Wir können auch anders!

Bilder von Kitsch und Tod aus Moskau, Berlin und Entenhausen

Berlin - Moskau/Moskau - Berlin 1950-2000. Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin, 28. September 2003 bis 5. Januar 2004, Veranstalter: Berliner Festspiele, Staatliche Museen zu Berlin, Kulturstiftung des Bundes, Kulturministerium der Russischen Föderation, Stas-Namin-Zentrum Moskau. Kataloge: Pawel Choroschilow/Jürgen Harten/Joachim Sartorius/Peter-Klaus Schuster (Hg.), Berlin - Moskau/Moskau - Berlin 1950-2000, 2 Bde. („Kunst“ und „Chronik“), Berlin 2003. Alle Abbildungen aus den Katalogbänden.

Alexander Kossolapow, Mickey-Lenin, 2002
Abb. 1: Alexander Kossolapow,
Mickey-Lenin, 2002

Mit grandiosem Erfolg war 1995/96 am gleichen Ort die Vorgängerausstellung „Berlin - Moskau 1900-1950“ gezeigt worden. Diesen Begeisterungsvorschuss haben die Veranstalter nun entschlossen aufs Spiel gesetzt. Die Fortsetzung erinnert daran, was damals so faszinierte: Als eine Art Zeitmaschine machte „Berlin - Moskau 1900-1950“ den Besuchern die politischen und ästhetischen (Alb-)Träume der ersten Jahrhunderthälfte sinnlich-intellektuell erfahrbar. Anstatt aber auch unsere posttotalitären Nachkriegszivilisationen durch ein solches Prisma zu betrachten, präsentierte man im Herbst 2003 eine umfangreiche Zusammenstellung moderner Kunst aus sechs Jahrzehnten.Über Bord geworfen wurde alles andere, was das öffentliche Leben dieser Zeit geprägt hat: Architektur, Kino, Radio, Theater, Presse, Fernsehen, Denk- und Mahnmäler, Freizeitparks, Werbung, Wohnkultur, Sport und Städtebau. Übrig blieben rund 500 Kunstwerke, von denen die meisten zu den Städten Moskau und Berlin in keiner erkennbaren Beziehung stehen.

Wie die tonangebenden Kuratoren Pawel Choroschilow und Jürgen Harten auf der Eröffnungspressekonferenz durchblicken ließen, hatten äußere Gründe diesen Etikettenschwindel erzwungen: Unter einer anderen Bezeichnung wäre es schwergefallen, den „politischen Auftrag“ und die Finanzierung zu erhalten. Da die Saison 2003/04 schon als Datum feststand (St. Petersburg feiert Geburtstag, Russland ist Themenland der Frankfurter Buchmesse), hätten die verbleibenden zwei Jahre Vorbereitungszeit den Berlinern angeblich nicht mehr ausgereicht, ihre Ausstellungsbeiträge aus verschiedenen Themenbereichen zu erarbeiten. Zudem stimmten russische und deutsche Kuratoren in der These überein, dass Moskau nach dem Zweiten Weltkrieg weder mit West- noch mit Ostberlin einen kulturellen Dialog geführt habe. Darum, so die fragwürdige Schlussfolgerung, habe man den Blickwinkel auf die beiden großen Machtblöcke insgesamt erweitern müssen. In einem anderen Punkt gingen die Meinungen auseinander: Die russischen Kuratoren hätten sich nach eigenem Bekunden eine viel stärkere Berücksichtigung des zeit- und kunstgeschichtlichen Kontexts gewünscht, während ihre deutschen Kollegen glaubten, mit der Meinungs- und Materialsammlung im Katalog ihre Schuldigkeit getan zu haben. Die Differenz wurde durch einen territorialen Kompromiss ausgeräumt: In Berlin durften sich die deutschen Kuratoren frei entfalten; dafür gestalten die Russen die Moskauer Ausstellung im Frühjahr 2004 nach ihren Vorstellungen um.

Die Kuratoren nannten ihr Vorgehen ein „Wagnis“, doch leider trifft eher das Gegenteil zu. Kein Wagnis hätte lohnender und riskanter sein können als ein Versuch, auch das Beton- und Fernsehzeitalter von 1945 bis 2003 aus der gleichen souveränen Perspektive zu porträtieren, die die Vorgänger 1995 gegenüber der Epoche von 1900 bis 1950 eingenommen hatten. Zweifellos wäre diese Aufgabe schon an sich äußerst schwierig gewesen. Darüber hinaus hätte das Team der Kulturdiplomaten sich dem direkten Vergleich mit der Vorgängerausstellung aussetzen und in beiden Städten lokalpolitische Tabus verletzen müssen. Demgegenüber erscheint die aseptische Beschränkung auf „Moderne Kunst“ - die in der geöffneten Zivilgesellschaft ja kaum mehr als ein Randphänomen ist - auch als Rückzug in die bequeme Unverfänglichkeit. Die Kuratoren nahmen die 1995 gewachsenen Vorschusslorbeeren und das Geld dankend in Empfang und machten damit das, was ihnen am besten gefiel: Sie schufen ihr eigenes Gesamtkunstwerk, ohne den heute aktiven Zivilisationsproduzenten irgendwie nahe zu treten. Auch darum war die Entscheidung nur konsequent, in Moskau und Berlin verschiedene Ausstellungen zu zeigen. Besuchern und Honoratioren beider Weltstädte wird so die Zumutung erspart, ihr kulturelles Selbstbild nach den Maßstäben einer fremden Nachbarmetropole zu beurteilen.

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Die Kuratoren zelebrierten ihre Souveränität, indem sie sich scheinbar keiner vorgegebenen dokumentarischen Logik unterwarfen. Demonstrativ erteilten sie noch 2001 neue Aufträge - fast so, als ob die Moskauer und Berliner Kunstwerkproduktion 1950-2000 nicht ausgereicht hätte, um den Martin-Gropius-Bau zu füllen. Ihr Konzept war weder als kunstgeschichtlicher Lehrgang noch als vergleichende Leistungsschau gedacht. Östliche und westliche Arbeiten verschiedener Jahrzehnte standen sich nicht nach Herkunft und Rang geordnet gegenüber, sondern hingen zwanglos durcheinander. Verstreute Informationen über die ganz unterschiedlichen Lebensumstände der Künstler, die Organisation der Kunstmärkte und der Zensur fanden Interessierte mit etwas Glück im Katalog. Im Martin-Gropius-Bau sollten sich die Besucher zunächst auf das konzentrieren, was sie selbst sehen, hören, ertasten und begreifen konnten.

Beim Lesen der Hinweistafeln und der erzählenden Katalogtexte verfestigte sich der Eindruck, dass es letztlich die kollektive Selbsterfahrung während der Ausstellungsvorbereitung war, die die Kuratoren hier dokumentierten: Im spannungsvollen Dialog lernten deutsche und russische Kulturmanager sich gegenseitig und ihre Kunst besser kennen, begaben sich auf Entdeckungsreisen, trugen Konflikte aus, wurden ihrer Vorurteile gewahr und veränderten ihre eingefahrenen Sehgewohnheiten. In gewissem Sinne war die Ausstellung also auch eine Art Wandzeitung, die von einem gemeinsamen Betriebsausflug bzw. einem Fortbildungsseminar Zeugnis ablegte.

Fjodor Bogorodski, Ruhm den gefallenen Helden, 1945
Abb. 2: Fjodor Bogorodski, Ruhm den gefallenen Helden, 1945
 

Um das Material dennoch irgendwie zu ordnen, erarbeiteten die Organisatoren eine Liste elastischer Rubriken wie etwa „Der Ruf der Kunst“ oder „Kommunikative Systeme“. Innerhalb dieser Zusammenstellung wurden manche Exponate zum Satzteil einer spannenden Aussage, von der ihre Urheber wohl nichts geahnt haben. Konsequent durchgehalten, hätte der quere Blickwinkel für manches entschädigen können. Aber leider waren die meisten Zwischenüberschriften letztlich doch nur Chiffren für ein bestimmtes Jahrzehnt („Design und Aktion“ etwa bezog sich ungefähr auf die Technikorientierung der 1960er-Jahre). Nur die existenzielle Kategorie „Vom Krieg und vom Erhabenen“ bleibt im Gedächtnis haften und hätte auch als Überschrift für die gesamte Ausstellung getaugt.

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Barnett Newman, Who´s afraid of Red, Yellow and Blue IV, 1969/70
Abb. 3: Barnett Newman, Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV, 1969/70
 

Im Zentrum stand die Verstrickung von Utopie, Gewalt, Diktatur und Kunst. Ein wichtiger Bezugspunkt der Ausstellung war das 1945 entstandene Gemälde „Ruhm den gefallenen Helden“ von Fjodor Bogorodski (Abb. 2). Hier verdichtet sich die stalinistische Auffassung vom „Erhabenen“. Der notdürftig auf einem Brettgestell aufgebahrte Leichnam eines sowjetischen Soldaten trägt eine saubere Uniform, seine Verletzung ist unsichtbar. Selbst die an der Bahre trauernde Mutter wirkt mindestens so gefasst und ruhig wie der hochdekorierte Offizier, der vor dem Toten andächtig das Knie beugt. Der klassische Faltenwurf der Mäntel und Zelttücher erzeugt die Aura eines antiken Tempels; die Überlebenden haben nicht ihren Schmerz, sondern ein großes Ziel vor Augen. Die Bildkomposition knüpft sowohl an das christliche Motiv der Pietà wie auch an die Ästhetik der Historienmalerei an. Der gerechte Krieg erscheint als Gottesdienst, der Tod des Soldaten als schmerzloses Altarsakrament. „Ruhm den gefallenen Helden“ steht für einen hehren Gestus, ein moralisches Programm, einen politischen Anspruch, der weithin als unerträglich empfunden wurde und bald starke Allergien auslöste - und das offenbar bis heute. Wenn die Kuratoren das stalinistische Altarbild im Gropius-Bau mit Barnett Newmans abstraktem Gemälde „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“ von 1969/70 (Abb. 3) kurzgeschlossen haben, dann handelten sie womöglich aus diesem exorzistischen Bedürfnis heraus.

Doch schon die sowjetische Kunst entwickelte verschiedene Strategien, die Diktatur des Erhabenen zu unterlaufen. So diagnostizieren Geli Korshews Bilder die körperlichen und seelischen Verletzungen der sowjetischen Kriegsteilnehmer, die kein militärischer Sieg heilen konnte. Das Recht auf Pathos wird hier den Individuen zuerkannt, wie auch später in den Gemälden des „strengen Stils“. Die von Viktor Popkow porträtierten „Erbauer von Bratsk“ posieren 1961 immer noch als sozialistische Helden, haben aber keine Lust mehr, dem offiziellen Bildberichterstatter „glücklich“ zuzulächeln.

Viktor Popkow, Die Erbauer von Bratsk, 1960/61
Abb. 4: Viktor Popkow, Die Erbauer von Bratsk, 1960/61
 

Manchmal siedelte das Ernstgemeinte schon zur Stalinzeit dicht neben dem Karikaturhaften, wie etwa in Wassili Jakowlews opulentem Gemälde „Disput über die Kunst“ (1946). Ende der 1960er-Jahre begannen Protagonisten der „SozArt“, die visuellen Klischees der Propaganda offen zu verhöhnen. 1972 malten Vitaly Komar und Alexander Melamid Transparente, auf denen sie den Kommunismus zu ihrem „Ziel“ erklärten und somit das scheinbar Selbstverständliche als Absurdität entlarvten. Die Projekte und Installationen Ilja Kabakovs sind subtiler konzipiert, funktionieren im Prinzip aber ähnlich. Im Gegensatz zu seinen agressiven Vorläufern hat er sich in den Archiven des abgeschafften Bezugssystems geradezu nostalgisch eingerichtet. Und wer den beschaulichen Mai-Umzug auf den Fotografien Boris Mikhailovs zu lange betrachtet, mag für einen Moment sogar bedauern, die aufregenden 1970er-Jahre nicht in der ukrainischen Provinz verbracht zu haben. Doch wie Alexander Kossolapows lustige Figur „Mickey-Lenin“ (Abb. 1) verdeutlicht, sind die Möglichkeiten der visuellen Dekonstruktion inzwischen ausgeschöpft. Auf einem Marmorsockel stehend könnte dieses Denkmal im Stadtzentrum von Smolensk immer noch starke ästhetische Wirkung entfalten; in dieser Ausstellung wirkt es albern und überflüssig.

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Während der sowjetische Alltag auch nach Stalins Tod von politischer Symbolik eingerahmt blieb, hatte sich die deutsche Katastrophe längst ins gespenstisch Unsichtbare verflüchtigt. Im westlichen Nachkriegsdeutschland war die abstrakte Kunst nicht zuletzt darum so beliebt, weil sie nichts abbildete und auch nicht so tat, als sei da jemals etwas zu sehen gewesen. Künstler, die sich mit dem Nationalsozialismus explizit auseinandersetzen wollten, mussten das Gespenst erst umständlich beschwören und mühsam in die Sichtbarkeit zurückzerren. Anselm Kiefer etwa blickt in den „Innenraum“ (1981) von Hitlers Reichskanzlei wie der Hexenmeister in seine Kristallkugel. Der Betrachter ahnt das hereinbrechende Verhängnis, wird sich der dämonischen Anziehungskraft des fernen, bösen Ortes aber nicht ganz entziehen können. Auf den Realsozialismus blickten westdeutsche Künstler dagegen eher unverkrampft: Martin Kippenbergers „Sympathische Kommunistin“ (1983) ist eine gutmütige Karikatur, die sowjetische Mythen und westliche Ängste gleichermaßen parodiert.

Der besondere intellektuelle Anspruch des Ausstellungsprogramms äußerte sich darin, dass nicht nur die stalinistische Triumphalkunst, sondern auch die vorangegangene russische Avantgarde und sogar die westliche abstrakte Kunst als Pole des „Erhabenen“ lokalisiert wurden. Tatsächlich ist Kasimir Malewitschs (nicht ausgestelltes) „Schwarzes Quadrat“ von 1915 neben dem stalinistischen Bildkanon ein zweiter zentraler Bezugspunkt der Ausstellung. Offenbar haben die eindringlichen Warnungen des Philosophen Boris Groys vor dem proto-totalitären Machtwillen der russischen Avantgardisten die Kuratoren dazu angeregt, auch das missionarische Pathos mancher westlicher Nachkriegskünstler (wie etwa Willi Baumeister und Ernst Wilhelm Nay) mit skeptischeren Augen zu sehen. In diesem Sinn entbehrte auch die provokative Parallelisierung von Bogorodskis „Ruhm den gefallenen Helden“ mit Newmans erhabenen Farbflächen nicht einer gewissen Logik.

Bezeichnenderweise setzten sich gleich zwei der von den Kuratoren 2001 in Auftrag gegebenen Werke explizit mit Malewitsch auseinander. Die slowenische Gruppe IRWIN bettete den Propheten als lebensgroße „Kunstleiche“ - getreu historischer Fotos - in einen suprematistisch gestylten Sarg und hängte das „schwarze Quadrat“ über sein Kopfende. Diese makabre Installation nahm sich noch zurückhaltend aus im Vergleich zu Gerhard Merz’ Installation „Sieg der Sonne“, die sich im Mittelsaal des Erdgeschosses breitmachte. Die mons-tröse Gipskonstruktion umfasste einen künstlichen Raum, dessen programmatische Leere von Neonröhren erhellt wurde. Der Titel ist eine Replik auf das avantgardistische Theaterstück „Sieg über die Sonne“, dessen Bühnenbilder seinerzeit Malewitsch entworfen hatte. Peter-Klaus Schusters Katalogtext erklärt uns, was der Künstler damit sagen will: Da die Utopien der Moderne gescheitert seien und auch das Kunstmuseum keine Wahrheiten, Tröstungen oder Hoffnungen bereithalte, müsse der Tempel „entrümpelt“ und das Altinventar an Bildern, Göttern und Mythen auf dem profanen „Markt der Meinungen“ entsorgt werden. Im Zentrum dieser auch politisch bedeutsamen Ausstellung wurde also die Manege freigeräumt, damit die agnostizistische Postmoderne dort ihren verspäteten Triumph abfeiern kann.

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Für den Rezensenten ist dieses Fazit Anlass, seine Grundsatzkritik zu wiederholen. Wie schade, dass sich die Kuratoren Merzens „Behauptung der Leere“ nicht zu Herzen genommen haben! Dann hätten sie ihre Ausstellung vielleicht nicht der „reinen Kunst“, sondern den Städten Berlin und Moskau gewidmet, deren Bewohner voneinander immer noch viel zu wenig wissen. Anstelle einer „Nichts!“-sagenden Gipsschachtel hätten sie dann etwa Modelle des Moskauer „Siegesparks“ (1995) und der Berliner „Neuen Wache“ (1993) oder Peter Eisenmans Entwürfe des Holocaust-Denkmals zeigen können. Solche öffentlichen, raumgreifenden, sichtbar politischen Projekte sind es doch, in denen sich die heute gültigen Vorstellungen vom Krieg und vom Erhabenen spiegeln.

Auch hätte man den Berlinern nicht unbedingt verschweigen müssen, dass der derzeit einflussreichste Moskauer Künstler Surab Zereteli heißt und dass dessen süßliche Bronzeplastiken das Stadtbild von Jahr zu Jahr stärker prägen. Man hätte daran erinnern können, dass sich früher an der Stelle der wiederaufgebauten Erlöserkirche ein ganzjährig beheiztes Freibad befand und dass das Parlamentsgebäude 1993 von Panzern beschossen wurde. Hatte diese Ausstellung nicht das Anliegen, den interkulturellen Dialog zwischen Moskau und Berlin wiederzubeleben? Das allzu selbstverliebte und weltferne Konzept zumindest ihrer deutschen Variante wird in dieser Hinsicht wohl kaum etwas bewirken.

 

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