1/2024-2025: Sozial-/Kulturanthropologie und Zeitgeschichte

Aufsätze | Articles

Der Nachlass des deutschen Kunstethnologen und Sammlers Hans Himmelheber (1908–2003) kam aus dem Privatbesitz seiner Familie an das Museum Rietberg Zürich. Ein Forschungsprojekt in Kooperation mit dem Historischen Seminar der Universität Zürich begleitete die Archivwerdung von Himmelhebers Dokumenten, Filmen, Fotos und Objekten vor allem aus der heutigen Côte d’Ivoire und der Demokratischen Republik Kongo. Die darin reflektierte Wissensproduktion zur Kunst Afrikas wurde multiperspektivisch und translokal untersucht, etwa mit Restudies. Weil Himmelhebers Theorien am Beginn eines Paradigmenwechsels hinsichtlich der materiellen Kultur Afrikas standen, weg von einer als anonym wahrgenommenen »tribalen« Handwerkskunst hin zur individuellen Künstlerpersönlichkeit, spielten auch zeitgenössische und heutige künstlerische Positionen eine wichtige Rolle im Projekt. Das Archiv wurde zum Feld, das es in unterschiedlicher Weise zu erkunden galt. Unsere Reisen in dieses »Feld« sind nun wiederum Bestandteile des von den Nachkommen übergebenen und durch die Bearbeitung (auch digital) neu geschaffenen Archivs Himmelheber.

 *       *       *
Set in Motion.
Researching the Archives of Art Historian and Anthropologist Hans Himmelheber

The private archives of the German art anthropologist and collector Hans Himmelheber (1908–2003) were transferred from the ownership of his family to the Museum Rietberg in Zurich. A research project in collaboration with the Department of History at the University of Zurich accompanied the archiving of Himmelheberʼs documents, films, photos and objects, which mainly come from what is now Ivory Coast and the Democratic Republic of Congo. The production of knowledge about African art reflected in these rich archives was examined from different perspectives and in different places, for example with the help of restudies. Since Himmelheberʼs theories stand at the beginning of a paradigm shift in the study of the material culture of Africa, away from anonymous ›tribal‹ craftsmanship and towards individual artistic personality (Künstlerpersönlichkeit), contemporary and current artistic positions played an important role in the project. The archive became a field that could be explored in different ways. Our journeys into this ›field‹ are now part of a new Himmelheber archive, which has been recreated through research, restudies, artistic interventions and (digital) processing.

In this article, we provide a new approach to circular economy in architecture based on the juxtaposition of historical sources and ethnographic data. We bring into dialogue historical practices of rubble reuse in Warsaw after the Second World War with contemporary efforts to salvage components in buildings slated for demolition in Vienna. The analysis of archival and published documents, construction and architecture magazines, and visual sources is combined with a participant observation in a start-up company in Vienna. Our research methods have led us to respond critically to the solutions presented by the current debates on the reuse of construction and demolition waste. For past and present reuse practices, we uncover and scrutinise a complex social and bodily reality often obscured by the images of seamless and endless circulation of construction materials promoted by policymakers, industry leaders, architecture professionals, and positivist academic researchers.

 *       *       *
Kreislaufwirtschaft als Mensch-Material-Beziehung.
Die Wiederverwendung von Baumaterialien anhand historischer und ethnographischer Methoden verstehen

In diesem Aufsatz entwickeln wir eine neue Herangehensweise an Kreislaufwirtschaft in der Architektur, die auf der Gegenüberstellung von historischen Quellen und ethnographischen Zugängen beruht. Wir setzen Praktiken der Wiederverwendung von Bauschutt in Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Dialog mit heutigen Bemühungen zur Rettung von Bauteilen in abbruchreifen Gebäuden in Wien. Die Analyse von archivierten und veröffentlichten Dokumenten, Bau- und Architekturzeitschriften und visuellen Quellen wird mit teilnehmender Beobachtung in einem Start-up-Unternehmen in Wien kombiniert. Mit unseren Forschungsmethoden reagieren wir kritisch auf die Lösungen, die in den aktuellen Debatten über die Wiederverwendung von Bau- und Abbruchabfällen präsentiert werden. Für vergangene und gegenwärtige Praktiken der Wiederverwendung zeigen wir eine komplexe soziale und körperliche Realität auf. Diese steht im Kontrast zu Bildern eines nahtlosen und endlosen Kreislaufs von Baumaterialien, wie er von politischen Entscheidungs­träger:in­nen, Branchen­führer:innen, Architekturexpert:innen und positivistischen Wissen­schaftler:innen propagiert wird.

This article explores Swiss-Chinese economic entanglements since the 1970s. First, we show how China opened its economy to foreign direct investment (FDI), with Switzerland as a pioneer for Joint Ventures (JVs) in China (1970s–2000s). Second, we outline how Chinese technologies spread abroad, focusing on Chinese telecommunication companies in Switzerland (2000s–2020s). Representatives from the Swiss companies envisioned immense market opportunities in China. Their Chinese counterparts saw JVs as an opportunity to integrate into the world’s production system and acquire technological know-how as well as foreign currency. Building on and further developing this knowledge has enabled Chinese companies such as Huawei to become global market leaders. Technologies and investments are now making their way back to Europe, although not without contestation. In order to better understand Sino-Swiss and other global economic interactions, we need to creatively combine historical and ethnographic methods. This approach highlights the motivations and debates at both the giving and receiving ends, and how they change over time, thereby challenging one-sided narratives of Western and Chinese global capital flows and technology acquisitions.

 *       *       *
Schweizerisch-chinesische Verflechtungen.
Historische und anthropologische Perspektiven auf transnationale wirtschaftliche Kooperationen

Dieser Aufsatz untersucht die schweizerisch-chinesischen Wirtschaftsverflechtungen seit den 1970er-Jahren. Erstens wird gezeigt, wie China seinen Markt für ausländische Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) öffnete und die Schweiz als Vorreiterin für Joint Ventures (JVs) in China agierte (1970er- bis 2000er-Jahre). Zweitens wird skizziert, wie sich chinesische Technologien im Ausland verbreiteten, mit einem Fokus auf chinesische Telekommunikationsunternehmen in der Schweiz (2000er- bis 2020er-Jahre). Die Vertreter der Schweizer Unternehmen versprachen sich in China einen immensen Absatzmarkt. Die chinesischen Unternehmen wiederum sahen in JVs eine Möglichkeit, sich in das globale Produktionssystem zu integrieren sowie technisches Know-how und Devisen zu erwerben. Der Aufbau und die Weiterentwicklung dieses Wissens ermöglichte es chinesischen Unternehmen wie Huawei, zu globalen Marktführern aufzusteigen. Technologien und Investitionen finden heute ihren Weg zurück nach Europa, jedoch nicht ohne Kontroversen. Um chinesisch-schweizerische und andere globale wirtschaftliche Interaktionen besser zu verstehen, ist es notwendig, historische und ethnographische Methoden kreativ zu kombinieren. Ein solcher Ansatz beleuchtet die Motivationen und Debatten auf beiden Seiten und zeigt, wie sich diese im Laufe der Zeit verändern. Gleichzeitig stellt er einseitige Narrative über westliche und chinesische globale Kapitalflüsse und Technologietransfers in Frage.

Crowdfunding trat um 2010 als neue Praxis in Erscheinung. Unsere Fallstudie zum Schweizer Crowdfunding-Anbieter wemakeit verwendet die Plattform als Seismograph, um mediale, politisch-ökonomische, semantische, rechtliche, kulturelle und in einem weiteren Sinne gesellschaftliche Verschiebungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeithistorisch und empirisch-kulturwissenschaftlich zu diskutieren. Methodisch verbindet der Beitrag Quellenarbeit und halbnarrative Interviews unter anderem mit den Gründer:innen von wemakeit. Crowdfunding als soziokulturelle Praxis, die auf einer technischen Infrastruktur basiert, wird im Hinblick auf die mitkonstituierende Wissensproduktion kontextualisiert sowie an konkrete Akteur:innen, ihre Biographien und den lokalen Entstehungszusammenhang geknüpft. Zugleich aber sind es, so die These, gegenstandsbestimmende Grenzziehungen (semantisch, juristisch, politisch), welche die Spezifik von Crowdfunding-Plattformen prägen. Abschließend werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen einer zunehmenden Vermarktlichung von Kultur eingeordnet.

 *       *       *
Click/Gift. Crowdfunding as a Socio-cultural Practice

Crowdfunding emerged around 2010 as a new socio-cultural practice based on a technical infrastructure. Our case study of the Swiss crowdfunding company wemakeit reads the platform as a seismograph for broader shifts. From a contemporary history and empirical cultural studies perspective, we discuss transformations in media, politics, economy, semantics, law and the wider cultural and social context at the beginning of the 21st century. Methodologically, the article combines source work and semi-narrative interviews with the founders, among others, of wemakeit. This article contextualises the socio-cultural practice of crowdfunding with the knowledge production that accompanies and co-constitutes the phenomenon, and links it to specific actors, their biographies and the local context. At the same time, we argue that a number of demarcations (semantic, legal, political) determine the contours of the phenomenon. Finally, the results are placed in the historical context of an increasing marketisation of culture.

Debatte | Debate

Besprechungen | Reviews

Websites

  • Roland Meyer

    Virtuelle Resituierung: Das Projekt »Digital Benin«

Neu gelesen

  • Louis Widmer

    Grenzgänger des Wissens

    Zur Historizität und Aktualität von Hans Peter Duerrs »Traumzeit« (1978)

  • Timo Luks

    Historische Anthropologie des globalen Kapitalismus

    Sidney W. Mintz und die »Kulturgeschichte des Zuckers« (1985/87)

zu Rezensionen bei »H-Soz-Kult/Zeitgeschichte«

Neu

bei »Docupedia-Zeitgeschichte«, »Visual History« und »zeitgeschichte | online«

Extra: Besprechungen | Reviews

Neu gelesen

  • Stefanie Coché

    Demokraten und Gläubige?

    Leistungen und Grenzen von Richard Hofstadters »Anti-intellectualism in American Life« (1963)