Zeitgeschichte ohne Bild und Ton?

Probleme der Rundfunk-Überlieferung und die Initiative „Audiovisuelles Erbe“

Anmerkungen

Noch immer wird Zeithistorikern gelegentlich nachgesagt, sie hätten ein gestörtes Verhältnis zu den modernen audiovisuellen Medien, und in der Tat hat die Disziplin erst mit einiger Verzögerung auf deren Ausbreitung reagiert. Dies galt lange für die Massenmedien ganz allgemein, deren Quellenwert aus der Perspektive einer klassischen, staatszentrierten Politikgeschichte äußerst begrenzt erschien. Aber auch die Wendung hin zur Gesellschaft, zur Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte hat zunächst überraschenderweise kaum dazu geführt, dass die Präsenz von Medien im Alltag in diesen Ansätzen besondere Berücksichtigung gefunden hätte.1 Zwar ist diese traditionelle Zurückhaltung – von einigen Residuen abgesehen – inzwischen erodiert: „Mediengeschichte“ hat sich als Subdisziplin innerhalb der Zeitgeschichte etabliert.2 Aber jenseits eines Verständnisses als Spartengeschichte verbreitet sich erst sehr langsam die Erkenntnis, dass die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts generell nicht mehr angemessen geschrieben werden kann, ohne die ubiquitäre Verbreitung und Rezeption der Massenmedien zu berücksichtigen. Das gilt keineswegs nur für die sozial- und erfahrungsgeschichtliche Dimension des Mediengebrauchs. Wenn sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die Darstellungsseite von Politik bereits seit geraumer Zeit maßgeblich in populären Medien wie dem Fernsehen vollzieht und Repräsentationen und Wahrnehmungen mit dem politischen Prozess rückgekoppelt sind, dann muss auch die Politikgeschichtsschreibung diesem Umstand Rechnung tragen.

Nun ist die Präsenz von massenhaft verbreiteten Medien und der damit verbundenen Vergesellschaftungsprozesse kein exklusives Merkmal des letzten Jahrhunderts, sondern nahm bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihren Anfang.3 Die eigentliche Herausforderung für die Zeitgeschichtsschreibung, verstanden als „Epoche der Mitlebenden“ (Hans Rothfels), liegt vielmehr im Ende der „Gutenberg-Galaxis“ – also der Dominanz gedruckter Schriftmedien.4 Der Übergang von einer weitgehend textzentrierten Kultur zu technisch reproduzierbaren visuellen und auditiven Darstellungen sowie ihren diversen Hybridformen revolutionierte nicht nur den Erfahrungshorizont der Zeitgenossen, sondern stellt auch die traditionell logozentrisch ausgerichtete Praxis der Historiographie infrage.5 Neben bis heute nachwirkenden bildungsbürgerlichen Ressentiments gegenüber den audiovisuellen Massenmedien und populärer Kultur bedeutet das überkommene methodische Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft als einer kritischen Textwissenschaft die wahrscheinlich größte Barriere für eine adäquate Integration der Medialisierungsprozesse.6 Nur langsam scheint sich dies zu ändern, nicht zuletzt angeregt durch den interdisziplinären Austausch mit Medienwissenschaftlern und Vertretern anderer Nachbardisziplinen.7 Während die Fotografie und der (hochkulturelle) Film dabei noch die größte Aufmerksamkeit finden, ist es ausgerechnet um die „Leitmedien“8 der Zeitgeschichte (in Europa ab ca. 1930 der Hörfunk und ab ca. 1960 das Fernsehen) deutlich schlechter bestellt. Die Vorbehalte der Historiographie gegen populärkulturelle Inhalte sind hier mit Händen zu greifen. Noch immer scheint das Bonmot „Theater ist Kunst, Film ist Unterhaltung und Fernsehen ein Möbel“ den zugemessenen Wert treffend zu beschreiben.

1. Status quo in Deutschland: Archivierung durch die Anbieter
 

Überkommene Staatszentriertheit der Geschichtswissenschaft, Text-Fixiertheit und bildungsbürgerliche Ressentiments gegenüber den audiovisuellen Gebrauchsmedien – angesichts dieser Voraussetzungen vermag es kaum zu überraschen, dass die Frage der Überlieferung und Archivierung von Hörfunk und Fernsehen in Deutschland bis heute nur wenig Aufmerksamkeit gefunden hat.9 Während das Bundesarchiv bereits seit den 1950er-Jahren ein Filmarchiv aufgebaut hat (das heute zu den größten seiner Art in Europa gehört) und damit für dieses Medium vom sonst ehernen Prinzip des Staatsarchivs abgewichen ist, blieb die Überlieferung von Hörfunk und Fernsehen hierzulande von Anfang an den Produzenten überlassen. Der Rundfunkbereich wird von der staatlich organisierten Sammlung des Kulturguts vollständig ausgeschlossen: Das Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek erfasst allein Medienwerke in Schrift, Bild und Ton, die auf Papier, elektronischen Datenträgern und anderen Trägern verbreitet werden, sowie solche, die in öffentlichen Netzen dargestellt werden; explizit ausgeblendet sind hierbei jedoch unter anderem genuine Rundfunkwerke sowie solche Netzpublikationen, die aus Fernsehproduktionen abgeleitet werden. Ähnlich verhält es sich mit den Landesgesetzen: 14 der insgesamt 16 Bundesländer schließen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten explizit vom Geltungsbereich der staatlichen Archivzuständigkeit aus. In den Archivgesetzen Hamburgs und Berlins findet der Rundfunk sogar keinerlei Erwähnung. Und auf der Website der Abteilung Filmarchiv des Bundesarchivs heißt es lapidar: „Fernsehproduktionen werden hier nicht gesammelt, da die Fernsehanstalten eigene Archive haben.“10

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Allerdings kam es Mitte der 1980er-Jahre im Umfeld der (West-)Berliner Akademie der Künste zu einer Initiative, eine „Deutsche Mediathek“ zu schaffen, die das audiovisuelle Erbe zugänglich machen und zugleich ausstellen sollte. Der damalige Präsident der Akademie, Walter Jens, schrieb in der ersten Broschüre der „Mediathek im Aufbau“: „Während die Literatur, als das große Gedächtnis der Menschheit, umfassend interpretiert wird, findet ein Fruchtbarmachen der durch moderne Medien vermittelten Geschichte nicht statt […].“11 Zumindest zeitweise war damit die Idee eines zentralen „Nationalen Archivs für Audiovision“ verbunden, die sich der Unterstützung von Seiten der (Medien-)Wissenschaft sicher sein konnte.12 Das Schicksal dieser zivilgesellschaftlichen Initiative gibt allerdings nur wenig Anlass zu Optimismus: Nach rund 20-jährigem Tauziehen um rechtliche, organisatorische und finanzielle Fragen entstand daraus 2006 die Fernsehausstellung als Teil der Deutschen Kinemathek in Berlin – die ursprünglich geplante Einbeziehung der Hörfunkgeschichte war da schon vergessen. Bis heute ohne dauerhafte Finanzierung13 und unter eher beengten räumlichen Bedingungen werden hier Einblicke in die deutsche Fernsehprogrammgeschichte geboten. Das Museum kann (und soll laut Selbstverständnis) keine umfassende zentrale Archivierung leisten. Ohnehin verfolgt das Konzept keinen museal-bewahrenden Ansatz, sondern nur einen museal-vermittelnden. Letztlich mangelte es vor allem an der Bereitschaft der Medienbranche, sich im größeren Maßstab für ein solches Projekt zu engagieren.14

Weder von den Produzenten noch von Seiten des Staates ist offenbar derzeit eine Änderung des Status quo zu erwarten. Auf absehbare Zeit werden Wissenschaftler, die Hörfunk- und Fernsehquellen verwenden wollen, daher primär auf die Archive der Produzenten und Sender angewiesen sein. Potenzielle Nutzer sehen sich dabei einer relativ unübersichtlichen Archivlandschaft gegenüber – nicht nur wegen der Dualität von öffentlich- und privat-rechtlichen Institutionen, sondern auch wegen der traditionell ausgeprägt regional organisierten deutschen Rundfunklandschaft. So bietet sich beispielsweise im Falle der ARD zwar das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) mit seinen zwei Standorten in Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg als zentrale Anlaufstelle an, aber diese Gemeinschaftseinrichtung der ARD verwahrt keineswegs die vollständige Programmüberlieferung. Fernsehprogramme aus der Bundesrepublik sind dort beispielsweise überhaupt nicht archiviert.15 In der Regel wird man nicht umhinkommen, sich an das Archiv der jeweiligen regionalen Rundfunkanstalt zu wenden, die für die Produktion zuständig war, sei es der Bayerische Rundfunk (BR) in München, der Norddeutsche Rundfunk (NDR) in Hamburg oder eine der kleinen ARD-Anstalten wie der Saarländische Rundfunk (SR) in Saarbrücken. Da das Interesse von Historikern in der Regel gegenstandsbezogen ist und sich nicht an den Produktionslogiken orientiert, kann daraus ein hoher Aufwand resultieren.

2. Das Primat der Produktion:
Überlieferung ohne Gewähr und Zugang nach Ermessen
 

Immerhin kann man in den meisten Fällen mit einer professionell archivierten Programmüberlieferung rechnen – zumindest im Falle der öffentlich-rechtlichen Anbieter, also der ARD-Anstalten, des ZDF und der Deutschen Welle. Nur sie verfügen gegenwärtig über ausgearbeitete Sammlungsrichtlinien und Kriterienkataloge der Archivierung. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass eine Totalüberlieferung vorhanden wäre. Vor allem für die 1950er- und 1960er-Jahre, als noch häufiger live gesendet wurde und es generell an Bewusstsein für den historischen Wert der noch jungen Medien Hörfunk und Fernsehen fehlte, muss mit nennenswerten Überlieferungslücken gerechnet werden. Bis in die 1980er-Jahre hinein gab es noch dezidierte Löschaktionen.16 Erst seitdem wuchs bei den Sendeanstalten das Bewusstsein für den historischen Wert ihrer Archivalien. Schwieriger stellt sich die Situation aber ohne Zweifel bei den Privatsendern dar: Hier sei, wie die Leiterin des Programmarchivs von RTL Television, Susanne Betzel, einräumt, die Überlieferungslage in vielen Senderarchiven problematisch, insbesondere für die Frühphase des privaten Rundfunks in der Bundesrepublik.17 Ökonomische Prämissen schlagen hier – ebenso wie bei zahlreichen privaten Produktionsfirmen – mehr oder minder unvermittelt auf die Archivierungspraxis durch. Für alle Produzenten sind zudem die Herausforderungen der Langzeitarchivierung kaum zu bewältigen. Immer kürzere technische Innovationszyklen sorgen für einen Wirrwarr von Formaten und für massive Schwierigkeiten, entsprechende technische Infrastrukturen vorzuhalten beziehungsweise die Inhalte auf jeweils aktuelle Formate zu übertragen. So erfolgt die Retrodigitalisierung auch im Falle der öffentlich-rechtlichen Programme rein bedarfsgesteuert. Ein weiteres Problem stellt der rasante Verfall von Magnetaufzeichnungen dar. Als besonders anfällig gelten Videokassetten, die das vergleichsweise langlebige Trägermedium Film in den letzten Jahrzehnten weitgehend verdrängt haben. Je nach Material und Lagerung können etwa die verbreiteten analogen Betacam-Kassetten bereits nach 20 Jahren nicht mehr abgespielt werden, so dass zukünftige Kassationen wahrscheinlich sind – ohne dass dafür bisher Bewertungskonzepte existieren würden.18

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Weitaus schlechter als um die Programmüberlieferung steht es jedoch um die „Kontextüberlieferung“, also die produktions- und institutionsbezogenen Materialien, die Rückschlüsse auf den Entstehungsprozess, die Rahmenbedingungen und mögliche Reaktionen bzw. Kontroversen zulassen. Es versteht sich, dass sie für eine adäquate historische Einordnung der audiovisuellen Quellen häufig unverzichtbar sind. Die professionelle Archivierung und Erschließung dieser Quellen stellt allerdings selbst bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten eher die Ausnahme als die Regel dar. Neben dem ZDF haben lediglich einige ARD-Anstalten, darunter der Süddeutsche Rundfunk (SDR), der Westdeutsche Rundfunk (WDR), der Hessische Rundfunk (HR) und der Bayerische Rundfunk (BR) Unternehmensarchive aufgebaut (in der ARD „Historische Archive“ genannt). Wo es überhaupt dazu kam, geschah dies meist erst in den 1970er- und 1980er-Jahren – entsprechend lückenhaft und zufällig stellt sich die Überlieferungssituation heute dar.19 Besorgniserregend ist insbesondere, dass in letzter Zeit die Bereitschaft zu schwinden scheint, für solche nicht unmittelbar produktionsrelevanten Aufgaben Mittel aufzuwenden: Die Mitarbeiter der Historischen Archive klagen über eine zusehends schlechtere personelle Ausstattung. Doktoranden wird beim ZDF auf Anfrage mitgeteilt, dass dort keine Redaktionsakten zugänglich seien und diese regelmäßig nach zehn Jahren vernichtet würden. Der NDR hatte – nach Jahrzehnten der Untätigkeit auf diesem Feld – vor zehn Jahren sein Schriftgut als Depositum dem Hamburger Staatsarchiv überlassen. Nach der Kündigung des Vertrags seitens des Staatsarchivs wird dort seit 2010 nun notgedrungen ein eigenes Unternehmensarchiv aufgebaut – unter dem Dach der Dokumentationsabteilung und ohne dafür die Betreuung durch einen ausgebildeten Archivar vorzusehen.

Die stets zögerliche und anscheinend gegenwärtig weiter schwindende Bereitschaft auch der öffentlich-rechtlichen Sender, die Archivierung nach anderen als unmittelbar produktionsrelevanten Kriterien zu betreiben, illustriert die Probleme der völligen Absenz des Staates auf diesem Gebiet. Da hier anders als bei nahezu allen übrigen Kulturgütern keine verbindlichen Regelungen existieren, folgt die Praxis primär Opportunitätskriterien, die aus der Binnenlogik der Unternehmen folgen und sich vergleichsweise rasch ändern können. So sehr es auf den ersten Blick zu begrüßen ist, dass ARD und ZDF im August 2004 eine freiwillige Selbstverpflichtung abgegeben haben, ihre Archive als Endarchive im Sinne des Zusatzprotokolls „Schutz von Fernsehproduktionen“ zur „Europäischen Konvention über den Schutz des audio-visuellen Erbes“ des Europarates zu betreiben,20 so wenig deutet derzeit darauf hin, dass dadurch eine Abkehr vom primären Verständnis der Archive als Produktionsarchive und den damit verbundenen Praktiken erreicht wäre. Gewiss besteht in Bezug auf die derzeitige Überlieferungssituation kein Anlass zu Alarmismus, aber es darf sehr wohl bezweifelt werden, dass eine so wenig konsistente, allein ins Ermessen der jeweiligen Produzenten gestellte Archivierung auf Dauer geeignet ist, das kulturelle Erbe von Hörfunk und Fernsehen auf nationaler Ebene angemessen zu sichern.

Dies gilt umso mehr, als sich der Eindruck einer uneinheitlichen, vor allem an institutionellen Binnenlogiken orientierten oder gar zufälligen Praxis auf der für Wissenschaftler zentralen Ebene des Zugangs fortsetzt. Fest steht nur, dass es einen verbindlichen oder gar gesetzlichen Anspruch auf Zugang nicht gibt – dies wird auf Nutzeranfragen hin notorisch betont. Ansonsten variieren die Erfahrungen nicht nur zwischen den zahlreichen unterschiedlichen Produzenten, sondern sie scheinen sogar innerhalb einer Institution nicht immer konsistent zu sein.21 Je nachdem, ob die Anfrage zunächst das Unternehmensarchiv, das Programmarchiv, die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit oder die Verwertungsabteilung erreicht, können sich die Bedingungen und Konditionen des Zugangs stark unterscheiden. Wo übergreifende formale Regelungen fehlen, bleibt viel Raum für informelles Handeln, und dies kann sich für den Nutzer ebenso vor- wie nachteilig auswirken. So ist es nicht überraschend, dass unter Historikern sowie historisch arbeitenden Medien- und Kommunikationswissenschaftlern diverse zum Teil bizarre Anekdoten mit Negativerfahrungen kursieren, denen man allerdings problemlos mindestens die gleiche Zahl ausgesprochen konstruktiver Kooperationen gegenüberstellen könnte.22 Aus Sicht der Forschung kann dieser Zustand gleichwohl nicht befriedigen. Immer wiederkehrende Klagen der Nutzer betreffen vor allem fehlende Zugriffsmöglichkeiten auf Findmittel, hohe Kosten für Arbeitskopien (oder gar deren Verweigerung) und Willkür beim Zugang zu senderinternen Materialien. Zumindest im Falle der ARD gibt es immerhin Anlass zur Hoffnung: Die Historische Kommission beschäftigt sich gegenwärtig mit der Frage transparenter und für die gesamte ARD verbindlicher Zugangsregelungen. Letztlich zeugen auch die Inkonsistenzen im Umgang mit externen Nutzern von der dominanten Ausrichtung der Archive auf die aktuelle Programmproduktion. Es mag richtig sein, dass sich der Ansturm von Wissenschaftlern auf die Archive aus den eingangs erwähnten Gründen bisher in Grenzen gehalten hat,23 aber wenn der WDR sein Historisches Archiv wegen interner Projekte bis auf weiteres komplett für externe Nutzer schließen musste, scheinen sich allzu optimistische Prognosen im Hinblick auf die vorhandenen Ressourcen zu verbieten.24 Dagegen spricht auch, dass es bereits jetzt Immunisierungstendenzen gibt: Einige Anstalten, darunter das ZDF, beschränken ihre Unterstützung pauschal auf Dissertationen und Forschungen promovierter Wissenschaftler.

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3. Gefesselt vom Urheberrecht: Die Universitäts-Mediatheken
 

Angesichts der unübersichtlichen und tendenziell schwierigen Lage bei den Programmproduzenten bietet sich ein Ausweichen auf eine Parallelüberlieferung an: In zahlreichen deutschen Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen existieren Mediatheken, die zum Teil über einen beträchtlichen Bestand von Hörfunk- und vor allem Fernsehmitschnitten verfügen, die dort im Rahmen von Forschungsprojekten oder themenbezogen bisweilen über lange Zeiträume angefertigt worden sind. Theoretisch, so sollte man denken, müsste es möglich sein, darauf im Rahmen wissenschaftlicher Kooperation unkompliziert und ohne größere Kosten Zugriff zu bekommen. Allerdings fällt schon bei oberflächlichen Recherchen auf, dass es nicht leicht ist, einen Überblick über solche Sammlungen zu gewinnen, denn viele dieser Institutionen halten sich im Hinblick auf ihre Bestände nach außen bedeckt. Tatsächlich ist der Nutzerkreis meist auf Angehörige der jeweiligen Universität oder gar Mitglieder eines bestimmten Instituts beschränkt. Hintergrund sind hier urheberrechtliche Restriktionen: Mitschnitte sind im Normalfall nur für private Zwecke erlaubt; die Weitergabe an Dritte erfordert die Zustimmung des Rechteinhabers. Selbst bei gutem Willen aller Beteiligten kann dies außerordentlich kompliziert sein, denn keineswegs liegen immer alle Rechte bei den Anbietern, die die Produktion seinerzeit ausgestrahlt haben. Die Rechteklärung von audiovisuellen Produkten ist nicht selten eine frustrierende Materie, für die es zudem an Kapazitäten fehlt.25

Die Mediatheken operieren also in einer rechtlichen Grauzone, und die daraus resultierende Unsicherheit führt tendenziell zu restriktiven Regelungen. Wie groß die Verunsicherung ist, hat 2010 ein Fall an der Bergischen Universität Wuppertal gezeigt. Dort ordnete die Universitätsleitung auf Anraten der Justitiarin die Vernichtung aller Mitschnitte und Spielfilme an, an denen keine Rechte erworben worden waren, um die Universität vor Regressforderungen zu schützen.26 Dies hätte den weitaus größten Teil der rund 15.000 Werke umfassenden Sammlung betroffen. Zum Glück ist es trotz eines Rechtsgutachtens, das die Position der Justitiarin prinzipiell stützt, nicht zu diesem Akt der Zerstörung gekommen. Der Fall zeigt jedoch die subkutane Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und hohen Schadenersatzforderungen, die in diesem Bereich herrscht. Bis auf weiteres verhindern die Regelungen des deutschen Urheberrechts, dass diese Materialien ohne gravierende Einschränkungen für Forschung und Lehre oder für andere gemeinnützige Zwecke verwendet werden können.

4. Die Initiative „Audiovisuelles Erbe“
 

Das Wissen um die aus der Perspektive der wissenschaftlichen Nutzer unbefriedigende Lage hatte zur Folge, dass sich im Herbst 2009 ein informeller Zusammenschluss aus Historikern, Medien- und Kommunikationswissenschaftlern, Medienarchivaren und Vertretern einschlägiger Institutionen gebildet hat, der es sich zum Ziel gesetzt hat, innerhalb und außerhalb der Wissenschaft auf den problematischen Umgang mit diesem zentralen Bestandteil des nationalen kulturellen Erbes hinzuweisen und sich für eine Verbesserung der Situation einzusetzen. Dabei ist die Initiative bewusst interdisziplinär und institutionsübergreifend angelegt, um die bisher in punktuellen Einzelinitiativen vorgetragenen Ziele mit mehr Nachdruck zu vertreten.27

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Ausgehend von einem Workshop, der vor allem dazu diente, einen gemeinsamen Diskussionsstand herzustellen, indem etwa der Umgang anderer europäischer Länder mit diesem Thema diskutiert wurde,28 sind seitdem in mehreren Treffen Strategien ausgearbeitet worden, um auf verschiedenen Ebenen Verbesserungen zu erreichen:

• Fachöffentlichkeiten und breitere Kreise sind dafür zu sensibilisieren, dass audiovisuelle Quellen insbesondere aus dem Rundfunk unverzichtbare Bestandteile nicht nur jeder historisch-kritischen Auseinandersetzung mit Medien sind, sondern dass die zukünftige Vergangenheitsvergegenwärtigung und Geschichtsschreibung im Allgemeinen auf ihre Berücksichtigung angewiesen sein wird. Ihre Sicherung und Zugänglichkeit sollte daher nicht einer kleinen Gruppe von Medienhistorikern und -spezialisten vorbehalten bleiben.

• Auf politischer Ebene ist darauf aufmerksam zu machen, dass nationale Vorgaben notwendig sind, um die uneinheitliche, zuvorderst an kurzfristigen (ökonomischen) Kriterien orientierte Archivierungspraxis zu überwinden. Zudem gilt es, auf Regelungen zu drängen, welche die nicht-kommerzielle wissenschaftliche und kulturelle Nutzung unter vertretbarem Aufwand ermöglichen. Dies schließt auch die Reform einschlägiger urheberrechtlicher Bestimmungen mit ein, die die wissenschaftliche Arbeit mit derartigen Quellen bisher übermäßig erschweren.

• Die Benutzung von Produktionsarchiven sollte erleichtert werden. Dies betrifft etwa die Definition verbindlicher Nutzungsregeln bei der Auffindbarkeit, Sichtung, Reproduktion und Vorführung von Archivalien und damit besonders die Frage, inwieweit – gefilterte – Katalogdaten nach Möglichkeit online zur Verfügung gestellt werden können, um damit eine verlässliche Quellenrecherche überhaupt erst zu ermöglichen.

• Eine bessere Nutzbarkeit der in den universitären Mediatheken vorgehaltenen Überlieferung ist anzustreben. Insbesondere soll geprüft werden, ob es trotz der rechtlichen Vorbehalte einen gemeinsamen OPAC zum Nachweis von Katalogdaten geben könnte, wie er im Bereich des Films durch den „Verbundkatalog Film“ bereits realisiert ist. Falls es aussichtsreich erscheint, soll in diesem Bereich ein Pilotprojekt initiiert werden.

• Darüber hinaus stehen die Mitglieder der Initiative auch als Ansprechpartner und Vermittler bei konkreten Problemen des Quellenzugangs zur Verfügung.

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Die Voraussetzungen für (Teil-)Erfolge in dieser Richtung sind angesichts des noch immer geringen Stellenwerts des audiovisuellen Kulturguts, der etablierten, für Deutschland eigentlich untypischen staatlichen Zurückhaltung in diesem Bereich sowie praxisfremder urheberrechtlicher Einschränkungen nicht unbedingt günstig. Doch ist die Komplexität des Vorhabens kein legitimes Gegenargument – genauso wenig wie das Prinzip der Staatsferne oder die zu erwartenden Kosten. In erster Linie sind jetzt die Länder gefordert, entsprechend ihrer verfassungsgemäßen Zuständigkeit für Rundfunk, Bildung und Kultur ihre gesamtstaatliche Verantwortung für das audiovisuelle Erbe wahrzunehmen. Die Länder haben die Möglichkeit, mit ihrer Gesetzgebungskompetenz und ihrem Gewicht sowohl in den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als auch in den für den Privatrundfunk zuständigen Landesmedienanstalten einen verbindlichen Diskussionszusammenhang herzustellen. Denn von sich aus werden weder der öffentlich-rechtliche noch der private Rundfunk zusätzliche Lasten für die Entwicklung der Archive zu solchen Institutionen auf sich nehmen, die der Bewahrung und Verbreitung des audio-visuellen Kulturerbes verpflichtet sind. Dabei geht es der Initiative nicht darum, Maximalforderungen durchzusetzen und das etablierte Modell der dezentralen Archivierung durch die Produzenten infrage zu stellen, sondern um pragmatische Lösungen für eine schrittweise Verbesserung der Situation. Es gehört dennoch nicht sehr viel Phantasie dazu, um zu prophezeien, dass es zum Erreichen der skizzierten Ziele eines langen Atems bedarf. Für eine zukünftige Zeitgeschichtsschreibung wird sich dieses Engagement aber lohnen; denn ein Verharren in der bisherigen logozentrischen Praxis wird den medialisierten Lebenswelten schon länger nicht mehr gerecht.

 

Anmerkungen: 

1 Vgl. Leif Kramp, Gedächtnismaschine Fernsehen, Bd. 1: Das Fernsehen als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung, Berlin 2011, S. 19-23.

2 Vgl. Annette Vowinckel, Mediengeschichte, Version: 1.0, 11.2.2010.

3 Vgl. Jörg Requate (Hg.), Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, München 2009.

4 Vgl. Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 72-85.

5 Ebd., S. 76; zur epistemologischen Konsequenz vgl. bes. S. 83f.

6 Zur näheren Bestimmung solcher Prozesse siehe Knut Hickethier, Zeitgeschichte in der Mediengesellschaft. Dimensionen und Forschungsperspektiven, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 347-366.

7 Immerhin geraten mit dem „Visual Turn“ zunehmend einschlägige Quellen in den Blick, und in jüngster Zeit wird auch eine „Geschichte des Hörens“ in Angriff genommen. Vgl. Gerhard Paul, Visual History, Version: 1.0, 11.2.2010; sowie demnächst Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011) H. 2: Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhundert, hg. von Daniel Morat, Christine Bartlitz und Jan-Holger Kirsch.

8 Vgl. zum Begriff: Daniel Müller/Annemone Ligensa, Einleitung, in: dies./Peter Gendolla (Hg.), Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte, Bd. 1, Bielefeld 2009, S. 11-27.

9 Namentlich die Historiker haben sich dabei bisher nicht positiv hervorgetan; noch auf dem Historikertag in Konstanz 2006 stimmte eine Mehrheit der Mitglieder des Historikerverbandes gegen eine Resolution, die darauf abzielte, einen verbesserten Zugang zu audiovisuellen Quellen zu ermöglichen. Dagegen hat der Wissenschaftsrat (WR) 2007 eindringlich auf diese Problematik hingewiesen; vgl. WR, Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland, Oldenburg 2007, S. 53-56 und S. 99-106.

10 <https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Artikel/Anbieten/filmproduktionsfirmen.html>; seit 2004 sieht das Bundesarchivgesetz eine Pflichtabgabe für öffentlich geförderte Filme vor.

11 Walter Jens, Vorwort, in: Abteilung Film- und Medienkunst der Akademie der Künste (Hg.), Deutsche Mediathek im Aufbau, Berlin 1990, S. 7.

12 Sie kam insbesondere aus dem Umkreis des an der Universität Siegen angesiedelten Sonderforschungsbereichs „Bildschirmmedien“, der sich erstmals systematisch in historischer Perspektive dem Fernsehen widmete; vgl. Helmut Schanze (Hg.), Nationales Archiv für Audiovision? Vorträge und Diskussionsbeiträge der Jahrestagung 1993 des Sonderforschungsbereichs 240, Siegen 1994.

13 Die Finanzierungszusage des (bezeichnenderweise branchenfremden) Sponsors Veolia Wasser läuft 2012 aus.

14 Vgl. zu den komplexen Gründen des Scheiterns im Einzelnen: Leif Kramp, Happy-End im Trauerspiel? Die Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek“ und Perspektiven für ein „Deutsches Fernsehmuseum“, in: Rundfunk und Geschichte 31 (2005) H. 3-4, S. 5-19.

15 Allerdings steht am Standort Potsdam-Babelsberg das gesamte erhaltene Programm des DDR-Fernsehens und Hörfunks zur Verfügung, und in Frankfurt a.M. befinden sich umfangreiche Tonüberlieferungen, schwerpunktmäßig aus den Jahren vor 1950; vgl. zu den Beständen im Einzelnen: <https://www.dra.de/de/bestaende/>.

16 Beispielsweise sind beim NDR dadurch einzelne Sendeformate vollständig verloren gegangen; vgl. Leif Kramp, Gedächtnismaschine Fernsehen, Bd. 2: Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung in Deutschland und Nordamerika, Berlin 2011, S. 189.

17 Ebd., S. 188.

18 Michael-Dieter Crone/Edgar Lersch, Audiovisuelles Programmvermögen digital – gut für die Besitzer, aber welche Konsequenzen für die Forschung? Vortrag auf der Tagung „Von der Pressegeschichte zur Web History. Forschungsfelder, Methoden und Quellen im Digitalen Zeitalter“ am 21. Februar 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin.

19 Vgl. Edgar Lersch, Verspätete Datensicherung. Der Beitrag der Historischen Kommission der ARD zur Entstehung und Entwicklung der „Historischen Archive“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in: Rundfunk und Geschichte 34 (2008) H. 1-2, S. 18-25.

20 Vgl. European Convention for the Protection of the Audiovisual Heritage. European Treaty Series No. 183, 8.11.2001; Protocol to the European Convention for the Protection of the Audiovisual Heritage, on the Protection of Television Productions. European Treaty Series No. 184, 8.11.2001.

21 Zu den institutionsabhängigen vier Ebenen des Zugangsproblems vgl. Kramp, Gedächtnismaschine Fernsehen, Bd. 2 (Anm. 16), S. 237-240.

22 Vgl. kritisch aus Nutzersicht: Lilli Hobl (Pseudonym), Wege durch die Irrgärten der deutschen Fernseharchive. Aufzeichnungen einer Fernsehhistorikerin, in: Montage/AV 14 (2005) H. 1, S. 93-96; dagegen mit eher positivem Tenor aus Anbieterperspektive: Michael Crone, Vom Suchen und Finden: Sind Fernseharchive Geheimarchive? Vortrag auf der Tagung „Öffentliche Archive – ‚Geheime‘ Informationen. Der Umgang mit sensiblen Daten in Filmmuseen, Archiven und Mediatheken“, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, 10./11. September 2009; Manuskriptfassung online unter URL: <http://www.smb.museum/fileadmin/website/Institute/Institut_fuer_Museumsforschung/Publikationen/Mitteilungen/MIT049.pdf>, S. 179-188.

23 So die Beobachtung von Crone, Leiter der Abteilung Archive und Dokumentation beim Hessischen Rundfunk, ebd.

24 Der WDR hat schon vor geraumer Zeit Nutzeranfragen aus der Wissenschaft mit diesem Argument abgelehnt: „In aller Regel – so auch in Ihrem Fall – können wir keine Hilfestellung anbieten, weil unsere knappen Ressourcen vollständig für Dienstleistungen zugunsten der Programme des WDR gebunden sind“; Brief des WDR an Christoph Classen, 28.3.1994.

25 Zur komplizierten Rechtssituation von Archiv- und Sammlungsorganisationen vgl. Kramp, Gedächtnismaschine Fernsehen, Bd. 2 (Anm. 16), S. 81-102.

26 „Vernichtungsanordnung als vorauseilender Gehorsam“. Pressemitteilung 08/10 des Aktionsbündnisses „Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft“, 21.9.2010.

27 Insbesondere wurde Wert darauf gelegt, dass Vertreter aller beteiligten Gruppen und Disziplinen eingebunden wurden, darunter des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, der Gesellschaft für Medienwissenschaft, der Fachgruppe „Kommunikationsgeschichte“ der Deutschen Gesellschaft für Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie des Studienkreises Rundfunk und Geschichte.

28 Vgl. den Tagungsbericht von Thomas Großmann, Die Quellen der Zukunft. Ein Workshop am Zentrum für Zeithistorische Forschung beschäftigte sich mit der Frage: Wie geht Deutschland mit der Überlieferung der Rundfunk- und Fernsehanstalten um?, in: Rundfunk und Geschichte 35 (2009) H. 3-4, S. 51ff.

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