Die große Unsicherheit. Überlegungen zur Historisierung der jüngsten Weltwirtschaftskrise

Einleitung

Anmerkungen

So viel Krise war lange nicht. Spätestens die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der im Herbst 2008 astronomische Summen zur Stützung des internationalen Bankensystems mobilisiert wurden, machte offensichtlich, dass es sich diesmal nicht um einen letztlich sektoral oder regional begrenzten Einbruch der Finanzmärkte und Aktienkurse handelte wie bei der „Asienkrise“ 1997/98 oder beim Platzen der Dotcom-Blase im März 2000. Die wesentlich dramatischere öffentliche Wahrnehmung der Situation dürfte zum nicht geringen Teil die Undurchschaubarkeit jener „strukturierten Produkte“ reflektieren, die aus amerikanischen Immobilienspekulationen für jedermann zunächst eine weltumspannende Banken-, sodann eine allgemeine Wirtschaftskrise gemacht haben, deren Ende trotz der Erholungssignale der Finanzmärkte keineswegs ausgemacht ist.1

Was die jüngste Weltwirtschaftskrise von älteren Einbrüchen dieses Ausmaßes unterscheidet, ist vielleicht nicht zuletzt die Sichtbarmachung und massive Verstärkung von Unsicherheiten, die weit über die ebenso verständliche wie stets latente Furcht um Arbeitsplätze und Altersversorgungen hinausgehen. Im Hintergrund der konkreten Krisenereignisse wurden hochkomplexe internationale Verflechtungen deutlich, die das ohnehin mit gemischten Gefühlen betrachtete Phänomen Globalisierung sehr konkret spürbar und doch umso abstrakter, unbeherrschbarer erscheinen ließen. „Rettungsschirme“ und Bankenverstaatlichungen mögen der Kriseneindämmung im Einzelnen mehr oder weniger dienlich gewesen sein – insgesamt handelte es sich zunächst nicht um systematische Versuche zur Erlangung politischer Souveränität über eine aus dem Ruder gelaufene Finanzwirtschaft, sondern um Ad-hoc-Maßnahmen, die gerade durch ihre spontane (relative) Radikalität immer wieder auf die Verwundbarkeit globalisierter Ökonomien im Informationszeitalter verwiesen.

Zwar ist es keineswegs ausgeschlossen, dass sich aus den politischen Krisenreaktionen mittelfristig Elemente einer neuen Weltfinanzordnung herausschälen. Bislang aber erscheint die Erschütterung wirtschaftlichen Regelvertrauens, die Hansjörg Siegenthaler in einigen prominenten Arbeiten als zentrales Charakteristikum der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Umbrüche in den 1970er-Jahren ausgemacht hat,2 eher wie ein Auftakt zur Geschichte einer zunehmend instabilen Gegenwart denn als Signum einer abgeschlossenen historischen Phase: Kaum haben wir uns daran gewöhnt, angesichts erodierender sozialer Sicherungssysteme ein Gutteil unseres Einkommens den Märkten zu überlassen, gibt es schon wieder allen Anlass, den langfristigen Ertragsprognosen der Banken und Versicherungen (die letztlich auf simplen Extrapolationen vergangener Wachstumserfahrungen in eine unbekannte Zukunft beruhen) gründlich zu misstrauen. Solch akute Verunsicherung weckt auch in der vermeintlich abgeklärten „Risikogesellschaft“ das Verlangen nach der Stabilisierung von Zukunftserwartungen. Insofern erstaunt es nur auf den ersten Blick, wie leicht gerade kritische Beobachter aus den Ereignissen der vergangenen drei Jahre auf die dauerhafte Rückkehr keynesianisch inspirierter Wirtschaftspolitik, die Verabschiedung des neoliberal-monetaristischen Paradigmas oder grundlegende Wandlungen des Kapitalismus an sich schlossen. Man muss kein Historiker sein, um solchen Spekulationen die simple Tatsache entgegenzuhalten, dass wir eben nicht wissen, wann die gegenwärtige Krise definitiv beendet sein oder welche Folgen sie haben wird.

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Vergleiche der aktuellen Situation mit den großen Wirtschaftskrisen der Vergangenheit sind daher ebenso naheliegend wie problematisch. Für die Wirtschaftshistoriker hatten die Ereignisse seit 2007/08 nichtsdestoweniger den positiven Effekt, dass die Nachfrage nach ihrem Expertenwissen drastisch wuchs, und zwar von journalistischer Seite ebenso wie unter Historikern und sogar bei den allgemein nicht eben geschichtsversessenen Ökonomen, die sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2010 vom angeblich „bekanntesten Wirtschaftshistoriker“ Niall Ferguson gleich über ihre angebliche Unfähigkeit belehren lassen konnten, angemessen mit Fakten umzugehen.3 Insbesondere die große Weltwirtschaftskrise um 1930 mit all ihren politischen Implikationen und unterschiedlichen Wegen der Krisenüberwindung dient nicht nur den Medien regelmäßig als dramatisches Referenzobjekt; sie bietet auch für Stellungnahmen von Historikern eine ebenso ertragreiche wie komplexe Vergleichsgrundlage (und bisweilen Anlass, die Überlegenheit der eigenen Interpretation umstrittener historischer Sachverhalte auf dem Feld der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte erneut vorzuführen).4

 

„Spiegel“-Titel vom 27.4.2009

Der Erkenntniswert solch normativ-vergleichender Analysen soll hier überhaupt nicht bestritten werden. Die folgenden Texte nähern sich dem Thema indes nicht primär über die Frage, welchen Beitrag historische Erfahrungen mit Wirtschaftskrisen für die Bekämpfung aktueller Probleme leisten können; sie blicken auch nicht aus aktuell erneuertem Interesse auf die Große Depression der Zwischenkriegszeit oder andere Krisen zurück.5 Ihr Hauptziel ist vielmehr eine vorläufige Historisierung der jüngsten Ereignisse von unterschiedlichen Bezugspunkten aus, die zugleich den Nutzen unterschiedlicher analytischer Zugänge demonstrieren soll. Harald Wixforth fragt zunächst nach dem „Versagen“ von Managern, Märkten und Politik; in einem klassischen historischen Vergleich zeigt er Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutschen Banken- und Finanzkrisen 1931 und seit 2007. Während es hier eher um die Kontrolle oder Inkaufnahme von Risiken geht, nimmt Jan-Otmar Hesse mit den Ökonomen eine Profession in den Blick, deren Geschäft nicht zuletzt der theoretische und prognostische Umgang mit der prinzipiellen Unsicherheit zukünftiger Entscheidungen ist. Gegen vorschnelle Erwartungen einer Tendenzwende des ökonomischen Denkens verweist Hesse auf die lange Kontinuität der wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmendebatte, auf den regelmäßig wiederkehrenden Zusammenhang zwischen den Krisen des Fachs und den Krisen seines Gegenstands. Tim Schanetzkys Beitrag schließlich demonstriert, dass der kommunikative Umgang von Journalisten, Experten und Politikern mit der gegenwärtigen krisenbedingten Unsicherheit keine grundsätzlich neue Qualität aufweist, sondern sich bereits seit den 1970er-Jahren eingespielt hat.

Die drei Essays können nur vorläufige Bestandsaufnahmen und punktuelle Einblicke in ein Forschungsfeld bieten, dessen Grenzen bislang überhaupt noch nicht abzustecken sind; vor allem die transnationalen Dimensionen können dabei lediglich angedeutet werden. Ein Blick auf die jahrzehntelangen Debatten über die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit macht schnell klar, dass wir es auch im aktuellen Fall mit einer Überlagerung und Verflechtung von Krisensträngen und Ursachenbündeln zu tun haben, die sich mit dem geschichtswissenschaftlichen Methodenarsenal erst aus weit größerem Abstand zu den Ereignissen entwirren lassen werden. Bis dahin ist wenigstens eines sicher: Auch die Wirtschaftshistoriker werden uns nicht davor bewahren, dass die nächste Krise ganz bestimmt kommt. Aber zu ihrem Verständnis werden sie einiges beitragen können.

Anmerkungen: 

1 Die Manuskripte der Essays wurden inhaltlich um die Jahreswende 2009/10 abgeschlossen, die Einführung im März 2010.

2 Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993; ders., Das Ende des Keynesianismus als Gegenstand Keynesianischer Interpretation, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1/2002, S. 237-248.

3 Uwe Jean Heuser, Notiz aus Davos. Die Neoklassik hat abgewirtschaftet, in: ZEIT, 27.1.2010 (Zitat); „Historiker besser als Ökonomen“. Eine Diskussion über die Zukunft der Wirtschaftslehre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.2010.

4 Vgl. Albrecht Ritschl, War 2008 das neue 1931?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 59 (2009) H. 20, S. 27-32; ders., Die teure Fehldiagnose 1929, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10.2009, S. 14; Christoph Buchheim, Economic Crises in the Thirties and Today, in: intereconomics, Juli/August 2009, S. 226-230; Werner Abelshauser, Aus Wirtschaftskrisen lernen – aber wie? Krisenszenarien im Vergleich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2009), S. 467-483.

5 Vgl. die Beiträge von Johannes Bähr, Jan-Otmar Hesse, Håkan Lindgren und Werner Plumpe in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010) H. 5/6: Weltwirtschaftskrise; oder auch Institut für Bankhistorische Forschung (Hg.), Die internationale Finanzkrise – Was an ihr ist neu, was alt? Worauf muss in Zukunft geachtet werden?, Stuttgart 2009.

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