicht mehr mitnehmen als das, was in eine musette passte, einen in der Region typischen Brotbeutel, und sollte sich damit unter die Weinbauern mischen, die früh morgens den Weg in die Berge einschlugen. An der Brücke in den Vorort Puig del Mas hängt das Schild Chemin Walter Benjamin heute neben Werbung für eine LEGO-Messe. Bald leitet mich mein Weg durch den Boulevard des Évadés de France, der die Flüchtlinge im Namen trägt. Ich gehe über einen von Zeit und Witterung aufgebrochenen Wirtschaftsweg. Eine Schotterpiste führt mal sanft, mal steiler bergan durch die Weinberge. Ein Schuppen kommt in den Blick, gestrichen in Gelb und Rot, auf seiner Seitenwand prangt ein roter Stern: Insignien des katalanischen Separatismus, der hier über die Staatsgrenze schwappt.[13]
Woran machen sich die Gedanken eines Flüchtenden beim Gehen fest? Was dachte jener konkrete Flüchtling in der unerbittlichen und zugleich reizvollen Gebirgslandschaft, dieser urbane Flaneur, der so erkenntnisreich über die Passagen in den Städten geschrieben hat? Der in seiner Prosaskizze »Chinawaren« den Weg mit dem Text verglichen und das Nachgehen vom Überfliegen geschieden hat: »Nur wer die Straße geht, erfährt von ihrer Herrschaft und wie aus eben jenem Gelände, das für den Flieger nur die aufgerollte Ebene ist, sie Fernen, Belvederes, Lichtungen, Prospekte mit jeder ihrer Wendungen so heraus kommandiert, wie der Ruf des Befehlshabers Soldaten aus einer Front.«[14] Lisa Fittko meinte sich zu erinnern, dass die Stimmung gut gewesen sei und man sich über die Widrigkeiten des Moments, die Wärme, die Beschaffenheit des Weges, die Gehzeiten unterhalten habe.
Die niederen, südlichen Weinstöcke ducken sich in den steinigen Hang. Die Route beginnt sich zu schlängeln, wird schmaler und anspruchsvoller, Gesteinsbrocken legen sich in den Weg. Ein viersprachiges Schild informiert, dass sich Walter Benjamin auf der Flucht vor der »Nazimacht« über diesen Weg nach Spanien begeben habe, und zwar am 24. September 1940. Lisa Fittko dagegen schreibt, er habe sie am 25. September in Portvendres aufgesucht. Den Tag sollen sie für einen Besuch beim Bürgermeister von Banyuls (wohin sie wohl zu Fuß gelangen mussten, eine Distanz von etwa sechs Kilometern) und einen anschließenden Orientierungsgang genutzt haben, sodass die Flucht selbst allenfalls tags darauf stattgefunden haben kann. Benjamin soll die Nacht zum 26. September draußen verbracht haben, weil er sich nach der ersten Erkundung den Abstieg und neuerlichen Aufstieg am Folgetag nicht zutraute. Er musste sich seine Kräfte einteilen und entschied sich mit kühler Rationalität für eine Nacht im Freien. Später, während des Aufstiegs, blieb der Herz- und Lungenkranke streng in gewissen Zeitabständen für eine Minute Erholung stehen. Ich hingegen halte immer wieder an auf der Suche nach dem attraktivsten Motiv, dem besten Bildausschnitt, um die Schönheit der Landschaft zu genießen oder die Infotafel zu lesen.
Ab dieser Stelle ist der Weg nur noch ein schmaler Pfad, steil und steinig, teilweise bloß zu erahnen als Abstand zwischen Büschen. An einem Strommast gibt es einen Aufkleber mit einer Friedenstaube. Ein blaues Graffiti mit Benjamins Konterfei wiederholt sich mehrere Male. Auf das Fundament haben die Menschen kleine Steine niedergelegt im Gedenken an den Toten. Ein Toter, der bei seiner Passage dieser Stelle gerade noch im Leben stand und hier auch keine moderne Infrastruktur vorfand – doch natürlich erwandert man sich diesen Weg in der Rückschau und im Wissen um sein Sterben. Würde es Nach-Geher geben, wenn Benjamin sich hätte retten können? Der Pfad über den Coll dels Belitres heißt nicht Werfel- oder Feuchtwanger-Route. Diese Strecke abzugehen bewegt sich irgendwo zwischen Pilgerschaft und der Ästhetisierung einer traumatischen Erfahrung. Die Route lebt von einer Pädagogik des Erinnerns ebenso wie vom tragischen Tod ihres Namensgebers – und auch von der Schönheit der Gegend, von der Attraktivität der Fluchtroute, von ihrer sportlichen Herausforderung. Gäbe es den heutigen Weg, wenn die Flucht durch Industriegebiete geführt hätte? Etwas weiter eine Markierung mit Zeitangabe: 35 Minuten bis zum Pass. Kurz darauf die Infotafel Nr. 4: Auf der Flucht nach Spanien habe die Gruppe bei dieser Quelle Rast gemacht. Also raste auch ich, esse Sandwiches, lasse meine Funktionskleidung trocknen. Lisa Fittko berichtet allerdings nichts von einer Quelle, sondern gibt an, man habe auf einem »schmalen Bergrücken« pausiert. Woher also stammt die Information auf der Tafel? Auf welchen Quellen beruhen all diese »Fakten«, die kulturhistorisch Interessierten hier an die Hand gegeben werden?
Zur Ikonisierung Walter Benjamins und zur Ästhetisierung seiner Fluchterfahrung gehört neben dem ausgeschilderten Wanderweg auch eine rege Aktivität im virtuellen Raum. Es gibt eine Online-Animation der Fluchtgeschichte, wieder auf den Erinnerungen Fittkos basierend.[15] Beschreibungen des Nachwanderns finden sich Dutzende – teils als reine Routenangaben, teils als Erfahrungsberichte. Inzwischen ist die Strecke in GPS-Koordinaten erfasst, es gibt eine eigene App,[16] und sie ist als mit der Bahn erreichbare Wanderroute gelistet.[17] Damals war das Territorium nicht derart kartographiert, Lisa Fittko suchte den Weg nur mithilfe einer Skizze und mündlicher Angaben des Bürgermeisters von Banyuls. Heute bietet die Gemeinde Portbou die grenzüberschreitende Route und einen urbanen Rundgang zum Download an[18] und hat »Walter Benjamin Products« im Angebot,[19] wobei es sich um Publikationen handelt und nicht etwa um Fußsalbe für müde Wanderer.
Über die mediterrane Macchia schaue ich immer weiter zurück: auf die weißen Häuser und roten Dächer von Banyuls, auf die nach einem unerträglich heißen Sommer immer noch grüne Vegetation, die Bucht, das offene Meer. Zurück, wie ich, blickt auch ein massiver Fels in der Form eines Kopfes, mit fliehender Stirn und spitzer Nase, als liege ein Körper in die Gebirgsfalten gebettet. Benjamin schrieb in »Über den Begriff der Geschichte« (These IX) zum Bild »Angelus Novus« von Paul Klee (1920): »Der Engel der Geschichte […] hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.« Ein Sturm »vom Paradiese her« hindert den Engel, seine Flügel zu schließen, und treibt ihn unaufhaltsam, Rücken voran, in die Zukunft. Er sieht nicht, was sie bringt, er sieht nur die Verwüstung der Vergangenheit in den Himmel wachsen. Wir bewerten und erwandern heute die Flucht Benjamins im Wissen um ihr Ende und um den Sturm der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir gehen diesem individuellen, historischen Schicksal nach im Bewusstsein der Fluchtereignisse auch des 21. Jahrhunderts – auf dem Balkan, im Mittelmeerraum, weltweit. Die Bilder der republikanischen Retirada, als 1939 Hunderttausende aus Spanien flüchteten, überlagern sich mit den heutigen Aufnahmen hunderttausender Hilfsbedürftiger an den europäischen Grenzen.
Über steil abfallendes Terrain schlängelt sich der Weg in Wellen unterhalb der Gipfelkette, quert Geröllfelder, die nach Norden in die Tiefe stürzen. Schließlich der Übergang nach Spanien, nur vom Grenzstein markiert. Im Süden drängen sich die Wolken über den Falten von Tälern und Rücken, in Blautönen zieht sich der Gebirgsausläufer bis zum Cap de Creus, wo die große Pyrenäen-Traverse GR11 endet. Plötzlich ist es für einen zauberhaften Moment ganz still – kein Wind, keine Tiere, keine Technik. Dann setzt Regen ein.
Anderes Land, andere Wegmarkierungen, andere Infotafeln. Auf der Freifläche des Sattels steht eine Gedenktafel des katalanischen Memorial Democràtic. Sie ist von der Witterung aufgebrochen, wie in einem Mosaik durchziehen große und kleine Adern die Texte und Bilder, legen sich wie ein Netz auf das Porträt von Benjamin. Die Tafel zeigt eine Karte und ein historisches Foto der »Landschaft, die die Walter-Benjamin-Route durchquert«. So steht man vor einem Bild im Bild. Den Ausblick fand schon Lisa Fittko toll, ihre Memoiren werden hier zitiert, und so ergibt sich auch darin eine Dopplung zwischen der eigenen Wahrnehmung und dem Erinnerten der einstigen Fluchthelferin.
Der Abstieg schlängelt sich steil durch Gebüsch und ist nicht immer leicht zu finden – er fehlt in Fittkos Erinnerungen ganz. Sie habe sich nicht von ihren Schützlingen trennen können und will allem Risiko zum Trotz mit ihnen bis fast nach Portbou hinabgestiegen sein; ihre Wegzeiten erscheinen mir unrealistisch. Stattdessen soll es einen Schäfer gegeben haben, der die Gruppe jenseits der Grenze ins Tal begleitete, ein Namenloser der Geschichte in einem wahrhaft Benjamin’schen Sinne.[20] Weit unten gelange ich an eine Schranke, die so fest verschlossen und mit Gitterdraht verrammelt ist, dass sie wirklich kein dahergelaufener Wanderer öffnen soll. Ich klettere drüber, und das Schild auf der talwärtigen Seite besagt in katalanischer Sprache: »Auf diesem Weg kam weder Walter Benjamin vorbei, noch ist er eine Erinnerung an irgendwas, denn er wurde erst ab 1965 angelegt. Privatgrundstück. Durchgang verboten.«
Es ist nicht so, dass ich mich beim Abstieg verlaufen hätte. Hundert Meter weiter unten steht das Schild vom Memorial Democràtic und weist über genau diesen Weg in genau diese Richtung: hinauf zum Coll de Rumpissar. Auf welchen Wegen sind wir hier also unterwegs? Wie historisch sind sie? Wurde diese Schotterpiste erst in den 1960er-Jahren angelegt, bestand zuvor womöglich doch schon ein Saumpfad? Haben alle Recht, Spurensucher einer legendären Flucht ebenso wie der schlechtgelaunte Schildschreiber? Kam Benjamin nun hier vorbei oder nicht? Die ihm gewidmete Website von Portbou erläutert, dass der Pfad auf katalanischer Seite erst nach dem Fund einer historischen Karte im Jahr 2008 habe rekonstruiert werden können. Die Route folge »zu 95 Prozent dem Originalweg«. Die transnationale Wanderstrecke wurde 2007 (Frankreich) bzw. 2009 (Spanien) angelegt.[21]
5. Die Konjunktur der Erinnerung
Obwohl am Jahrestag unterwegs, begegne ich nur wenigen anderen Menschen. Je mehr ich mich Portbou nähere, desto unheimlicher wird mir – willkommen zurück in der Zivilisation. Der Asphaltweg schlängelt sich durch halbverlassene Grundstücke, Bettroste dienen als Gartentore, Tonnen und Fässer sind aufgestapelt, hinter jeder Ecke erwarte ich einen scharfen Hund. Schließlich stehe ich vor den massiv aufgemauerten Bahnanlagen wie vor einer Talsperre. Daran entlang wandere ich in einen Tunnel hinein, in dem Wasser über die Fahrbahn strömt und der mich, glücklicherweise, nach ein paar Hundert Metern auf die Rambla von Portbou ausspuckt, an deren unterem Ende ich das Meer erahne. An der Promenade steht ein Strandimbiss, in seine Regenbogenbeflaggung ist die Estelada eingenäht, das Symbol der katalanischen Unabhängigkeit, und dort bedient die Touristen ein überaus freundlicher Kellner aus Somalia, der seit zwanzig Jahren in Spanien lebt, acht davon an dieser nördlichsten Bucht der Küste.
In Portbou wäre ohne die Eisenbahn keine größere Ansiedlung entstanden. Der Ort entstand als Logistikposten, und die Bahn ist das bestimmende Element geblieben, denn zwischen Portbou und Cerbère müssen kontinentale und iberische Schienenbreiten ausgeglichen bzw. Züge gewechselt werden. Während des Bürgerkrieges war Portbou wichtig für die Republikaner, die hier aus Frankreich Nachschub erhielten. Der Ort war überlaufen während der Retirada, umkämpft während der Endphase des Bürgerkrieges, von italienischen Bombern weitgehend zerstört und fest unter faschistischer Kontrolle nach Francos Sieg. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der internationale Bahnhof ein wichtiger Durchgang für Verfolgte des NS-Regimes. Es gab mindestens einen Gestapo-Posten in Portbou,[22] und nach 1945 passierten hier auch Nazis in Richtung Süden, auf dem Weg in eine andere Art von »Exil«.[23]
Ortsverwaltung und Erinnerungsinitiativen gehen offensiv mit zwei Aspekten dieser Geschichte um. Etliche mehrsprachige Tafeln informieren einerseits über die Retirada am Coll dels Belitres im Februar 1939; am Aufgang zum Bahnhof erinnert eine Plakette an die Internationalen Brigaden. Andererseits ist da nun Walter Benjamin, dem man jahrzehntelang keinerlei Bedeutung zugemessen hatte.[24] Der Journalist und Schriftsteller Juan Goytisolo kritisierte 1984 die Zurschaustellung eines fiktiven Benjamin-Grabes. Er beklagte die »doppelte Gauklerei« im Umgang mit dem Leichnam und der Erinnerung an Benjamin.[25] Das Denkmal »Passagen« des israelischen Künstlers Dani Karavan entstand in den Jahren 1990 bis 1994.[26] Etwa seit 2000 erhält die Touristen-Information des Ortes vermehrt Anfragen zu Benjamins Geschichte.[27] Im Jahr 2005 erschien »Wer tötete Walter Benjamin…«, ein Dokumentarfilm des argentinischen Regisseurs David Mauas, der seinen Röntgenblick auf Portbou richtet und die Ungereimtheiten im Narrativ über Flucht und Tod aufdeckt. Er stellt den »sauberen« Selbstmord infrage und beleuchtet die Option, ob der überanstrengte Flüchtling in einer medizinischen Krise unzureichend oder (absichtlich) falsch behandelt oder von den feindlichen Herrschern in den Selbstmord getrieben worden sein könnte.[28]
Portbou organisiert regelmäßig Veranstaltungen zu Benjamins Leben und Werk, im Oktober 2017 zum Beispiel »Erinnerung, Kindheit und Exil bei Walter Benjamin«. Ein Museum gedenkt des Intellektuellen, sein Gesicht prangt groß an der Hauswand, eine Topfpflanze mit zartweißen Blüten just davor mutet an wie Altarschmuck. Die Touristen-Information bewirbt die Ruta Walter Benjamin ebenso wie die Walter Benjamin Summer School. All dies koexistiert mit dem sehr gegenwärtigen katalanischen Schrei »Volem votar!« (»Wir wollen wählen!«). Die Fonda de Francia, in der Benjamin seine letzte Nacht verbrachte, gibt es nicht mehr. Das Haus ist renoviert und rot gestrichen. Eine Plakette besagt, dass Benjamin »in diesem Haus lebte und starb«. Die nächststehende Infotafel benennt diesen »Ort der Gefangennahme«, vermeidet aber eine klare Positionierung zur Todesart: »Die Ereignisse der folgenden Stunden belegen auf beeindruckende Weise die gesamte Tragödie dieser Barbarei.« Eine weitere Tafel zeigt das Polizeifoto von Benjamin. Die Klammer, mit der einst das Original ans Papier geheftet wurde, sitzt ihm im Nacken. Er trägt unter seinem Jackett ein weißes Hemd und Krawatte, sieht keineswegs verschwitzt aus – trotz einer Nacht im Freien und einer Flucht unter Aufbringung der letzten Kräfte.
6. Walter Benjamin und der Eigen-Sinn – Passagen
Benjamin soll eine schwarze Aktentasche bei sich getragen haben, darin sein letztes Manuskript, das er für wichtiger und größer gehalten habe als sein Leben selbst. Diese Tasche und das Manuskript, das nach seinem Tod nicht gefunden wurde (laut Polizeiakten allenfalls Papiere unbekannten Inhalts), sind zu einem Mythos geworden.[29] Nicht mehr als einen Brotbeutel konnten die Fliehenden mitnehmen – und eine schwere Aktentasche.
Benjamin ist ein eigensinniger Mensch und ein eigensinniger Denker gewesen, individuell und intellektuell mutig, unangepasst, oder, wie es der Benjamin-Kenner Gary Smith in Mauas’ Film formuliert: »Someone great who never found the right avenue for his greatness.« Er hätte zu einem früheren Zeitpunkt aus Paris fliehen können, doch er arbeitete stattdessen am »Passagen-Werk«, wohl wissend, dass dies ihn das Leben kosten konnte. Als er sich endlich auf die Flucht begab, kam zum Eigen-Sinn, zur Rückbesinnung auf sich selbst auch eine kompromisslose Risikobereitschaft hinzu, eng verknüpft mit einer realistischen Selbsteinschätzung und einer unerbittlich rationalen Selbstkontrolle. Es war eine simple Frage der Logik: Der körperlichen Hinfälligkeit zum Trotz, das wahre Risiko wäre gewesen, es nicht zu wagen. So brachte sich Benjamin mit schierer Willenskraft über diese Berge. Sein Eigen-Sinn hatte außerdem Unterstützer: Da waren der Bürgermeister ebenso wie die stillschweigenden Weinbauern von Banyuls, und da waren offenbar in einem ganz physischen Sinne Lisa Fittko sowie Henny Gurland und deren Sohn, die ihn in den anstrengendsten Passagen stützten und ihm die Tasche trugen. Schließlich bliebe da noch sein Suizid als Akt der Selbstbestimmung angesichts der drohenden Vernichtung, die allerletzte und endgültige Distanznahme zu den feindlichen Herrschern.
An der Friedhofsmauer steht, Benjamins Grab sei von 1940 bis 1945 die Nische 563 gewesen. Auch auf diesem terrassierten Friedhof kreuzen sich mehrere Erinnerungsnarrative. Eine Stele auf dem Treppenabsatz zitiert den erinnerten Abschiedsbrief an Adorno und datiert ihn auf den 25. September 1940 – in Französisch und Englisch, Katalanisch und Spanisch, aber nicht in Deutsch. Ein prominenter Gedenkstein auf der mittleren Terrasse zitiert die »Geschichtsphilosophischen Thesen« (VII): »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« Der Blumenschmuck mit Banderole ist katalanisch Gelb-Rot, und nach lokaler Sitte liegen wieder kleine Steine auf dem großen. Von hier aus blickt man über die Bucht auf die Passstraße und das Grenzhäuschen der Gestapo, la caseta dels alemanys. In unmittelbarer Nachbarschaft des Benjamin-Steins, unter Gebüsch verborgen und vernachlässigt, liegt das Grab eines Ferdinand Oberdorfer, gestorben 1944. Bemerkenswert ist auch ein Gedenkstein der Gemeinde Portbou aus dem Jahr 1998, der das Menschenrecht auf eine würdevolle Bestattung und das Kulturproblem der anonymen Massengräber von Franco-Opfern betont – ein Menschenrecht, das dem Repressionsopfer Benjamin gleichermaßen verwehrt wurde, auch wenn seine Todesumstände heute umso intensiver erinnert werden.
Nach dem Besuch des Friedhofs trete ich aus der gleißenden Sonne in das Denkmal »Passagen« von Dani Karavan. 70 Stufen führen durch einen engen Schacht steil hinab zum Meer, so blau, so rein, so unbeteiligt, und enden abrupt über einem Strudel an der Felsküste. Durch eine Glasscheibe sieht man auf den Coll dels Belitres und das Gestapo-Häuschen, man verharrt über der offenen, unerreichbaren Weite des Meeres und glaubt bis nach Marseille sehen zu können, wo es keine Schiffspassage mehr gab. Ins Glas eingraviert zwei Sätze Benjamins: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.« Zurück hinauf sind die Treppen steil wie eine Tour im Gebirge, und sobald man aufsteigt, schiebt sich eine massive Steinmauer von unten her in den Himmelsblick. Karavan macht die Ausweglosigkeit zum Thema – und zur individuellen Erfahrung für all jene, die sich auf dieses Alleinsein mit dem Stahl, dem Meer, dem Himmel und der Erinnerung einlassen. Es ist ein berührendes Denk-Mal, das die Reflexion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über Erinnerung, Exil und Flucht verbindet und die Erinnernden verändert ins Licht wieder entlässt.
»Passagen« ist ein Gedenkort für jemanden, dem die Herrschaftsverhältnisse seiner Zeit keinen Ausweg mehr boten.[30] Hier endet die Pilgerschaft. Die Widersprüchlichkeit der Quellen ist offensichtlich, und viele Fragen können nicht mehr beantwortet werden. Für mich haben sich über die Geschichte vom verfolgten Philosophen am Ende seiner physischen und mentalen Kräfte neue (Ge-)Schichten gelegt, Ungereimtheiten und Interessen, Auslassungen und Ausschmückungen. Die Person im Kern der Geschichte hat den Nimbus des Tragischen, der immer anziehend wirkt, und dazu passt der Suizid. Diese Geschichte zeigt letztlich auch, wie schwer es ist, eine Flucht zu rekonstruieren – selbst wenn ein Umfeld gebildeter und gut vernetzter Freunde ein unmittelbares Interesse daran hatte, Informationen zu erhalten und zu dokumentieren, und der Flüchtende so prominent war wie Walter Benjamin, kein Namenloser der Geschichte, sondern ein Erinnerter.
Bei dieser Art von Erinnerungstourismus bleibt auf den Tafeln (in einem ganz räumlichen Sinne) wenig Platz für Zweifel und Widersprüche. Die individuelle Erfahrung des Nachgehens fällt für jeden einzigartig aus, unwiederholbar die eigenen Gedanken beim Gehen, so Flüchtiges wie das Wetter und Dinge, die in keiner Beschreibung auftauchen. Es ist eine langsame und nachhaltige Annäherung im Gehen, die kein Fliegen, kein Überfliegen, keine bloße Lektüre von Texten bringen kann – ganz im Sinne Benjamins, der in »Chinawaren« eine Lanze für die persönliche Aneignung brach: »Die Kraft der Landstraße ist eine andere, ob einer sie geht oder im Aeroplan darüber hinfliegt. So ist auch die Kraft eines Textes eine andere, ob einer ihn liest oder abschreibt.«[31] Im Nachziehen, in der Reiteration, die den Weg (lat. iter) im Namen trägt, liegt ein Schlüssel zum Rätsel. Am Ende des Weges bleibt zumindest eine Gewissheit: Todesursache Flucht.
Anmerkungen:
[1] Gemeinde Portbou und Memorial Democràtic: <http://www.portbou.cat>, <http://memoria.gencat.cat/ca/organismes/memorial-democratic/>.
[2] In La Jonquera erinnert das Museu Memorial de l’Exili (MUME) an dieses Exil, das direkt zur Internierung in französischen Lagern entlang der Pyrenäen und an den Mittelmeerstränden führte, und an den »spanischen Holocaust« in Konzentrationslagern wie Mauthausen. Die Ausstellung überblendet ganz bewusst historische Fotos der Retirada mit Bildern gegenwärtiger Flüchtender: <http://www.museuexili.cat>. Vgl. Montserrat Roig, Els catalans als camps nazis, Barcelona 2017; Paul Preston, The Spanish Holocaust. Inquisition and Extermination in Twentieth-Century Spain, London 2012; Montse Armengou/Ricard Belis, El convoy de los 927, Barcelona 2007; dies., Ravensbrück: El infierno de las mujeres, Barcelona 2008.
[3] Manfred Flügge, Wider Willen im Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil in Sanary-sur-Mer, Berlin 2007.
[4] Eveline Hasler hat Varian Fry in ihrem Roman »Mit dem letzten Schiff« ein literarisches Denkmal gesetzt und zugleich mit ihrer Dokufiction der Vielfalt der Fluchtgeschichten über diesen Ort und diese Zeit ein weiteres, zwangsläufig teilweise spekulatives Narrativ hinzugefügt. Über den Coll dels Belitres kamen beispielsweise Heinrich Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel (sowie deren angeblich zwölf Koffer mit Gustav Mahlers Nachlass) Anfang September 1940 aus Frankreich heraus und weiter nach New York. Eveline Hasler, Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag von Varian Fry, München 2013, S. 99-109; siehe auch Flügge, Wider Willen im Paradies (Anm. 3).
[5] Momme Brodersen, Walter Benjamin. A Biography, London 1996, S. 242-252.
[6] Eveline Hasler stellt es in ihrem gut recherchierten Roman so dar, dass Lion Feuchtwanger nach seiner geglückten Flucht in einem Gespräch mit der »New York Times« zwar nicht die Fluchthelfer verriet, aber den Verlauf der Fluchtroute ausplauderte. Hasler, Mit dem letzten Schiff (Anm. 4), S. 114f.
[7] Fittko erinnerte sich in den 1980er-Jahren, dass Hirschman einer von den Starken gewesen sei: »ungefähr drei Stunden«. Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41, München 1985; zit. nach Lizenzausgabe Ravensburg 1992, S. 146. Zu Hirschman vgl. auch den Beitrag von Nikola Tietze in diesem Heft.
[8] Die Unsicherheiten gehen schon beim Datum des Grenzübertritts los, der auf den 24., 25. oder 26. September gelegt wird. Brodersen datiert den Fluchtmorgen auf den 26. und den Moment des Abschiedsbriefs auf die Nacht des 25. September. Er bezeichnet die Fluchtroute als erprobt, wobei er offenbar Ruta Líster und Coll dels Belitres verwechselt (Brodersen, Benjamin [Anm. 5], S. 252-256). Es gibt unterschiedliche Versionen, warum die anderen Beteiligten weiterreisen durften (behördlicher Sinneswandel nach Benjamins Suizid oder aufgrund geänderter Bestimmungen) und mit wessen Geld das Grab bezahlt wurde (Benjamins mitgeführtes Geld oder Henny Gurland). Die spanischen Dokumente lassen in ihrer Widersprüchlichkeit auch keine sicheren Rückschlüsse zu; vgl. unten, Anm. 28.
[9] Fittko, Pyrenäen (Anm. 7). Zu Gurland s.u., Anm. 12.
[10] »Es ist jetzt schon über vierzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau daran, mit allen Einzelheiten. Oder könnte es sein, daß ich mir das nur einbilde? […] Hier läßt mich meine Erinnerung im Stich. […] in der Erinnerung verzerrt sich wohl manchmal das Bild.« Fittko, Pyrenäen (Anm. 7), S. 133, S. 136, S. 142. Das Kapitel »Der alte Benjamin«, auf das ich in diesem Essay wiederholt Bezug nehme, umfasst in der zitierten Ausgabe die Seiten 133-148.
[11] Douglas Martin, Lisa Fittko, Who Helped Rescue Many Who Fled the Nazis, Dies at 95, in: New York Times, 21.3.2005.
[12] Der rekonstruierte Wortlaut des Abschiedsbriefes in französischer Sprache findet sich hier. Henny Gurlands Brief vom 11. Oktober 1940 über die Ereignisse rund um den Selbstmord, gesendet an ihren Cousin Arkadij Gurland, einen Mitarbeiter von Max Horkheimer, gelangte in Kopie an Benjamins Freund Scholem: Gershom Scholem, Walter Benjamin. The Story of a Friendship [1981, dt. Erstausg. 1975], New York 2003, S. 280ff.
[13] Keine Woche später findet in Barcelona am 1. Oktober 2017 unter kontroversen Bedingungen ein Referendum über die Unabhängigkeit der Region statt, eine wechselseitige Eskalation von Separatismus und Staatsautoritarismus, die nicht zuletzt mit der unzureichend aufgearbeiteten Geschichte von Repression und Verfolgung während der Franco-Diktatur zu tun hat. Spanische Katalanen sind bisweilen durchaus expansiv und nennen die französische Region Pyrénées-Occidentales »Catalunya Norte«. Das Museu Memorial de l’Exili (Anm. 2) präsentiert und konstruiert die Retirada als ein katalanisches Exil und etabliert Katalonien als eigenständige geographische Einheit auf der Landkarte dieser Transitzone. Zum Katalonien-Konflikt siehe auch Moritz Glaser, Katalonien: Region oder Nation? Der Souveränitätskonflikt in Spanien seit 1975, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018), S. 115-127.
[14] Walter Benjamin, Fundbüro. Kurzwaren aus der Einbahnstraße, Wiesbaden 2012, S. 15.
[17] <https://senderismeentren.cat/66-ruta-walter-benjamin-portbou-querroig-100-cims-banyuls-155km/>.
[18] <http://walterbenjaminportbou.cat/es/content/jornadas-portbou-2010?q=es/content/llocs-de-la-memoria>.
[20] Narciso Alba, Professor an der Universität Perpignan, gibt im Dokumentarfilm von David Mauas zu Protokoll, diesen Schäfer persönlich interviewt zu haben. Wer tötete Walter Benjamin… (Originaltitel: Quién mató a Walter Benjamin…), Dokumentarfilm, Spanien/Niederlande 2005, 53 Min., Buch: David Mauas und Joan Ripollès, Regie: David Mauas, Produktion: Milagros producciones, Televisió de Catalunya, <http://www.whokilledwalterbenjamin.com>.
[22] So Patrik von zur Mühlen im Film »Wer tötete Walter Benjamin…« (Anm. 20).
[23] Das franquistische Spanien bot ein Refugium für Nationalsozialisten: Carlos Collado Seidel, España, Refugio Nazi, Madrid 2005. Nicht zuletzt gehen die Anfänge des Tourismus in Denia auf eine Ansiedlung von SS-Leuten zurück, die teilweise hier blieben, teilweise nach Südamerika weiterreisten: Joachim Palutzki, Ein Platz an der Sonne für die SS, in: Deutschlandfunk, 23.12.2004.
[24] So Anwohner im Film »Wer tötete Walter Benjamin…« (Anm. 20).
[25] Juan Goytisolo, El crímen fue en Port Bou [Das Verbrechen geschah in Port Bou], in: El País, 5.8.1984.
[26] <http://www.danikaravan.com/portfolio-item/spain-passages-homage-to-walter-benjamin/>; Ingrid und Konrad Scheurmann (Hg.), Dani Karavan. Hommage an Walter Benjamin. Der Gedenkort »Passagen« in Portbou, Mainz 1995. Die Errichtung des Denkmals verzögerte sich durch fiskalbürokratische Kleinlichkeiten auf deutscher Seite; letztlich wurde es finanziert durch einen Zusammenschluss einiger deutscher Länder und der katalanischen Generalitat. Siehe Uwe-Karsten Heye, Die Benjamins. Eine deutsche Familie, Berlin 2015, S. 335, sowie <http://walterbenjaminportbou.cat/en/content/proces-de-construccio>.
[27] Auskunft einer Mitarbeiterin der Touristen-Information im Film »Wer tötete Walter Benjamin…« (Anm. 20).
[28] Mauas übt Quellenkritik in seinen Interviews u.a. mit den Benjamin-Forschern Narciso Alba (Professor an der Universität Perpignan), Rolf Tiedemann (zusammen mit Hermann Schweppenhäuser Herausgeber der Suhrkamp-Werkausgabe) und Gary Smith (Philosoph). Mauas führt zahlreiche Ungereimtheiten ins Feld: divergierende Sterbe- und Bestattungsdaten in unterschiedlichen Dokumenten, Rechnungen über mehrere Tage im Hotel und über vier ärztliche Visiten an verschiedenen Tagen, toxikologische (Un-)Wahrscheinlichkeiten, eine verstörende Präsenz von Falangisten, Gestapo und vermuteten Kollaborateuren im Umkreis des jüdischen und marxistischen Flüchtlings sowie ein katholischer Beerdigungsritus, den man im Spanien jener Zeit einem Selbstmörder niemals zugestanden hätte. Siehe den Film »Wer tötete Walter Benjamin…« (Anm. 20).
[29] Rolf Tiedemann hält es für wahrscheinlich, dass dieses Manuskript »Über den Begriff der Geschichte« war. Benjamin hatte auch eine Kopie in der Bibliothèque Nationale verstecken lassen. Brodersen, Benjamin (Anm. 5), S. 261.
[30] Dani Karavan sagt im Film »Wer tötete Walter Benjamin…« (Anm. 20), dass der Selbstmord Benjamins eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Kunstwerkes spielte und der Gedenkort anders ausgefallen wäre, wenn Karavan um die Unsicherheiten gewusst hätte.
[31] Benjamin, Fundbüro (Anm. 14), S. 15.