Demokratisierung des Risikos?

Ulrich Becks „Risikogesellschaft“

Anmerkungen

Ulrich Beck, Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne,
Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 1986 (u.ö.).
Die Seitenzahlen der Zitate folgen der Erstausgabe.


Selten gerinnt „ein Stück empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie“ (S. 13) aus der Feder eines Soziologen so rasch zum Schlagwort der Feuilletons wie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“. Kurz vor der Drucklegung mit einem zweiten Vorwort versehen („Aus gegebenem Anlaß“), offerierte sich der Text selbst als Kommentar zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl; Beck ordnete den Vorfall historisch am Ende einer Kette von „zwei Weltkriege[n], Auschwitz, Nagasaki, dann Harrisburg und Bhopal, nun Tschernobyl“ ein (S. 7). Rhetorisch beginnend mit einem Paukenschlag, bleibt das Zugespitzte, Provokante für seinen Stil bis zur letzten Seite kennzeichnend. Die erste Auflage war schnell verkauft, schon 1987 erschien eine zweite, mittlerweile liegt das Buch in der 19. Auflage vor. Seit 1992 ist es auf Englisch und in vielen weiteren Sprachen auf dem Markt.

Nicht nur hinsichtlich der Verkaufsziffern, sondern auch inhaltlich stach die „Risikogesellschaft“ aus der Fülle der wissenschaftlichen Neuerscheinungen heraus – bereits einer der ersten Rezensenten erhob das Buch in den Rang eines „Standardwerks der Nachkriegssoziologie“.1 In der Tat hat es Eingang gefunden in die einschlägigen Lexika und Übersichtsbände zur Sozialtheorie; in keinem enzyklopädischen Artikel über „Risiko/Risikotheorie“ fehlt ein Hinweis darauf. Dass sowohl Fachwissenschaft als auch breitere Öffentlichkeit ein sozialwissenschaftliches Buch so stark rezipieren und so intensiv diskutieren, kommt nicht häufig vor. Ulrich Beck, kein Zweifel, hat den Nerv der Zeit getroffen. Worum also geht es in diesem Buch?

Beck verknüpft drei Argumentationsstränge. Seine erste These (und in diesem Teil des Buches dürfte seine immense Popularität vor allem gründen) lautet, dass das Ziel moderner Industriegesellschaften, Not und Armut zu bekämpfen, seit den 1970er-Jahren erreicht sei. An die Stelle der Konflikte um Wohlstandsverteilung trete nunmehr der Konflikt um die Verteilung der Risiken (S. 26f.). Anders als materielle Güter ließen sich Risiken freilich nicht mehr allein einer spezifischen sozialen Gruppe zuweisen. In der „Risikogesellschaft“ würden die Grenzen sozialer Klassen und Nationalstaaten transzendiert, denn niemand sei vor den Folgen ökologischer Probleme oder nuklearer Kriege sicher: „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“, heißt es plakativ (S. 48). Da diese Risiken nichtintendierte, latente Nebenfolgen moderner Industriegesellschaften und ihrer Produktionsweisen seien, so Beck weiter, ließen sie sich nicht durch eine Steigerung der Produktion oder durch Umverteilung bekämpfen; vielmehr erforderten sie „entweder eine gezielte und massive ‚Politik der Gegeninterpretation‘ oder ein grundsätzliches Umdenken und Neuprogrammieren des geltenden Modernisierungsparadigmas“ (S. 69). Genau dies beobachtet Beck besonders unter den gut Ausgebildeten, Wohlhabenden, die sich engagierten, um die finale Katastrophe zu verhindern: die Selbstvernichtung der Menschheit. Von der Angst vor den Problemen, die die „Modernisierung im Selbstbezug“ erzeuge (S. 14), gehe eine mobilisierende Kraft aus.

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Gleichwohl: Ein verbindendes Bewusstsein, analog zum Klassenbewusstsein früherer Zeiten, vermag Beck nicht zu erkennen – nicht nur, weil die Gleichverteilung der Risiken ein gesellschaftlich segmentiertes Verständnis von Solidarität nicht mehr zulasse, sondern auch, weil längst Prozesse der Individualisierung im Gange seien, die den einzelnen zur alleinigen „Reproduktionseinheit des Sozialen“ machten (S. 119). Das Individualisierungstheorem bildet folglich den zweiten Strang der „Risikogesellschaft“: Die Menschen würden „aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Frauen und Männern – freigesetzt“ (S. 115). Krisen verschärften sich, weil sie nicht mehr gesellschaftlich oder innerhalb familiärer Sicherheitsstrukturen abgefedert, sondern jeweils individuell wahrgenommen und bewältigt werden müssten. An der wachsenden sozialen Mobilität hätten vor allem die Frauen partizipiert; sie seien es aber auch, die als erste die Konsequenzen von Krisen auf dem Arbeitsmarkt zu spüren bekämen und sich dann nicht mehr auf Ehe und Familie als sichere Versorgungsorte zurückziehen könnten, weil es diese nicht mehr gebe.2 Gleichheit der Risiken: Dies gelte auch und besonders für das Risiko der Erwerbslosigkeit, die Beck hauptsächlich als eine vorübergehende biographische Phase deutet. Auch von der Massenarbeitslosigkeit seien die Menschen „nicht mehr sozial sichtbar und kollektiv, sondern lebensphasenspezifisch […] betroffen“ (S. 144) und müssten diese individuell aushalten – als persönliches Schicksal, das sie „hinter den eigenen vier Wänden“ versteckten (S. 148).

Die Industriegesellschaft sei damit in ein Stadium der „reflexiven Modernisierung“ getreten. Diese bildet das dritte Element im Konzept der „Risikogesellschaft“, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits schlügen die Folgen der durchrationalisierten, verwissenschaftlichten, hochindustrialisierten Moderne auf die modernen Gesellschaften selbst zurück – in Form von Umweltzerstörung etwa oder nuklearer Bedrohung –, andererseits werde die Moderne selbst reflexiv, würden die unbeabsichtigten Nebenfolgen von Modernisierung nun gerade auch von den Wissenschaften mitgedacht. Aber sie erwiesen sich nicht mehr allein als „Quelle für Problemlösungen, sondern zugleich auch als Quelle für Problemursachen“ (S. 255). Mit weitreichenden Folgen: Die Wissenschaften verlören ihr Deutungsmonopol, in Gestalt von Gegenexpertisen erodierten aus den Wissenschaften selbst heraus Wahrheitsansprüche, andere Wissensarten träten gleichrangig an ihre Seite, und „in dem entstehenden Zwischenreich, wo Wissenschaft notwendiger, aber immer weniger hinreichend für die Produktion von Erkenntnis wird, [können sich] die verschiedensten Glaubensmächte neu einnisten […]: Fatalismus, Sternenkunde, Okkultismus, Ich-Verherrlichung und Ich-Preisgabe“ (S. 277). Den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften gibt Beck auf: „Fakten“ seien „nichts als Antworten auf Fragen, die anders hätten gestellt werden können. […] Ein anderer Computer, ein anderer Spezialist, ein anderes Institut – eine andere ‚Wirklichkeit‘“ (S. 271). Zudem wandelten sich in der Risikogesellschaft die Formen politischen Handelns: Dass politische Akteure nun auch außerhalb von Parlament und Regierung ihre Interessen artikulierten und durchsetzten, ist aus Becks Sicht keine Gefahr für die Demokratie, sondern geradezu Ausweis einer erfolgreichen Demokratisierung: „Es brechen Monopole auf, aber es stürzen keine Welten ein: das Rationalitätsmonopol der Wissenschaft, das Berufsmonopol der Männer, das Sexualmonopol der Ehe, das Politikmonopol der Politik.“ (S. 370) Die Risikogesellschaft sei mithin immer auch eine Chancengesellschaft.

Eine stringente, in sich geschlossene Gesellschaftstheorie bietet die „Risikogesellschaft“ nicht. Die drei Teile sind argumentativ nur lose miteinander verknüpft, die empirische Basis bleibt häufig vage, die historischen Herleitungen sind eher flächig geraten. Nicht alle Soziologen waren einverstanden, den Wahrheitsanspruch von Wissenschaft so einfach preiszugeben, und dass Beck mit seinem Politikbegriff solch zentrale Kategorien wie „Macht“ ausblendete, hielten sie für verfehlt.3 Ging Becks Diagnose nicht an den sozialen Realitäten der Gegenwart vorbei? Hartmut Esser hielt es in seiner Besprechung zumindest für „auffällig, daß insbesondere in den Abschnitten zur Individualisierung und Subjektivierung eine Lebenswelt aufscheint, der Personen und Milieus näherstehen, die auf der luxurierenden Suche nach Selbsterfüllung ‚sich selbst aus der Erde heraus(reißen), um nachzusehen, ob ihre Wurzeln auch wirklich gesund sind‘ (S. 156) oder am glitzernden See4 Bücher über die Nöte der Welt schreiben können, als die Masse derjenigen, die weniger mit medienvermittelten Risiken, sondern mit konkreten Alltagsknappheiten umzugehen haben, vor denen ideosynkratische Lebensstile und individualisierte Milieus in ihrer handlungsprägenden Kraft recht blaß aussehen“.5 In der Tat hat sich Becks Prognose einer Demokratisierung von Risiken und Chancen rückblickend nur als halbe Wahrheit erwiesen, sind doch – trotz des vielbeschworenen „Fahrstuhl-Effekts“ (S. 124f.) – zumal in Deutschland Herkunft und Bildungsvoraussetzungen prägende Faktoren sozialer Ungleichheit geblieben.

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Beck schrieb in einer Zeit, der die Gewissheiten der industriegesellschaftlichen Moderne abhandengekommen waren. Wirtschaftswachstum und steigender Wohlstand, technologischer Fortschritt und verwissenschaftlichte Politik galten seit den 1950er-Jahren weithin als Fundamente einer guten und gerechten Gesellschaft. Die Krisen der Moderne waren vermeintlich beherrschbar geworden. „Nach dem Boom“6 freilich gerieten diese Glaubenssätze ins Wanken; die großen Erzählungen von Fortschritt und Aufklärung wurden fragwürdig. Becks „Risikogesellschaft“ ist ein Reflex auf vielfältige Krisenerscheinungen, und sie ist als ein Gegenentwurf zur damals ausgerufenen „Postmoderne“ zu lesen. „Thema dieses Buches“, so das Vorwort, „ist die unscheinbare Vorsilbe ‚post‘. […] ‚Post‘ ist das Codewort für Ratlosigkeit, die sich im Modischen verfängt.“ (S. 12) Aber die Moderne sei nicht vorüber, sie sei ein „unvollendetes Projekt“ – ganz bemerkenswert, dass Beck in seinem Buch keine Lesart von Habermas vorschlägt, sondern in ihm nur den Stichwortgeber der „Neuen Unübersichtlichkeit“ sieht.7 So sensibel sich Beck auch für die Gemengelage der Krisen und Konflikte gibt, so wenig ist für ihn die Modernisierungstheorie erledigt – im Gegenteil: „Man kann zum Fortschritt zwar nein sagen, aber das ändert nichts an seinem Vollzug.“ (S. 329)

Tatsächlich ist die „Risikogesellschaft“ „entgegen erstem Anschein immer noch ein optimistischer, ein Fortschrittsentwurf“, denn „die Tretmühle der Risikogesellschaft läßt sich nur in einer Richtung bewegen: nach vorn“.8 Indem er davon ausgeht, Risiken in der „anderen Moderne“ seien beherrschbar, stellte sich Beck in die junge Tradition der Risikoforschung und Technikfolgenabschätzung, ohne freilich auf deren Basis präzise Begrifflichkeiten zu entwickeln. Ob Risiken objektiv gegeben oder sozial konstruiert sind, diskutiert er kaum;9 eine klare begriffliche Trennung von „Risiko“ und „Gefahr“ unternimmt er nicht.10 Aber gerade in seiner Unentschiedenheit dürfte ein Erfolgsmoment dieses Buches liegen: Beck möchte die Moderne grundlegend verändern – und schreibt sie doch fort; er möchte die Industriegesellschaft ins Reich der Geschichte verweisen – und belebt sie doch wieder; er möchte die Bedeutung der Wissenschaften relativieren – und behauptet für sie zugleich den Anspruch auf Deutung einer komplexen Welt. Der Soziologie, zumal der westdeutschen, hat er mit seinem Versuch einer „besser[en], ehrlicher[en], vielseitiger[en], frecher[en], mutiger[en]“ Wissenschaft (S. 272) in jedem Fall belebende Impulse gegeben. Für eine breitere Öffentlichkeit aber, die soziologische Stichworte aufgreifen möchte, scheint zu gelten: Zu Risiken und Nebenwirkungen der Moderne fragt man am besten Ulrich Beck.

Anmerkungen: 

1 Rainer Erd, Hierarchische Not – demokratischer Smog. Ulrich Beck analysiert die Ablösung der Klassengesellschaft durch die Risikogesellschaft, in: Frankfurter Rundschau, 21.10.1986.

2 Hier sind deutliche Parallelen zu den Arbeiten von Elisabeth Beck-Gernsheim erkennbar; vgl. dies., Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt. Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen, Frankfurt a.M. 1976; dies., Das halbierte Leben. Männerwelt Beruf, Frauenwelt Familie, Frankfurt a.M. 1980; sowie die später gemeinsam verfasste Studie: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990.

3 Vgl. die Besprechungen von Hans Joas, in: Soziologische Revue 11 (1988), S. 1-6, und Hartmut Esser, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987), S. 806-811.

4 Bei Beck hieß es (S. 21): „Breite Teile des Textes wurden auf einem Hügel im Freien oberhalb des Starnberger Sees unter dessen lebhafter Anteilnahme verfaßt.“

5 Esser (Anm. 3), S. 811.

6 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008 (zur „Risikogesellschaft“: S. 67ff.).

7 Zu Habermas’ Aufsatz von 1985 mit diesem Titel vgl. Cord Arendes, Auf der Suche nach dem roten Faden. Jürgen Habermas’ Lesarten der europäischen Moderne in unübersichtlichen Zeiten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 152-157.

8 Karl Otto Hondrich, „Ein unsichtbarer Gast sitzt mit am Tisch“, in: Spiegel, 18.5.1987, S. 237-242, hier S. 242.

9 Vgl. dazu bereits die Kritik von Wolfgang Bonß, Unsicherheit und Gesellschaft – Argumente für eine soziologische Risikoforschung, in: Soziale Welt 42 (1991), S. 258-277, hier S. 260; ausführlicher: Armin Nassehi, Risikogesellschaft, in: ders./Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997, S. 252-279. Zur konstruktivistischen Risikotheorie vgl. v.a. Mary Douglas/Aron Wildavsky, Risk and Culture, Berkeley 1982.

10 Anders beispielsweise Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, Wien 1989.

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