Wie verarbeiten Menschen die neuen Anforderungen der Arbeitswelt? Wie gehen sie mit ständiger Verfügbarkeit, wechselnden Arbeitsorten oder plötzlichen Entlassungen um? Der Soziologe Richard Sennett (geb. 1943) war 1998 dem »Zauberwort des globalen Kapitalismus« (Klappentext) auf der Spur: der »Flexibilität«. Sein Hauptinteresse galt dem Wandel der Arbeit in den USA und den Konsequenzen für die arbeitenden Menschen.1 Das Repertoire der Politökonomie-Analyse marxistischer Provenienz machte er sich dabei bewusst nicht zu eigen. »Der Fehler des alten Marxismus« sei es gewesen, dass in ihm »keine Menschen vorkamen, sondern lediglich Kategorien«. Die Vertreter:innen dieses Marxismus hätten sich nicht darauf eingelassen, die »Verwirrungen gelebter Erfahrungen zu betrachten«.2 Solche Erfahrungsbrüche stehen im Mittelpunkt von Sennetts zeitdiagnostischem Essay »The Corrosion of Character«. Der Berlin-Verlag gab der deutschen Ausgabe den griffigen Titel »Der flexible Mensch«. Das Buch wurde international zum »Longseller«, und Sennett erhielt in Deutschland diverse hochdotierte Preise. Laudator:innen und Kommentator:innen aus verschiedenen politischen Richtungen waren sich einig: Sennett habe eine wichtige und eingängige Gegenwartsdiagnose vorgelegt.3
Nach 25 Jahren bietet sich eine Re-Lektüre des 200-Seiten-Essays an – nicht nur als Zeitdokument der Verständigung über den Arbeitswandel seit den 1970er-Jahren, sondern auch als kritische Würdigung eines originellen und eigenwilligen Public Intellectual, möglicherweise sogar als Anregung für eine Zeitgeschichte des Kapitalismus. Die ersten beiden Punkte hängen unmittelbar zusammen, denn das Autobiographische hat bei Sennett Methode. Er schreibt aus der Ich-Form und legt dabei verschiedene Positionierungen offen. Dem »Material«, das Sennett erhebt, steht er nicht distanziert und indifferent gegenüber. Vielmehr präsentiert er in »Der flexible Mensch« einen für die akademische Soziologie ungewöhnlichen Arbeits- und Erzählmodus. Er nimmt die Studie zum Anlass für eine erneute Beobachtung von früheren Interviewpartner:innen, die er gemeinsam mit Jonathan Cobb bereits für das 1972 erschienene Buch »The Hidden Injuries of Class« befragt hatte.4 Die amerikanischen Protagonist:innen und Orte aus »Hidden Injuries« werden so zur Folie, mit der Sennett generationellen und arbeitsweltlichen Wandel aufzeigt. Hinzu kommen weitere Fallbeispiele, die er aus seinem persönlichen Umfeld in New York und seinen Alltagsbeobachtungen heraus für Befragungen akquiriert hatte. Im Kern führt Sennett so nacheinander vier größere Fallstudien ein: den migrantischen Aufsteiger Rico, eine Bäckerei in Boston, die Karrierewechslerin Rose und eine Gruppe entlassener IBM-Programmierer. Im Fokus der Kapitel steht jeweils eine Deutungsperspektive (»Drift«, »Routine«, »Flexibilität«, »Unlesbarkeit«, »Risiko«, »Arbeitsethos«, »Scheitern«), die Sennett peu à peu entwickelt und durch die Erfahrungen der Protagonist:innen konturiert.
Sennett agiert dabei nicht nur als soziologischer Beobachter, sondern liefert gleich zu Beginn politische Thesen mit. Die von den Management-Etagen der Großkonzerne ins Werk gesetzte Flexibilisierung sei in erster Linie eine verdeckte Disziplinierung und angestrebte Effizienzsteigerung der Lohnabhängigen. Dieser doppelte Zweck sei nur durchsetzbar, indem er in progressive Werte gekleidet und scheinbar im Sinne der Beschäftigten formuliert werde. Neue Freiheiten und Zeitgewinne seien jedoch mit »neuen Kontrollen« verbunden (S. 11). Luc Boltanski und Ève Chiapello brachten ein Jahr später diese Übernahme vermeintlich emanzipativer Werte wie Selbsterfüllung, Kreativität oder Mobilität in das Management-Ethos als »neuen Geist des Kapitalismus« auf den Punkt.5 Für Sennett war dieser Kulturwandel des Kapitalismus aber noch folgenreicher. Der »Angriff auf den Wohlfahrtsstaat« (S. 192), auf das Normalarbeitsverhältnis und dessen Werte wie Sicherheit und Langfristigkeit, deren Etablierung Sennett in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg projiziert, ist aus seiner Sicht auch eine Herausforderung für die Subjekte. Der auf Kurzfristigkeit setzende flexible Kapitalismus beschädige letztlich den »Charakter« – und damit die Grundbedingung einer solidarischen Gesellschaft.
Die Publikation des Buches fiel Ende der 1990er-Jahre in eine Zeit des sozialpolitischen Umbaus. Wirtschaftswachstum und Globalisierungsbegeisterung hatten sich auch in den Zentren der Industrienationen merklich abgekühlt. Die fordistische Arbeitswelt galt im Zeichen globaler Konkurrenz als reformbedürftig; Gleiches galt für die Wohlfahrtssysteme. In den Niederlanden und in Dänemark wurden unter dem Begriff »Flexicurity« während der 1990er-Jahre sozialpolitische Reformprojekte begonnen, die auf einen Rückbau der Wohlfahrtsstaatlichkeit und eine Aktivierung der Arbeitssuchenden hinausliefen.6 Mit dem Schröder-Blair-Papier avisierten die kurz zuvor gewählten SPD- und Labour-Regierungen 1999 eine weitergehende Deregulierung (»Flexibilisierung«) der Arbeitsmärkte.7 Flexibilität war längst ein polyvalentes Stichwort geworden, mit dem sich gegensätzliche Interessen auf den Punkt bringen ließen: von arbeitnehmerfreundlichen Rationalisierungsmaßnahmen im Rahmen einer »Humanisierung der Arbeitswelt« über neue Lebensstile bis hin zu den Kapitalinteressen von Unternehmen und Märkten.8 Eine »Krise des Normalarbeitsverhältnisses« hatten deutsche Soziologen schon in den 1980er-Jahren beklagt. Im Kern ging es bei der damit verbundenen Debatte um die Frage, ob die arbeitsrechtlich und moralisch normierte Erwerbsarbeit im Zeichen von Massenarbeitslosigkeit und neuen »Flexibilisierungsinstrumenten« (beispielsweise Leiharbeit) noch ein Integrationskern der Gesellschaft sein könne – oder ob die »Arbeitsgesellschaft« (Claus Offe) vor ihrem Ende stehe.9 Ab Mitte der 1990er-Jahre hatte sich ausgehend von Frankreich zudem der Begriff »prekär« für einen (vermeintlich) neuartigen Zustand der Arbeitsverhältnisse etabliert.10 Pierre Bourdieu konstatierte Ende 1997: »Prekarität ist überall«. Damit meinte er eine alle Bevölkerungsschichten betreffende Unsicherheit, die unter dem Deckmantel der »vielzitierten ›Flexibilität‹« politisch gewollt sei.11 Im Rückblick besteht Sennetts Beitrag vor allem darin, diesen zeitdiagnostischen, aber schwammigen Begriff auf der Ebene konkreter Erfahrungen in der Arbeitswelt analysiert zu haben.
Sennetts Darstellungsform und sein Argumentationsgang verdienen einen genaueren Blick. Aufschlussreich sind vor allem die ersten beiden Fallbeispiele. Zu Beginn des Buches steht zunächst der Protagonist Rico im Vordergrund. Sennett trifft diesen zufällig auf einer Flugreise und erkennt ihn als Sohn seines damaligen Interviewpartners Enrico wieder. Es kommt zu einem nacherzählten Gespräch, das den anekdotischen Rahmen für zeitdiagnostische Analysen bereithält. Enrico war als Hausmeister beschäftigt und konnte sich dank Tarifvertrag ein Auskommen in der unteren Mittelklasse einer US-amerikanischen Vorstadt erarbeiten. Die Biographie und das Zeitempfinden Enricos beschreibt Sennett als linear: Durch finanziellen Aufstieg und Mobilität aus dem Migrantenviertel hin zum Vorstadt-Eigenheim sei das Leben planbar und erzählbar gewesen. Sennett verschweigt nicht, dass Sexismus und Rassismus an der Tagesordnung waren, beschreibt in der Hauptsache aber eine gelungene biographische Verankerung in der Nachbarschaft, soziale Anerkennung und den ambivalenten Stolz auf die ungeliebte, doch jahrzehntelang penibel ausgeübte Arbeit (S. 16-18). Aufsteigersohn Rico hingegen ist ein »Drifter«, seine Erfahrung ist in hohem Maße diskontinuierlich.12 Er hat studiert und sich nach diversen Technikberatungsjobs als Consultant selbstständig gemacht. Seine Ehefrau leitet ein Team von Buchhalter:innen, das größtenteils von zuhause aus arbeitet. Rico wird von Sennett als flexibles Subjekt vorgestellt, das unter den Bedingungen der neuen Arbeit zunehmend leidet. Die vielen beruflichen Umzüge – teils auch für die Karriere der Ehefrau – und Entlassungen wegen Umstrukturierungen haben sein Sicherheitsgefühl aufgelöst. In den wechselnden Nachbarschaften und bei der Arbeit wird Rico nicht als Teil einer emotionalen Gemeinschaft anerkannt, sondern nur über seinen aktuellen Job flüchtig wahrgenommen. Er selbst und seine Partnerin kommen nicht an. Sie beklagen den Verlust von Kontrolle über die eigene Arbeitserfahrung und den Lebensweg. In der gemeinsamen Kindererziehung stolpern die beiden über die Aufgabe, dem Nachwuchs Vertrauen und Loyalität nahezulegen – Tugenden, die sie selbst in ihrem Alltag nicht verkörpern (S. 30f.). Rico nimmt eine wertkonservative Haltung an; er klagt über »flache Hierarchien« und die Verlogenheit des Teamworks. Sennett sieht in diesem persönlichen Konservatismus einen ideellen Ersatz für langfristige soziale Bindungen und Sicherheit.
Als Sennett Anfang der 1970er-Jahre für »The Hidden Injuries of Class« eine Bostoner Bäckerei untersucht hatte, herrschten dort miserable Zustände. Zu den unwürdigen Arbeitsbedingungen gehörten Rassismus, aber auch ein »diffuses Klassenbewusstsein« der griechenlandstämmigen Arbeiter (S. 83). Die neue Belegschaft, der Sennett bei seiner späteren Befragung begegnet, besteht aus ungelernten Kurzzeitjobbern, eine »Bouillabaisse von Abstammung, Geschlecht und Rasse«, für Sennett eine Situation der Unübersichtlichkeit und Unlesbarkeit (S. 86). Neue, digitale Arbeitsprozesse mit Brotbackmaschinen haben den Alltag einfacher und hygienischer gemacht, aber für die arbeitenden Subjekte scheint die Selbstdeutung blockiert, denn niemand dort versteht sich noch als Bäcker:in oder als Working Class. Daraus folgt das kulturkritische Argument, das Sennett später in seiner »Homo-Faber-Trilogie« weiter ausgebreitet und normativ grundiert hat: Die »Bäcker:innen« wissen eigentlich gar nicht mehr, wie man handwerklich ein Brot backt. Mit dem Verlust von Wissen und Fertigkeiten gingen ein Bedeutungsverlust der Arbeit und ein Defizit an Sinn einher. Die Beschäftigten seien nicht mehr im Arbeitsprozess aufeinander bezogene Menschen, die Vertrauen und Solidarität lernten. Stattdessen herrsche eine entpolitisierte Individualisierung vor.13
Während Sennett die Entstehung und Auswertung seines Materials teilweise offenlegt, bleibt sein Stil eher klassisch linksintellektuell. Auf soziologischen Fachjargon verzichtet er zwar weitgehend oder erläutert diesen kurz. Sennett nutzt aber umfangreiche historische bzw. literarische Bezüge, um analytische Überlegungen einzuführen und zu entwickeln. Die Rückgriffe reichen bis in die Antike; sie decken das tradierte Spektrum von westlicher Aufklärungsliteratur und Klassikern der Politökonomie ab. Auch akademische Zeitgenoss:innen des Autors kommen zahlreich zu Wort, doch befasst sich Sennett selten länger als wenige Sätze mit dem empirischen Material oder den theoretischen Annahmen der Zitierten, die meist als Vignetten nur einen bestimmten Gedanken unterstreichen – und dann manchmal mehrere Kapitel später erneut als Stichwortgeber:innen aufgegriffen werden. Immer wieder kehrt Sennett zur Erfahrungsebene seiner Protagonist:innen zurück, die dicht und einfühlend beschrieben und beurteilt wird. Den Fokus auf die gelebten Erfahrungen nennt er gleich im Vorwort und macht ihn auch als Stilmittel kenntlich. Sennett gibt unumwunden preis, er habe zur Stärkung der literarischen Kohärenz »mitunter die Bündelung mehrerer Stimmen zu einer oder die Aufspaltung einer in viele Stimmen« vorgenommen. Das sei nur konsequent, »denn diese Kohärenz gibt es jetzt in realen Lebensläufen nicht mehr« (S. 13). Die Soziologie, so soll man wohl folgern, kann im Zeitalter der Flexibilisierung keine in sich geschlossenen biographischen Erzählungen (re-)konstruieren.
In seiner Preisrede von 2008 bei der Gerda-Henkel-Stiftung hat Sennett seine Darstellungstechnik als »soziologische Literatur« zusammengefasst. Das Ziel sei, »dieses Gefühl gelebter Erfahrung [...] durch geschriebenen Text hervorzurufen«.14 Er sei »sozusagen eine Mischung aus Robert Musil und Max Weber«.15 Wissenschaftliche Ungenauigkeiten, vor allem eine einseitige Rezeption der Forschung zugunsten der Argumentation, lassen sich bei diesem Vorgehen leicht auffinden. Besonders markant ist etwa die eigenwillige Verwendung des (im Original titelgebenden) Begriffes »Charakter«, den Sennett entgegen alltagssprachlicher und fachlicher Konventionen nicht als Ausdruck der Innerlichkeit, sondern (im Sinne der psychologischen »Persönlichkeit«) als sozial entwickelt begreift, wie Hartmut Rosa mit Blick auf Sennetts Lehrer Erik Erikson herausgearbeitet hat.16 Schon 1985 hatte ein Rezensent Sennetts »cavalier disregard of footnotes« kritisiert.17 Zwar bleiben so auch die eher analytischen Abschnitte gut lesbar, doch unbelegte Aussagen finden sich in fast allen Teilen des Buches. Der eingängige Stil und der Wiedererkennungswert der geschilderten Phänomene waren eben auch Markenzeichen, die das Feuilleton ausgiebig lobte und auf die das öffentliche Interesse an Sennetts Schriften zurückgeführt wurde.18 Der kulturkritische Subtext – Sennett äußerte schließlich nicht nur politökonomische Kritik an der Flexibilisierung – bildete einen gemeinsamen Nenner für sehr gegensätzliche Leser:innengruppen. In der konservativen Presse wurde das Buch gleichwohl auch verspottet. Sennett präsentiere sich mit seiner Beschreibung des Gefühlslebens der Betroffenen als »Rosamunde Pilcher der Industriesoziologie«, so Jürgen Kaube in der »FAZ«. Analytisch habe der Text kaum mehr zu bieten als »Rührstücke der kritischen Theorie«.19
Worin besteht nun das Anregende an Sennetts »Longseller« für die Zeitgeschichte? Nach einer elaborierten Theorie oder Geschichte der Flexibilisierung sucht man in dem Essay tatsächlich vergebens. Sennett bietet eingangs drei verschränkte Prozesse der Unternehmensführung zur näheren Untersuchung an: das »Re-Engineering« der Unternehmensbürokratien, die flexible Spezialisierung der Produktion und die »neoliberale« Konzentration der Macht ohne Zentralisation. Im Laufe des Textes werden diese Prozesse zwar wieder aufgegriffen und etwas konkretisiert, es bleibt aber in hohem Maße schwammig, was hier genau bezeichnet wird und für welche Untersuchungsräume und -zeiten die Aussagen gelten sollen. Das qualitative Material, die Interviews, die Sennett ins Feld führt, lassen sich damit auch schwerlich kontextualisieren, denn nur selten geht es darin um Unternehmenshandeln. Hier zeigt sich eine Vorliebe Sennetts für Management-Literatur, aus der er Vorstellungen von Prozessen und begleitenden Imperativen gewinnt, die er allerdings nicht an empirischen Daten prüft. Wie der Soziologe Klaus Dörre in einer Besprechung gezeigt hat, eignet sich die genannte Begriffstrias auch überhaupt nicht zur Klärung von Flexibilisierungsprozessen der US-amerikanischen Wirtschaft, geschweige denn der sozialpartnerschaftlichen europäischen Ökonomien.20 Aus Sicht der quantitativen Arbeitssoziologie lässt sich sogar bestreiten, dass im »Westen« ein genereller Wandel zu unsicherer Beschäftigung stattgefunden habe. Sennett verdecke vielmehr, so der britische Soziologe Ralph Fevre, dass es flexible oder prekäre Arbeit massiv schon seit Beginn des Kapitalismus gebe.21
Aus der Perspektive der Gegenwart fällt neben der fehlenden Flexibilisierungstheorie oder -geschichte die Abwesenheit eines weiteren epochemachenden Prozessbegriffes auf: »Digitalisierung« wird vor allem in den späten Kapiteln zu den IBM-Programmierern evoziert, aber nicht konsequent als neue Qualität des Arbeitswandels analysiert. Bei der Lektüre stellt sich so unweigerlich das Gefühl einer Antiquiertheit ein, wenn etwa das Internet als zentrales Medium neuer Arbeitspraktiken und Subjektivierungen eher am Rande vorkommt. Es gelingt Sennett jedoch trotzdem, analytische Spannung zu erzeugen, denn er changiert mit seinen Fallstudien zwischen »alten« und »neuen« Jobs. So gerät einerseits der durch digitale Arbeitspraktiken bewirkte Wandel der alten Berufe in den Blick, andererseits die disruptive Kultur des Tech-Work – gemeinsam vermittelt über die Ebene der subjektiven Erfahrungen. Allerdings vermeidet es Sennett, die von ihm diagnostizierte neue soziale Kurzfristigkeit stärker an den Vormarsch digitaler Arbeit rückzubinden.22
Das Buch hat seine Stärken dort, wo Sennett als Beobachter der kulturellen und subjektivierten Folgen entsicherter Arbeit auftritt, nicht als Diagnostiker oder Prognostiker des Arbeitswandels selbst.23 Damit popularisierte Sennett (wenn auch als theoretischer Außenseiter) einen Zugriff auf die Erforschung des Sozialen, der sich als »subjektorientiert« bezeichnen lässt. Gerade in Deutschland war die Industrie- und Arbeitssoziologie während der 1990er-Jahre der »Subjektivierung von Arbeit« nachgegangen, was wohl auch die fachliche und öffentliche Rezeption Sennetts befördert hat.24 Wie Wiebke Wiede treffend beschreibt, brachte Sennett eine bestimmte »Subjektform« des zeitgenössischen Kapitalismus auf den Punkt.25 Mit dem »Scheitern« thematisierte er etwa eine Subjektivierungsweise dieser Arbeitswelt, die nach mehreren Jahrzehnten der Selbsthilfe-Literatur wohl kaum mehr ein »großes modernes Tabu« (S. 159) sein dürfte, aber weiter auf ihre sprengenden oder auch stabilisierenden Funktionen hin untersucht werden müsste.26 Einen konsequenten Fokus auf das Subjekt wählte Sennett indes nicht. Die Engführung entlang der Arbeitsorganisation verdeckt stellenweise parallele und kreuzende Kontexte wie die Migrationsbiographien der Protagonist:innen, veränderte Geschlechterordnungen, soziale Mobilität und »Wertewandel«, die Sennett nicht als Handlungsmotivationen ernstnimmt und die sich nicht alle aus den Bedingungen der Arbeitswelt erklären lassen.27 Auch die Partizipationsbereitschaft größerer Teile der Bevölkerung an flexiblen Arbeitsarrangements blendet Sennett aus, um das eigene Argument zu stärken. Anfang der 1990er-Jahre hatten deutsche Soziolog:innen etwa »Zeitpioniere« beschrieben, die arbeitszeitliche Flexibilisierung als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls selbst einforderten.28 Sennett dagegen verkürzt die für die betroffenen Subjekte ambivalenten Verheißungen und Zumutungen der Flexibilität in der Tendenz auf ihre negativen Effekte.
Für heutige Debatten anschlussfähig ist Sennetts konsequente Fokussierung auf Temporalität. Diesem »Gewebe der Macht« (S. 73) schenkt er durchweg besondere Aufmerksamkeit. Sennett beobachtet die Ablösung einer fordistischen »metrischen Zeit« (Daniel Bell) durch das Regime einer flexiblen Zeit. War die Arbeitszeit im Fordismus wegen ihrer alltagsnormierenden Funktion noch Gegenstand von Arbeitskämpfen und kollektivem Handeln, habe sich die praktische und normative Verantwortung für die eigene Zeit durch neue Arbeitsweisen nun in Richtung des Individuums verschoben, während alte Machtstrukturen – vor allem die Kommandomacht der Kapitaleigner – erhalten blieben. Das verdeutlicht Sennett etwa am Beispiel der »Heimarbeit«, der Ricos Partnerin Jeanette nachgeht. Sie bestimmt ihren Arbeitsort selbst, aber der Arbeitgeber hat ein dichtes Netz der elektronischen Kontrolle (per Telefon oder E-Mail) eingerichtet. Die Arbeitszeit wirke dereguliert, die »Stechuhr« sei jedoch nur in das Medium des Computers gewandert, während sich Kontrolle und Macht verdichteten (S. 74f.). Zeit- und Leistungsdruck existieren für Sennett nun nicht mehr vorrangig an den Arbeitsorten des Fordismus (vor allem in den Fabriken), sondern prinzipiell überall. Mit dem Ende linearer Arbeit und linearer Karrieren sei auch die lineare Zeit aus den Fugen geraten. Diese »Zeitbrüche« (S. 199) werden für die flexiblen Subjekte vor allem in entstandardisierten Biographien erfahrbar; sie wandern von der Arbeitswelt in sämtliche Bereiche des sozialen Lebens.29 In das Zeitregime, das stellt Sennett heraus, sind Geschlechterungleichheit und Klasse eingewoben. Auch mit dieser Perspektive auf Zeitlichkeit war Sennett kein Vorreiter, wohl aber ein Popularisierer und Stichwortgeber.30 Er versteht Zeitlichkeit vom Subjekt und dessen Einbindung in die Arbeitsgesellschaft her, was zu einer nüchternen Bewertung späterer Konzepte wie »Zeitsouveränität« einlädt. Diese wird in einer flexiblen Arbeitswelt nicht einfach zu Gunsten der Subjekte gewährt, sondern muss vielmehr gegenüber den Imperativen der Lohnarbeit verteidigt werden.31 Die Vergesellschaftung im Kapitalismus über dessen widersprüchliche und wandelbare Zeitordnungen nachzuvollziehen bleibt ein vielversprechendes zeithistorisches Projekt.32
Die normative Warnung, die Sennett aus seinen Beobachtungen ableitet, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Durch die Kurzfristigkeit in der Arbeitswelt erodieren die mentalen und moralischen Bedingungen der sozialen Moderne. Der Verlust »durchgängiger« Biographien und die verweigerte Anerkennung, »anderen wichtig zu sein«, zerstöre das Vertrauen in die tragenden Institutionen des Gemeinwesens, in Nachbarschaften, Vereine, Familien, Kirchen, Gewerkschaften.33 Im Fazit wirkt Sennett selbst der Lesart entgegen, er sei ein linker Nostalgiker – die sich bei der vollständigen Lektüre durchaus aufdrängt. Einen Weg zurück in den als »gesichert« und »eingehegt« verbrämten Industriekapitalismus gebe es nicht. In den »Schlafstädten, in denen sich die Bewohner praktisch alle drei bis vier Jahre austauschen« (S. 191), müssten sich, so die Hoffnung, lokale Gemeinschaften neu gründen, die zu einem »gefährlichen Wir« für die anonymen Flexibilisierungsprozesse und ihre Profiteur:innen werden könnten. Abseits des politisch-moralischen Pathos bleibt Richard Sennetts Interesse an den Subjekten des inzwischen nicht mehr ganz »neuen« Kapitalismus, an ihren Biographien und ihrer Anrufung durch staatliche und wirtschaftliche Akteure inspirierend.
Anmerkungen:
1 Der charakterlose Kapitalismus. Ein ZEIT-Gespräch mit dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett, in: ZEIT, 26.11.1998. Ich danke Christopher Neumaier und den Mitgliedern der Redaktion für zahlreiche Hinweise und Kommentare.
2 Brauchen wir wieder Utopien, Herr Sennett?, in: Tagesspiegel, 6.5.1998.
3 Christian Geyer, So gehen Bestseller. Versachlichung gegen die Tyrannei der Intimität: Zum Achtzigsten des Soziologen Richard Sennett, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.12.2022. Sennett wurde u.a. mit dem Preis »Das politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung (1999), dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart (2006) und dem Gerda-Henkel-Preis (2008) ausgezeichnet.
4 Stephan Lorenz, Erkundungen. In Gesellschaft Richard Sennetts, in: ders. (Hg.), In Gesellschaft Richard Sennetts. Perspektiven auf ein Lebenswerk, Bielefeld 2021, S. 9-37, hier S. 26. Die Studie von 1972 wurde 2023 mit einem neuen Vorwort wieder aufgelegt. Sennett spürt darin den Zumutungen deklassierter Arbeit sowie den Eigensinnigkeiten und Identitätsbehauptungen der Betroffenen nach: Richard Sennett/Jonathan Cobb, The Hidden Injuries of Class, London 2023.
5 Luc Boltanski/Ève Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris 1999; dies., Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Mit einem Vorwort von Franz Schultheis, Konstanz 2006.
6 Ton Wilthagen, Flexicurity: A New Paradigm for Labour Market Policy Reform?, WZB Discussion Paper, No. FS I 98-202, Berlin 1998.
7 Der ehemalige Schröder-Weggefährte und SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine bezog sich in seiner Abrechnung mit dem »dritten Weg« nach seinem Rücktritt tatsächlich auf Sennetts »Der flexible Mensch«. Siehe das gleichnamige Kapitel in: Oskar Lafontaine, Das Herz schlägt links, Düsseldorf 1999, S. 267-273.
8 Dietmar Süß, Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 109-128; Bernhard Dietz, Von der Humanisierung zur Flexibilisierung der Arbeit. Der »Wertewandel« in der Wirtschaft der 1980er-Jahre am Beispiel von BMW, in: Nina Kleinöder/Stefan Müller/Karsten Uhl (Hg.), »Humanisierung der Arbeit«. Aufbrüche und Konflikte in der rationalisierten Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2019, S. 185-213.
9 Ulrich Mückenberger, Zur Krise des Normalarbeitsverhältnisses – Thesen, in: Jürgen Friedrichs (Hg.), 23. Deutscher Soziologentag 1986. Sektions- und Ad-hoc-Gruppen, Opladen 1987, S. 115-118; Claus Offe (Hg.), »Arbeitsgesellschaft«. Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt a.M. 1984. Vgl. dazu auch Nicole Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen »Normalarbeitsverhältnis« zu prekärer Beschäftigung seit 1973, Berlin 2003.
10 Siehe v.a. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer, Konstanz 2000, 2. Aufl. 2008; dazu im Überblick: Sibylle Marti, Precarious Work – Informal Work. Notions of ›Insecure‹ Labour and How They Relate to Neoliberalism, in: Journal of Modern European History 17 (2019), S. 396-401.
11 Pierre Bourdieu, Prekarität ist überall, in: ders., Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 96-102.
12 Auf den Stellenwert der Analyse diskontinuierlicher Erfahrungen zum Verständnis des neoliberalen Wandels hebt Ulrich Beck in seiner Hegel-Preis-Laudatio ab: Ulrich Beck, Tragische Individualisierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 52 (2007), S. 577-584.
13 Richard Sennett, Handwerk, Berlin 2008; ders., Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, München 2012; ders., Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens, München 2018. Alle drei Bücher hat Michael Bischoff aus dem Amerikanischen übersetzt.
14 Richard Sennett, Wie ich schreibe: Soziologie als Literatur, in: ders., How I Write: Sociology as Literature/Wie ich schreibe: Soziologie als Literatur. Verleihung des Gerda Henkel Preises 2008, hg. von der Gerda Henkel Stiftung, Münster 2009, S. 75-89, hier S. 77.
15 Armin Pongs/Richard Sennett, Die flexible Gesellschaft, in: Armin Pongs (Hg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, München 2000, S. 265-291, hier S. 271.
16 Hartmut Rosa, Charakter, in: Lorenz, In Gesellschaft Richard Sennetts (Anm. 4), S. 39-53.
17 T.J. Jackson Lears, The Two Richard Sennetts, in: Journal of American Studies 19 (1985), S. 81-94, hier S. 81.
18 Exemplarisch: Dieter Rulff, Was der flexible Mensch gewinnt – und verliert. Richard Sennett, amerikanischer Soziologe und Kulturkritiker, schildert das Ende der durch Kontinuität bestimmten Arbeitsbiographien und die Erfahrung zusammenhangloser Zeit, in: taz, 7.4.1998.
19 Jürgen Kaube, Alle Räder kreischen schrill. Richard Sennett eilt durch die Maschinenräume des Turbokapitalismus und tröstet die Werktätigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.3.1998.
20 Klaus Dörre, Das Regime der flexiblen Zeit. Richard Sennetts »Der flexible Mensch«, in: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik 36 (1998), S. 169-172.
21 Ralph Fevre, Employment Insecurity and Social Theory. The Power of Nightmares, in: Work, Employment and Society 21 (2007), S. 517-535; dazu auch: Timo Luks, Prekarität. Eine nützliche Kategorie der historischen Kapitalismusanalyse, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 51-80.
22 Ansätze dazu in: Michael Homberg/Laura Lükemann/Anja-Kristin Abendroth, From ›Home Work‹ to ›Home Office Work‹? Perpetuating Discourses and Use Patterns of Tele(home)work since the 1970s: Historical and Comparative Social Perspectives, in: Work Organisation, Labour & Globalisation 17 (2023), S. 74-116.
23 Dale Tweedie, Making Sense of Insecurity. A Defence of Richard Sennett’s Sociology of Work, in: Work, Employment and Society 27 (2013), S. 94-104.
24 Im Überblick: Bettina Langfeldt, Subjektorientierung in der Arbeits- und Industriesoziologie. Theorien, Methoden und Instrumente zur Erfassung von Arbeit und Subjektivität, Wiesbaden 2009.
25 Wiebke Wiede, Das arbeitslose Subjekt. Genealogie einer Sozialfigur in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Boom, Göttingen 2023, S. 23. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung, Berlin 2023, S. 402-408.
26 Julia Kleinschmidt/Nina Mackert/Georg Wamhof, Scheitern. Editorial, in: WerkstattGeschichte 71 (2015), S. 3-6.
27 Lorenz, Erkundungen (Anm. 4), S. 28; Alexandra Scheele, Arbeit, in: Lorenz, In Gesellschaft Richard Sennetts (Anm. 4), S. 123-138.
28 Karl H. Hörning/Anette Gerhard/Matthias Michailow, Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeiten – neuer Lebensstil, Frankfurt a.M. 1990.
29 Dazu: Andreas Wirsching, Erwerbsbiographien und Privatheitsformen. Die Entstandardisierung von Lebensläufen, in: Thomas Raithel (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 83-98.
30 Nach wie vor stilprägend: Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1989.
31 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, 12. Aufl. 2020; Ulrich Mückenberger, Metronome des Alltags. Betriebliche Zeitpolitiken, lokale Effekte, soziale Regulierung, Berlin 2004.
32 Dazu grundlegend: Dietmar Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen. Überlegungen zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der »Flexibilisierung« 1970–1990, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 139-162; Alexander C. T. Geppert/Till Kössler, Zeit-Geschichte als Aufgabe, in: dies. (Hg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 7-36; im Überblick: Caroline Rothauge, Es ist (an der) Zeit. Zum »temporal turn« in der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 729-746.