Inwiefern können Bilder aus polizeilichen Überwachungskameras als „Quellen“ zeithistorischer Forschung verstanden und genutzt werden? Und was steht einem solchen Verständnis entgegen? Einerseits liegt mit den Bildern aus Überwachungskameras, als Instrumenten der Beobachtung und der Dokumentation des Miteinanders im öffentlichen Raum, ein materialreicher Fundus aktueller Daten und Aussagen der Gesellschaft vor. Andererseits ist dieses Archiv unserer Gegenwart für Sozialwissenschaftler und Historiker weitgehend unzugänglich, da die Aufnahmen aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes strengen Regeln unterliegen. Sofern es sich um Kameras im öffentlichen Raum handelt, sind die Bilder für andere als polizeiliche Zwecke nicht verwertbar (oder nur in stark eingeschränkter Weise). Kurz und überspitzend formuliert: Die Gesellschaft bildet sich in all ihren Äußerungen ab, nur um die meisten dieser Bilder sofort und ungesehen wegzusperren – ein Umstand, der im Übrigen in auffälligem Kontrast zu unserer sonstigen visuellen Kultur steht, die darauf angelegt ist, Bilder, auch privat hergestellte, möglichst breit zirkulieren zu lassen. Im Folgenden soll die Geschichte polizeilicher Videoüberwachung in Großbritannien skizziert werden, verbunden mit einigen allgemeineren Thesen zu Überwachungsbildern am Ende des Beitrags.1
Einer der ersten dokumentierten Einsätze von Filmkameras zur polizeilichen Observation datiert auf das Jahr 1935.2 In Chesterfield nahm die Polizei mit Hilfe einer verdeckten 16mm-Kamera Personen auf, die unter Verdacht standen, auf dem zentralen Marktplatz der Stadt illegalen Wettgeschäften nachzugehen. Im anschließenden Gerichtsverfahren wurden die Bilder zur Identifikation der Angeklagten verwendet. 14 Männer wurden aufgrund der Aufnahmen verurteilt.
Die erste fest installierte (elektronische) Kamera im öffentlichen Raum wurde im August 1956 probeweise in Durham aufgestellt; sie diente der Lenkung und Kontrolle des Straßenverkehrs. Im Juni 1957 wurde aus dem Testlauf eine dauerhafte Einrichtung.3 1960 borgte sich die Londoner Polizei vom Unterhaltungs- und Elektronikkonzern EMI zwei Kameras, um während des Besuchs der thailändischen Königsfamilie die Schaulustigen am Trafalgar Square im Blick behalten zu können; im November des Jahres kamen dieselben Kameras anlässlich der Demonstrationen zum „Guy Fawkes Day“ zum Einsatz.4 Beide Tests verliefen mäßig erfolgreich, da Regen und schlechte Lichtverhältnisse die Sicht trübten. 1964 installierte die Liverpooler Polizei an mehreren Standorten der Stadt Fernsehkameras („Operation Commando“). Obgleich die verdeckte Observation im Laufe von fünf Jahren zu keiner einzigen Verhaftung führte, schrieb die Polizei der Technik eine starke präventive Wirkung zu, die hauptsächlich psychologisch begründet sei. Schon deswegen hielt man an ihrem Einsatz fest und bemühte sich, die Präsenz der Kameras (nicht jedoch ihre Anzahl oder ihre genauen Standorte) möglichst publik zu machen.5
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Nach dem Liverpooler Vorbild wurde im Dezember 1967 auch im Londoner Stadtbezirk Croydon Closed Circuit Television (CCTV) installiert.6 Vier auf Dächern angebrachte Fernsehkameras nahmen die Innenstadt, einen Parkplatz sowie eine Einkaufszone unter Beobachtung. Das System zielte vor allem auf KFZ-Aufbruch und Taschendiebstahl. Die Bilder liefen in einem Kontrollraum in der lokalen Polizeistation zusammen. Wurde eine Straftat beobachtet, konnten Polizeistreifen vor Ort über Funk dirigiert werden. Nachdem die Maßnahme öffentlich gemacht wurde, äußerte ein Leser der „Times“ die Befürchtung, in naher Zukunft könne die Polizei „jede unserer Bewegungen im öffentlichen Raum in den Dörfern und Städten unseres Landes beobachten“.7 Im Oktober 1968 wurden die Kameras in Croydon demontiert und am Londoner Grosvenor Square sowie entlang der Route einer Vietnam-Demonstration wieder aufgebaut. Monitore wurden bei Scotland Yard und im Büro des Innenministers aufgestellt; zur Beweissicherung wurden die Aufnahmen auf Band aufgezeichnet. Nach der Demonstration wurden drei der Kameras zur dauerhaften Einrichtung. Im folgenden Jahr wurden außerdem Whitehall und die Gegend um das Parlament unter Kameraüberwachung gestellt. Gegenüber der Bevölkerung gab man vor, Verkehrskontrollen zu betreiben – tatsächlich dienten die Systeme neben der Vorbeugung und Verfolgung von Straftaten dem Schutz des Londoner Regierungsbezirkes sowie der weiteren Beobachtung politischer Demonstrationen.
Obwohl die Polizei die Erfolge von CCTV stets positiv beurteilte, waren Ende der 1960er-Jahre in ganz Großbritannien lediglich etwa 70 Kameras im Polizeieinsatz, und nur 4 davon hatten die Möglichkeit zur Aufzeichnung. Zur flächendeckenden Ausbreitung der Videotechnologie führten nicht-polizeiliche Anwendungen. Seit 1967 bot das Unternehmen Photoscan Videoüberwachung zum Schutz vor Ladendiebstahl an.8 „Öffentliche“ Kameraüberwachung begann in großem Stil in öffentlich zugänglichen Räumen, die von privater Hand verwaltet wurden: in Einkaufszentren, Ladengeschäften, Tankstellen, Banken und Bürogebäuden, in öffentlichen Transportsystemen und Fußballstadien.9
Im Zeitraum von 1985 bis Anfang der 1990er-Jahre erfolgte eine begrenzte Ausbreitung. Einige wenige, kleinere Städte wie das Seebad Bournemouth setzten ihr Zentrum oder touristisch geprägte Straßen und Plätze unter Dauerbeobachtung – meist aufgrund individueller Initiativen, die teils von den Lokalverwaltungen, teils von der Privatwirtschaft ausgingen. Noch 1994 verfügten nach einer Zählung des Innenministeriums lediglich 79 Städte und Gemeinden über kleinere und technisch eingeschränkte Systeme öffentlicher Videoüberwachung.10
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Dieses Bild sollte sich bis zum Ende des Jahrzehnts grundlegend ändern. Unter dem Motto „Looking Out For You“ startete die Tory-Regierung von Premierminister John Major im Oktober 1994 die „CCTV Challenge Competition“ zum Ausbau öffentlicher Videoüberwachung in Innenstädten und Gemeindezentren. Da die Zahl der Anträge den Umfang der zur Verfügung gestellten Mittel bei weitem überstieg, wurde die Ausschreibung mehrfach wiederholt, und die Kriterien der Förderung wurden noch weiter gefasst. 1997 baute die eben gewählte Labour-Regierung dieses Programm als „CCTV Initiative“ noch aus; es erfasste nun auch Wohngebiete, Krankenhäuser, Schulen etc.11
Die genaue Anzahl privater, polizeilicher und kommerzieller Kameralinsen, die in England gegenwärtig auf Straßen, Plätze oder Gebäude im öffentlichen Raum gerichtet sind, ist unbekannt. Manche Schätzungen gehen von mehr als vier Millionen aus. London soll von einer halben Million Kameras überwacht werden, was einem Verhältnis von 14 Einwohnern pro Kamera entsprechen würde. Alle britischen Städte mit einer Bevölkerung von mehr als 500.000 Einwohnern lassen ihr Zentrum durch CCTV überwachen, aber auch die meisten kleineren Städte haben sich die Technologie bereits zugelegt.12
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Eine optisch-elektronische Überwachung besteht im Wesentlichen aus Kamera (Bildaufnahme), Monitor (Bildwiedergabe) und Videorekorder (Bildaufzeichnung). Als Kontrolltechnik kennt Videoüberwachung zwei grundsätzliche Modi: Im live monitoring wird CCTV als Beobachtungsinstrument (mit oder ohne Aufzeichnung) eingesetzt. Alternativ können Systeme auch „nur“ aufzeichnen; im Bedarfsfall wird dann nachträglich auf die Bildspeicher zurückgegriffen, um ein Ereignis zu analysieren oder beteiligte Personen zu identifizieren. Beim live monitoring kann eine umgehende Sanktion von Normverletzungen oder Straftaten erfolgen; die Aufzeichnungen dienen vor allem der späteren Strafverfolgung und der Sicherung von Beweismitteln.
Zur Bildaufzeichnung stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung.13 Analoge Magnetbandaufzeichnung mit Videorekordern ist in vielen Kontrollräumen immer noch der technische Standard. Daneben setzen sich zunehmend digitale Verfahren der Bildaufzeichnung durch (in elektronischen, optischen, magneto-optischen Speichermedien). Diese versprechen Vorteile unter anderem in der Alterungsbeständigkeit, der Überspielbarkeit, der Bildverbesserung, -auswertung und -verarbeitung. Daran knüpfen sich Erwartungen an eine Verbesserung der Informationsauswertung, des Datenschutzes oder der Archivierung. Ein entscheidender Vorteil der Digitalisierung besteht zum Beispiel in der Zeitersparnis im Kontrollraum. Bei analoger Aufzeichnung machen Anforderungen des Datenschutzes und der Archivierung ein umfangreiches tape management erforderlich. Dieses umfasst unter anderem das regelmäßige Auswechseln, Beschriften und Ablegen der Bänder sowie deren periodische Löschung (indem die Bänder „blank“ überschrieben werden) nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Speicherfrist. Studien zufolge nimmt das Management analoger Videobänder im Alltag eines control room operators zwischen 20 und 35 Prozent einer Arbeitsschicht in Anspruch.14 Liegen Aufzeichnungen digital vor, werden solche Pflichten erheblich vereinfacht.
Andererseits bringt eine Digitalisierung der Videobeobachtung auch Nachteile mit sich. Obgleich die Kosten für (digitale) Speichermedien erheblich gesunken sind, sind in den meisten Kontrollzentren weiterhin Verfahren der Informationskomprimierung notwendig. Immerhin produziert ein mittelgroßes städtisches System mit 80 Kameras pro Tag geschätzte 172 Millionen Bilder.15 Um Speicherplatz einzusparen, wird time lapse recording eingesetzt (in Intervallen werden Einzelbilder aufgezeichnet) und/oder multiplexing (Bilder mehrerer Kameras werden auf einen Monitor umgeleitet und im Splitscreen-Verfahren aufgezeichnet). Mit Hilfe von Algorithmen werden Bilddaten komprimiert.16 All diesen Verfahren ist gemein, dass sie Information aussparen und damit Qualitätsverluste in Kauf nehmen.
Darüber hinaus wird digitalen Überwachungsbildern nur eingeschränktes Vertrauen entgegengebracht; sie werden, mit einem Ausdruck des Medientheoretikers Peter Lunenfeld, wie alle digitalen Bilder „dubitativ“, d.h. grundsätzlich anzweifelbar.17 Dem drohenden Evidenzverlust wird durch einen Katalog von Maßnahmen der erneuten Beglaubigung und Bekräftigung begegnet, wie sie im Bericht der britischen Regierung mit dem Titel „Digital Images as Evidence“ empfohlen werden.18
Über digitale Aufnahme und Speicherung hinaus gehen Techniken der automatisierten Bildauswertung (automatic image recognition). Liegen die Bilddaten digital vor, sollen die gewaltigen Mengen visueller Informationen mit Hilfe von Rechnern und Algorithmen effizient und möglichst in Echtzeit ausgewertet werden. Im Fokus der Entwicklung stehen dabei vor allem die automatisierte Gesichtserkennung sowie Verfahren der Bewegungsanalyse. Allerdings bestehen gegenwärtig noch erhebliche Zweifel an der Praxistauglichkeit solcher biometrischer Erkennungssysteme.19
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3. Überwachungsbilder außerhalb des „closed circuit“
Überwachungsbilder entstehen in Kontrollräumen und verbleiben in der Regel dort. Sie werden entsprechend den Datenschutzvorschriften und den Empfehlungen des Code of Practice archiviert und im Normalfall nach Ablauf einer vorbestimmten Speicherfrist wieder gelöscht.20 Allerdings gibt es mindestens drei Fälle, in denen die Bilder bestimmten Personengruppen zugänglich gemacht werden:21 Falls eine Kamera strafrechtlich relevante Vorgänge aufgezeichnet hat, werden diese Aufnahmen den Ermittlungsbehörden zur Auswertung übergeben. Eine weitere Möglichkeit, Überwachungsbilder aus dem Archiv herauszulösen, besteht im so genannten subject access request.22 Gemeint ist das auf das Datenschutzgesetz von 1998 zurückgehende Recht, von Behörden und privaten Institutionen die Herausgabe persönlich zurechenbarer Daten zu verlangen. Da auch Überwachungsbilder zu den persönlichen Daten zählen, ergibt sich daraus das Recht, Bildaufnahmen der eigenen Person anzufordern, sollte man von einer Kamera der entsprechenden Behörde oder Institution gefilmt worden sein. (Das deutsche Datenschutzgesetz kennt kein entsprechendes Recht.) Ein dritter Weg, auf dem Überwachungsbilder den closed circuit verlassen – und in diesem Fall zumindest teilweise auch für Forschungszwecke zugänglich werden –, sind mediale Ereignisse, die von Überwachungskameras beobachtet worden sind. Dass und in welcher Weise Medien Überwachungsbilder verarbeiten, soll am folgenden Beispiel kurz erläutert werden.
Eine Frau betritt durch eine Drehtür die Lobby eines Hotels: Diana Frances Spencer, von den Medien meist kurz „Lady Di“ oder „Diana“ genannt. Das Hotel gehört dem Vater ihres Begleiters, der nur wenige Sekunden nach ihr eintreten wird. Ein Page hilft ihr durch die Tür. Es ist 21.50 Uhr und 35 Sekunden, der Abend des 30. August 1997. Diese unscharfe und in ungünstiger Perspektive entstandene Aufnahme einer Frau, die ihr prominentes Leben lang von den bestbezahlten Fotografen der Welt abgelichtet wurde, wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn sie nicht wenige Stunden vor ihrem Unfalltod entstanden wäre – gleichsam ein Abschiedsfoto, aufgenommen von einer Kamera des Sicherheitssystems des Pariser Hotel Ritz. Der „Spiegel“ druckte dieses Bild (mindestens) zweimal ab (siehe Abbildungen): zunächst 1997 im Rahmen einer Reportage, die den Tag, die Umstände und die unmittelbaren Folgen des tödlichen Unfalls rekonstruierte; zwei Jahre später in einem ganz anderem Kontext – als Illustration einer Titelgeschichte zum Ende des Privaten, zu Szenarien einer total überwachten und kontrollierten Gesellschaft.
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Überwachungsbilder von Lady Diana als Illustrationen im „Spiegel“,
8.9.1997 bzw. 5.7.1999
Beide Male ist das Bild Teil einer Serie, die eine zeitliche Abfolge und somit ein rudimentäres Narrativ konstruiert: Erst betritt Diana Spencer die Lobby, dann ihr Begleiter Dodi Al-Fayed. So entsteht ein dramatischer Effekt; in festgefrorenen Einzelbildern erscheint eine Geschichte, deren tödlichen Ausgang wir bereits kennen. Vergleicht man den Einsatz der Drehtür-Aufnahmen in den beiden „Spiegel“-Berichten, fällt zuerst eine Unstimmigkeit auf. 1997 druckte das Magazin insgesamt vier Bilder aus den Hotel-Kameras ab – drei nebeneinander auf einer linken Seite, eines (hier nicht wiedergegeben) auf der folgenden rechten Seite, jeweils am unteren Rand, so dass Reihung und Bezug aufeinander erkennbar bleiben. Jedes Bild ist mit einer eigenen Kommentarzeile versehen: „Diana beim Betreten des Hotels Ritz (21.50 Uhr)“, „Dodi beim Betreten des Hotels Ritz (21.50 Uhr)“, „Fahrer Paul, Diana, Dodi im Ritz (0.19 Uhr)“, sowie „Diana beim Verlassen des Hotels Ritz (0.19 Uhr)“.23 Nur auf dem ersten Bild ist Dianas Gesicht deutlich zu erkennen. Das erklärt wohl die höhere mediale Attraktivität der Drehtür-Szene. In der Reportage von 1999 besteht die Reihe aus drei Bildern, die alle den Hoteleingang zeigen. Die gemeinsame Bildzeile darunter behauptet fälschlich: „Bilder einer Überwachungskamera: Prinzessin Diana und Dodi Al-Fayed beim Verlassen des Hotels ‚Ritz‘ kurz vor ihrem Tod“.24 Hier war der Wunsch, eine „letzte“, also im Wortsinn „endgültige“ oder „definitive“ Aufnahme von Diana vorliegen zu haben, offenbar stärker als die journalistische Sorgfaltspflicht. Die falsche Bildlegende im „Spiegel“ ist ein Beispiel für die enge Verknüpfung von Überwachungsbildern mit Erzählungen vom baldigen Tod der abgebildeten Subjekte, die darauf noch nicht tot und doch bereits gestorben sind.25
In der Welt der Boulevard-Medien wird ein vorzeitiger Tod gern mit dem Gnadengeschenk ewiger Schönheit und Jugend gleichgesetzt. Insofern hat sich Diana in die „media necrocracy“ eingereiht – in die Galerie derjenigen, die, wie es heißt, unsterblich wurden, weil ihr Abbild, anders als das des Dorian Gray, niemals altert.26 Die Aufnahmen der sterbenden Diana Spencer im zerborstenen Mercedes durften schon aus diesem Grund (anfangs) nicht veröffentlicht werden. Von den vielen Büchern, die sich ausschließlich mit dem letzten Tag und dem tödlichen Unfall der ehemaligen Princess of Wales befassen, verzichtet kaum eines auf die Bilder aus den Überwachungskameras des Ritz. Die grobkörnigen Aufnahmen verströmen eine Aura des Konspirativen und der Geheimdiensttätigkeit. Offensichtlich gibt es einen starken Wunsch danach, die Wahrheit über Dianas Ende ausgerechnet in einem Bild zu finden, das nicht aus der Kamera eines Boulevardfotografen stammt – denn die Fotografen seien, so der oft erhobene Vorwurf, am Unfall schuld gewesen oder hätten ihn durch ihr Verhalten herbeigeführt. In diesem Fall hätte ausgerechnet der Wunsch nach einer Fotografie den Tod Dianas verursacht.
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Abschließend drei Thesen zum Status des Überwachungsbildes als Dokument:
• Überwachungsbilder sind stets imaginär überformt. Sie erzeugen die Vorstellung des permanenten Überwacht-Werdens und erhalten diese durch ständige Erinnerung der beobachteten Subjekte aufrecht. Die Leichtigkeit, mit der Videoüberwachung und Populärkultur vielfältige Allianzen eingehen, darf als Indiz für diese These gelten. Daher ist es unerlässlich, nicht nur „handfeste“ Praktiken zu untersuchen, sondern ebenso symbolische Repräsentationen, kulturelle Vereinnahmungen, ästhetische und rhetorische Strategien usf., will man zu einem historischen und kulturwissenschaftlichen Verständnis von Videoüberwachung gelangen.
• Überwachungsbilder zeugen von einem Geschehen, das sich nur zufällig vor einer Kamera abgespielt hat. Man muss ihre grundlegende Kontingenz in Rechnung stellen. In der Videoüberwachung ist das fotografische „Jetzt“, der besondere Moment aufgehoben. Im Unterschied zu den meisten sonstigen Praktiken der Aufzeichnung, die grundsätzlich selektiv vorgehen – also erst dann einsetzen, wenn es etwas „Besonderes“ aufzuzeichnen gibt –, ist Videoüberwachung im Hinblick auf Zeitpunkt und Ort der Aufnahme völlig indifferent. Es wird immer aufgezeichnet, egal, ob „etwas“ geschieht oder nicht. Mit Videoüberwachung ist „das Ende der Nicht-Aufnahme“ eingeläutet.27 Sie will prinzipiell die permanente, entgrenzte Bildübertragung von allen Orten und zu jeder Zeit. Ihre Bilder sind nicht für Menschenaugen gedacht, sie müssen nicht einmal angesehen werden, und folglich werden die meisten Bilder auch unbesehen gelöscht. Insofern müssen Überwachungsbilder weniger als „Dokumente“ verstanden werden, die den Anlass und Zweck ihrer Entstehung und Überlieferung gewissermaßen mit sich führen, sondern als Spuren, die Kunde geben von einem Ereignis, das der Aufnahme selbst völlig äußerlich bleibt.
• Mit der Umstellung von analoger zu digitaler Bildaufnahme, Bildverarbeitung und Bildspeicherung verliert das Überwachungsbild seinen Status als primäre visuelle Quelle. Videosensorik und Technologien automatisierter Bilderkennung benötigen keine Visualisierung; sie interpretieren das Aufgenommene auf der Ebene der rohen Daten durch Verfahren der Mustererkennung. Menschliche Beobachter müssen die Ergebnisse der von Algorithmen vorgenommenen Bildanalyse höchstens noch am Monitor abgleichen, also nachträglich bewerten, ob die zuerst von einem Computer vorgenommene Einschätzung einer als gefährlich eingestuften Lage korrekt ist oder ob die Identifizierung einer Person tatsächlich zum Eingreifen nötigt: Hat der Rechner richtigerweise einen Banküberfall oder einen gesuchten Kriminellen erkannt? Noch ist allerdings nicht abzusehen, ob sich Technologien automatisierter Bilderkennung im Praxiseinsatz als robust genug erweisen, um flächendeckend die Erkennungsleistung menschlicher Beobachter ersetzen oder sie zumindest funktional in die zweite Reihe verweisen zu können.
Überwachungsbilder sind ein wesentlicher Teil der Geschichte von Bildwelten und Bildmedien im 20. und 21. Jahrhundert. Die „Sicherheitsgesellschaft“ kommt nicht ohne sie aus, aber das Interesse an ihnen sollte nicht nur ihren (kriminalpräventiven, gesellschaftspolitischen oder sicherheitstechnologischen) Funktionen gelten, sondern ebenso dem besonderen ästhetischen Status dieser Bilder sowie ihrem Anspruch auf „Authentizität“ und „Echtheit“ – also weniger ihrem möglichen Dokumentations- und Quellenwert an sich als ihren Verwendungs- und Beglaubigungszwecken. Wie Bilder „Evidenz“ generieren, ist seit einigen Jahren eine zentrale Frage kultur- und bildwissenschaftlicher Konferenzen und Publikationen.28 Allerdings entnehmen diese ihre Beispiele überwiegend aus der Praxis naturwissenschaftlicher Labors und Experimente oder aus dem Gebiet computergenerierter Visualisierungen, während Ästhetik, Produktion und Rezeption von Überwachungsbildern auf der Forschungsagenda von Bild- und Kulturwissenschaftlern bislang weniger berücksichtigt worden sind. Es bleibt also noch genug zu tun.
1 Ausführlicher dargestellt sind meine Überlegungen zum englischen Beispiel in: Dietmar Kammerer, Bilder der Überwachung, Frankfurt a.M. 2008, S. 35-46. Für die zeitgleiche Entwicklung in Deutschland vgl. ders., Die Anfänge von Videoüberwachung in Deutschland, in: Kriminologisches Journal 40 (2008), S. 257-268.
2 Chris Williams/James Patterson/James Taylor, Police Filming English Streets in 1935: The Limits of Mediated Identification, in: Surveillance & Society 6 (2009), S. 3-9.
3 Chris Williams, Police Surveillance and the Emergence of CCTV in the 1960s, in: Crime Prevention and Community Safety: An International Journal 5 (2003) H. 3, S. 27-37, hier S. 30; [o. Verf.,] Police to Use Television, in: Times, 28.6.1957.
4 Williams, Police Surveillance (Anm. 3), S. 30.
5 Ebd., S. 31.
6 [O. Verf.,] TV cameras help London fight against crime, in: Times, 4.1.1968.
7 [O. Verf.,] Police and Television, in: Times, 19.1.1968 (meine Übersetzung).
8 Jade Moran, A Brief Chronology of Photographic and Video Surveillance, in: Clive Norris/Jade Moran/Gary Armstrong (Hg.), Surveillance, Closed Circuit Television and Social Control, Aldershot 1999, S. 277-287, hier S. 279.
9 Clive Norris/Gary Armstrong, The Maximum Surveillance Society, Oxford 1999, S. 51ff.
10 Ebd., S. 53f.
11 Ebd., S. 36f.; Eric Töpfer, Videoüberwachung im Neoliberalismus, in: Volker Eick/Jens Sambale/Eric Töpfer (Hg.), Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik, Bielefeld 2007, S. 193-226, hier S. 206.
12 Zum Nachweis dieser Zahlen und für deren kritische Einschätzung vgl. Kammerer, Bilder der Überwachung (Anm. 1), S. 45 Anm. 33 und 34.
13 Dirk Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, Stuttgart 2002, S. 6-16.
14 Martin Gill u.a., Control Room Operation: Findings from Control Room Observations, London 2005 (Home Office Online Report 14/05), S. 35f., online unter URL: http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/+/rds.homeoffice.gov.uk/rds/pdfs05/rdsolr1405.pdf.
15 Clive Norris, Vom Persönlichen zum Digitalen. Videoüberwachung, das Panopticon und die technologische Verbindung von Verdacht und gesellschaftlicher Kontrolle, in: Leon Hempel/Jörg Metelmann (Hg.), Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M. 2005, S. 360-401, hier S. 379.
16 Neil Cohen/Ken MacLennan-Brown, Digital Imaging Procedure v2.0, St. Albans 2007 (Police Scientific Development Branch, Publication No. 58/07), S. 6, online unter URL: https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/378451/DIP_2.1_16-Apr-08_v2.3__Web_2835.pdf.
17 Peter Lunenfeld, Das dubitative Bild, in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2002, S. 158-177.
18 House of Lords Select Committee on Science and Technology, Fifth Report: Digital Images as Evidence, London 1998, online unter URL: http://www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/ld199798/ldselect/ldsctech/064v/st0501.htm; Kammerer, Bilder der Überwachung (Anm. 1), S. 182-185.
19 Kammerer, Bilder der Überwachung (Anm. 1), S. 205-209.
20 Vgl. das Dokument „CCTV Code of Practice“ des britischen Datenschutzbeauftragten (2008): http://www.belb.org.uk/downloads/foi_cctv_code_of_practice.pdf.
21 Unterschieden werden hier die legalen Möglichkeiten. Aktivistische Gegner von Videoüberwachung haben darüber hinaus Techniken des camera hacking entwickelt, um an die Bilder heranzukommen. Vgl. Kammerer, Bilder der Überwachung (Anm. 1), S. 327ff.
22 Vgl. das Dokument „How to Access your Information“ des britischen Datenschutzbeauftragten (31.7.2007): ... [Anm. der Red.: Link ist nicht mehr aktuell].
23 Alexander Smoltczyk, „Sie war so schön wie immer“, in: Spiegel, 8.9.1997, S. 225ff., hier S. 226f.
24 Uwe Buse/Cordt Schnibben, Der nackte Untertan, in: Spiegel, 5.7.1999, S. 112-122, hier S. 121 (meine Hervorhebung).
25 Ausführlich zu „Menschen unter dem Datum ihres Todes“: Kammerer, Bilder der Überwachung (Anm. 1), S. 314-318.
26 Nicholas Mirzoeff, An Introduction to Visual Culture, London 1999, S. 231.
27 Winfried Pauleit, Filmwissenschaft und Videoüberwachung. Eine Analogie in vier Einstellungen, in: Ralf Adelmann/Hilde Hoffmann/Rolf F. Nohr (Hg.), REC – Video als mediales Phänomen, Weimar 2002, S. 200-212, hier S. 201.
28 Vgl. exemplarisch: Rolf Nohr, Evidenz – „das sieht man doch!“, Münster 2004; Michael Cuntz u.a. (Hg.), Die Listen der Evidenz, Köln 2006; Sibylle Peters/Martin Jörg Schäfer (Hg.), „Intellektuelle Anschauung“. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006; Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3 (2009) H. 1: Sehnsucht nach Evidenz. Siehe auch den Programmschwerpunkt „Kulturen der Evidenz“ am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Wien): http://alt.ifk.ac.at/about__research_foci--7.html.