Positive Poster

Schwule Männlichkeiten auf Plakaten zur Aids-Prävention

  1. Einführung: Drei Beispiele
  2. Hypersexualisierung
  3. »AIDS hat ein Gesicht«
  4. Gay Clones und Aesthetic Boys
  5. Fazit

Anmerkungen

1. Einführung: Drei Beispiele

Wirft man einen Blick in die Aids-Plakatsammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden oder in die Bestände zu diesem Thema im Deutschen Plakat Museum im Museum Folkwang in Essen, so findet man etwa dies: Eine Trans-Person1 mit rotgeschminkten Lippen und farbenprächtig schattierten Augenlidern blickt ernst und fordernd in die Kamera. »DON’T STOP PASSION, STOP AIDS«, steht in Versalien über dem Porträt geschrieben, das eine Plakatkampagne ziert, die vom Ministerium für Gesundheit in Luxemburg 1996 in Auftrag gegeben wurde (Abb. 1). »Strength comes from being safe«, ist auf einem anderen Plakat von 1994 aus Neuseeland zu lesen, auf dem sich zwei junge Maori sinnlich in weißen Laken räkeln (Abb. 2).2 Wieder ein anderes Plakat, das 1986 von der Gesundheitsaufklärungsorganisation HERO in Baltimore herausgegeben wurde, zeigt zwei muskulöse Männer in Unterhemden, deren Körperhaltung zwischen Posing und Striptease changiert. »You won’t believe what we like to wear in bed«, ist darauf zu lesen (Abb. 3). Die Botschaft dieser drei Plakate ist angesichts der Slogans, des konkreten Imperativs im Plakattext (»Use Condoms«) oder des logoähnlich platzierten Kondoms am unteren rechten Plakatrand unmissverständlich: »Benutzt Kondome, sie schützen vor Aids«. Damit können die Plakate als Beispiele für eine Präventionsstrategie gelesen werden, die in vielen Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre dominierte. Das Ziel lautete, über Infektionswege aufzuklären und für ein Verhalten zu werben, das vor Ansteckung schützen sollte. Dieser Konsens, auch »liberale AIDS-Politik« genannt,3 setzte verstärkt auf Eigenverantwortlichkeit; der Fokus lag vor allem auf Botschaften wie safer sex und safer use.

Er. Die Zeitschrift des Herrn 13 (1963) H. 9, S. 35; Foto: David Drew Zingg. Nur wenig später, am 22. November 1963, wurde der hier abgebildete John F. Kennedy ermordet.
Abb. 1: »DON’T STOP PASSION,
STOP AIDS.«
Bundesministerium für Gesundheit Luxemburg, 59,5 x 42,1 cm, ca. 1996
(© COMED, Leudelange; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 2: »strength comes from being safe«. Auckland Community Outreach Centre, Maori Youth Project Te Waka Āwhina Takataapui Tase Auckland, 42,5 x 59,3 cm, ca. 1994 (Plakatsammlung, Museum für Gestaltung Zürich, Zürcher Hochschule der Künste)
Abb. 2: »strength comes from being safe«.
Auckland Community Outreach Centre,
Maori Youth Project Te Waka Āwhina Takataapui Tase Auckland,
42,5 x 59,3 cm, ca. 1994
(Plakatsammlung, Museum für Gestaltung Zürich, Zürcher Hochschule der Künste)
Abb. 3: »›You won’t believe what we like to wear in bed.‹« Health Education Resource Organization (HERO), USA, 43,2 x 27,9 cm, 1986 (Foto: Allan Sprecher; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2012/424)
Abb. 3: »›You won’t believe what we like to wear in bed.‹« Health Education Resource Organization (HERO), USA, 43,2 x 27,9 cm, 1986
(Foto: Allan Sprecher; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2012/424)

Darüber hinaus eint die drei Plakatmotive, dass sie sich an schwule, bi- oder transsexuelle Männer richten, an subordinierte Gruppen also, die seit dem Aufkommen der bis dato unbekannten Krankheit zu den Hauptrisikogruppen gezählt und als Bedrohung für die Gesundheit der »allgemeinen« Bevölkerung stigmatisiert wurden. Auf den Plakaten in Neuseeland und den USA überschnitten sich die Diskriminierungskategorien mit ethnischen Gruppenzugehörigkeiten, was veranschaulicht, dass besonders vulnerable Gruppen häufig einem Geflecht gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse und Diskriminierungsprozesse ausgesetzt sind. Da in den Anfangsjahren (1980–1985) von einer »Gay Plague« bzw. von einer »Seuche« die Rede war, die sich aufgrund »lustbedingter« Verhaltensweisen wie Sex und Drogenkonsum verbreite,4 standen durch Aids vor allem Homosexuelle im Fokus des öffentlichen Interesses. Dabei waren diese Menschen häufig ohnehin Opfer von Gewalt und Diskriminierung: »AIDS zu bekommen bedeutet in den meisten Fällen, als Angehöriger einer ›Risikogruppe‹, einer Gemeinschaft von Ausgestoßenen, entlarvt zu werden«, schrieb Susan Sontag 1989 in ihrem Essay »Aids und seine Metaphern«.5 Schwule, die aufgrund ihrer Abweichung von dominanten Normen und Werten per se die Erfahrung machten, als »Ausgestoßene« oder »Andere« der Gesellschaft stigmatisiert zu werden, wurden im Kontext von Aids zusätzlich zu bedrohlichen Körpern erklärt. Damit wurde die Krankheit für diese Gruppen nicht nur zur gesundheitlichen, sondern auch zur politischen Gefahr – nicht zuletzt, weil die erst in den 1970er-Jahren erlangten Freiheiten und Liberalisierungen auf dem Spiel standen.

Obwohl alle drei Plakate also Aids-Prävention durch safer sex propagieren und sich an queere Männer richten, könnten sie doch unterschiedlicher kaum sein. Denn die drei Motive konfrontieren uns mit ganz unterschiedlichen Darstellungen schwuler Männlichkeit: Der Männerkörper wird in Abweichung von der Genderkonformität abgebildet (Luxemburg), in erotischer Sinnlichkeit inszeniert (Neuseeland) oder als makelloser, muskulöser Männertorso abgebildet (USA). Zwar liegen zwischen dem Motiv aus den USA und der luxemburgischen Kampagne rund zehn Jahre, was den offeneren Umgang mit Themen wie Transgender erklärt, doch verweisen die Motive auch auf stilistische Vorlieben und unterschiedliche Interessen der Auftraggeber*in­nen. »Hätte man nur auf die biologische Tatsache, dass es sich um eine ansteckende Krankheit handelt, zurückgreifen müssen, würden die AIDS-Plakatsammlungen ganz anders aussehen, viel direkter und sicherlich viel monotoner«, schreiben Vladimir Čajkovac und Kristina Kramer-Tunçludemir in ihrem Katalogbeitrag zur Aids-Plakate-Ausstellung im Museum Folkwang in Essen 2020.6 Aids war weit mehr als nur ein gesundheitliches Thema. Aids war ein soziales Phänomen, das geltende Vorstellungen über Sexualität, Krankheit und den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten grundsätzlich herausforderte. Zusammen mit dem Virus verbreiteten sich auch Ängste, Vorurteile und verschiedenste Interpretationen der Krankheit. 1987 beschrieb die US-amerikanische Geschlechterforscherin Paula A. Treichler diese zweite Dimension der Aids-Epidemie folgendermaßen: »AIDS is a nexus where multiple meanings, stories, and discourses intersect and overlap, reinforce, and subvert one another. Yet clearly this mysterious male homosexual text has figured centrally in generating what I call here an epidemic of signification.«7

Die Plakate der Anti-Aids-Kampagnen und deren Bilder geben als Zeitdokumente Aufschluss über jene damaligen Debatten, über die Geschichten, Vorurteile und Bedeutungsebenen dieser »epidemic of signification«. Plakate konnten verhältnismäßig schnell produziert und im öffentlichen Raum angebracht werden, weswegen sie neben ihrer Funktion als Kommunikationsmittel auch einen Einblick in gesellschaftliche Diskurse bieten. Als institutionalisierte bildnerische Praxis repräsentieren sie nicht einfach die sozialen Verhältnisse, sondern konstituieren und organisieren diese aktiv mit. In einer Phase vor dem unendlich konnektiven Internet erwiesen sich gerade der Stadtraum, der Bar-Tresen und das ärztliche Wartezimmer als wichtige Orte für die Aushandlung sozialer Themen: Hier fanden die zahlreichen Bilder ihren Weg in die Öffentlichkeit, gaben Aufschluss über Werte und Bedeutungen in der Gesellschaft und beeinflussten vice versa wiederum das Nachdenken und Sprechen über Aids. Die unterschiedlichsten politischen, religiösen und wirtschaftlichen Interessengruppen beteiligten sich weltweit an der Debatte über Aids und suchten nach einer adäquaten, auch visuellen Thematisierung von Krankheit und Sexualität. So wurden die ersten Anti-Aids-Kampagnen in den USA von Selbsthilfegruppen und NGOs initiiert, die damit vor allem auf die Untätigkeit des damaligen Präsidenten Ronald Reagan rea­gierten.8 Erst seit Mitte der 1980er-Jahre entstanden dann zahlreiche Plakate als Teil staatlicher Präventionskampagnen, die zusammengenommen heute ein enormes Bildkorpus ausmachen, das uns Einblicke in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über den schwulen männlichen Körper ermöglicht.

Viele Aids-Plakate haben ihren Platz mittlerweile in Archiven und musealen Sammlungen gefunden. Einen beachtlichen Bestand bietet die schon erwähnte Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden,9 die mit ca. 10.000 Exemplaren aus 147 Ländern wohl die umfangreichste Kollektion ihrer Art darstellt.10 Im Rahmen des Forschungsprojekts »AIDS als globales Medienereignis. Plakate und ihre Bildsprache im internationalen Vergleich« fand 2013/14 eine Basiserschließung statt. Im Zuge dieses Vorhabens wurden nicht nur die Plakate digitalisiert, sondern zugleich die Bildinhalte kategorisiert. Während in Dresden vor allem Präventionsplakate von öffentlichen Herausgebern gesammelt werden, verfügt das Museum Folkwang in Essen über eine ca. 2.000 Plakate umfassende, ebenfalls internationale Sammlung zum Thema Aids, die ihren Fokus auch auf eigenständige Arbeiten von Künstler*innen und Aktivist*innen legt und derzeit digitalisiert wird. Da es sich bei Plakaten um Medien handelt, die zum Zeitpunkt ihrer Distribution in größeren Auflagen verfügbar waren, kommt es bei den Motiven staatlicher Kampagnen durchaus zu Dopplungen in den zwei Archiven. Erst mit Blick auf kleinere, private Herausgeberschaften unterscheiden bzw. ergänzen sich die beiden Sammlungen. Die Bestände werden sowohl in Dresden als auch in Essen ständig erweitert.

Die genannten Sammlungen bieten also einen großen Fundus an zeitgeschichtlichen Quellen, die sich mit Blick auf subordinierte Gruppen und schwule Männlichkeiten befragen lassen: Welche bildlichen Repräsentationen von homosexuellen Männern können identifiziert werden? Wie gehen die Poster mit dem männlichen Körper im Angesicht der Autoimmunschwäche um? Welche visuellen Strategien der Aufwertung subordinierter Männlichkeiten sind zu beobachten? Hier interessieren besonders diejenigen Plakate, die im westlichen Kontext entstanden sind, während Homosexualität in vielen anderen Weltregionen teils bis heute nicht öffentlich dargestellt und diskutiert werden kann.

Abb. 4: »KEEP TO YOUR PARTNER / HELP STOP AIDS«. Health Education Division, Ministry of Health, Ghana, 60,3 x 45,0 cm, 1987–1991 (Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2002/540)
Abb. 4: »KEEP TO YOUR PARTNER /
HELP STOP AIDS«.
Health Education Division,
Ministry of Health, Ghana,
60,3 x 45,0 cm, 1987–1991
(Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2002/540)
Abb. 5: »Mehrere Partner – führen zu Aids / Ein Lebenspartner – führt zu Familienzuwachs« (Hindi). Unesco/Aidthi Workshop, Indien, 45,5 x 57,5 cm, 1995 (Plakatsammlung, Museum für Gestaltung Zürich, Zürcher Hochschule der Künste)
Abb. 5: »Mehrere Partner – führen zu Aids /
Ein Lebenspartner – führt zu Familienzuwachs« (Hindi).
Unesco/Aidthi Workshop, Indien, 45,5 x 57,5 cm, 1995
(Plakatsammlung, Museum für Gestaltung Zürich, Zürcher Hochschule der Künste)

In Afrika und Indien wurden Männer beispielsweise ausschließlich als Verantwortliche des (heterosexuellen) Familienglücks angesprochen und von den Plakatkampagnen zu Treue und sexueller Enthaltsamkeit ermahnt. Die Botschaften lauteten hier häufig: »KEEP TO YOUR PARTNER« (Ghana, Abb. 4) oder »Mehrere Partner – führen zu Aids. Ein Lebenspartner – führt zu Familienzuwachs« (Indien, Abb. 5). In der westlichen visuellen Kommunikation sind schwule Männer seit den 1980er-Jahren hingegen eine wichtige Ziel- und Interessengruppe geworden, sowohl von staatlichen Präventionskampagnen als auch von kleineren Organisationen und Schwulenverbänden. Im Folgenden möchte ich einen exemplarischen Blick in diese Quellen des Deutschen Hygiene-Museums und des Museums Folkwang werfen. Auf welche Weise wurde der männliche, schwule Körper in den 1980er- und 1990er-Jahren dargestellt? Welche Konventionen in Bezug auf Moral und Sexualität lassen sich daran ablesen? Meine Ausführungen fußen nicht allein auf der ikonographischen Analyse, sondern beziehen Fragen zu Entstehungsbedingungen und Herausgeberschaften ein, um die Plakate als geschichtliche Dokumente ebenso fassbar zu machen wie als Instrumente der Selbstermächtigung.

2. Hypersexualisierung

Die frühen Jahre der Aids-Epidemie waren in vielen Ländern von Verunsicherung und Schweigen geprägt. Die US-amerikanischen Medien erachteten das Thema zwischen 1980 und 1985 als nicht sonderlich berichterstattungswürdig – erst der Fall des durch Blutkonserven mit HIV infizierten Teenagers Ryan White (1971–1990) und der Aids-Tod des Schauspielers Rock Hudson (1925–1985) öffneten die Debatten für breitere Gesellschaftskreise. Auch in Deutschland (West und Ost) etablierte sich HIV/Aids erst ab 1985 »endgültig im öffentlichen Problembewusstsein«11 und erforderte eine staatliche Präventionsarbeit, die über das neuartige Virus aufklärte und brisante Themen wie Sexualität, Intimität und schwule Männlichkeit zur Sprache brachte. In der Zeit von 1985 bis 1987 starteten in vielen Ländern die ersten staatlichen Plakatkampagnen. Die Bilder verwiesen in der Regel eher indirekt auf Geschlechtsverkehr und vermieden die explizite Darstellung sexueller Praktiken. Das erste Plakat der Deutschen Aidshilfe von 1985 mit dem Slogan »sicher, besser, Safer Sex« bildet international eine Ausnahme: Es zeigt zwei Männerkörper, die miteinander intim sind (Abb. 6).

Abb. 6: Ein Aids-Aufklärungsplakat an einer Litfaßsäule in Frankfurt a.M., Winter 1986/87 (picture-alliance/dpa/Gaby Schumann)
Abb. 6: Ein Aids-Aufklärungsplakat an einer Litfaßsäule
in Frankfurt a.M., Winter 1986/87
(picture-alliance/dpa/Gaby Schumann)

Das Plakat wurde aus dem Erlös einer Prominenten-Gala in Berlin finanziert, organisiert von Rosa von Praunheim, dem Treffen der Berliner Schwulengruppen (TBS) und der Deutschen Aidshilfe. Die Herausgeberschaft ist also bemerkenswert: Zwar war die Deutsche Aidshilfe seit 1983 als überregionaler Dachverband von rund 30 Selbsthilfegruppen tätig und damit eine nichtstaatliche Organisation, doch setzte die Bundesregierung erst ab 1987 auf eine massive Aufklärungs- und Präventionsarbeit in enger Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Aidshilfe. Das Plakat von 1985 stellt somit einen Schwellenmoment dar: Als eigenständig auf den Weg gebrachtes Medium der Community thematisiert es als eines der ersten Plakate den Zusammenhang von Homosexualität und Aids; allerdings spricht hier ein Akteur, der wenig später im Auftrag staatlicher Sozialpolitik handelt. Dieser Drahtseilakt zwischen selbstbewusstem Schwulenaktivismus und breitenwirksamer Präventionsarbeit spiegelt sich auch in der Art der Darstellung wider. Das Plakat zeigt zwei nackte, einander zugewandte Oberkörper in lockerer Umarmung, die – noch in Jeans bekleidet – einen vorsichtigen Blick auf die Intimität zwischen Mann und Mann erlauben. Dass die Inszenierung der gleichgeschlechtlichen Sexualität im Vergleich zu zeitgenössischen Abbildungen in der gay community durchaus dezent gehalten ist, zeugt vom Bewusstsein, dass die Kampagne das Risiko barg, gesellschaftliche Kontroversen zu entfachen und der Diskriminierung von Schwulen erneut Tür und Tor zu öffnen.

Eine Ausnahme ist hier, dass zwei Männer in explizit sexueller Darstellung zu sehen sind; die Art und Weise der Darstellung bedient sich jedoch eines stereotypen Männlichkeitsbildes und greift auf visuelle Strategien der heterosexuellen Vermarktung zurück: Die beiden muskulösen, athletischen Männer-Torsi auf dem Plakat können als Reproduktionen von Idealkörpern gelesen werden, denen kulturelle Vorstellungen von Männlichkeit eingeschrieben sind, die sich durch Attribute wie Stärke, Dominanz, Leistungsfähigkeit und sexuelle Potenz auszeichnen.12 Die heroische Repräsentation des idealen männlichen Körpers lässt sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen, erhielt jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Fotografie neuen Aufwind. Mit männlichen »Kraftmenschen« und »Pin-Ups« wie Eugen Sandow (Abb. 7) und Tony Sansone (Abb. 8) kam es im frühen 20. Jahrhundert zur massentauglichen Präsentation des sexuell attraktiven männlichen Körpers, der vor allem auch als Objekt weiblicher Begierde inszeniert wurde.13 Weiter forciert wurde die mediale Präsentation dieses Körperideals ab den 1940er-Jahren durch das Kino und die Popularität der Abenteuer- und Superheldencomics wie Tarzan, Hercules oder Superman, deren Hauptprotagonisten ausnahmslos einen muskulösen, idealisierten Körper aufwiesen. Während die späten 1960er- und die 1970er-Jahre durch die allgemeine sozialpolitische Umbruchstimmung sowie emanzipatorische Bestrebungen und Ideale gekennzeichnet waren, brachte der reaktionär-konservative Wechsel Anfang der 1980er-Jahre vor allem in den USA unter Reagan die hypermuskulösen Helden wieder verstärkt auf die Leinwand.14

Abb. 7: Eugen Sandow (1867–1925), 1894 (Foto: George Steckel; Library of Congress, Washington, D.C.; Public Domain)
Abb. 7: Eugen Sandow (1867–1925), 1894
(Foto: George Steckel; Library of Congress, Washington, D.C.; Public Domain)

 

Abb. 8: Tony Sansone (1905–1987), 1944 (Foto: Earl Forbes; Public Domain)
Abb. 8: Tony Sansone (1905–1987), 1944
(Foto: Earl Forbes; Public Domain)

Die beiden Männeroberkörper auf dem Plakat der Deutschen Aidshilfe (Abb. 6) sind in der Tradition dieser westlichen Ikonographie zu sehen. Sie gaben den Startschuss für eine Reihe von medialen Präsentationen, bei denen das Ideal eines fitten, athletischen Männerkörpers im Kontext der Autoimmunschwäche gezeigt wurde. Es scheint, als solle schon die gesunde und starke Erscheinung dieser Körper der Bedrohung durch Aids standhalten. Der in öffentlichen Diskursen herrschenden Diffamierung von Schwulen als für die Gesellschaft gefährliche kranke Körper wurde so das Bild eines leistungsfähigen, kraftvollen Körpers entgegengesetzt. Dabei war der Rückgriff auf dieses maskuline Männerideal im Kontext von Aids kein ausschließlich deutsches Phänomen, wie bereits das eingangs gezeigte Plakat aus Baltimore von 1986 vor Augen geführt hat (Abb. 3). Aber auch die unabhängige Organisation Action for AIDS in Singapur ließ 1994 ein Plakat mit der Aufschrift »ALL THE SMARTEST BODIES IN TOWN ARE WEARING RUBBER« drucken, das einen jungen Mann in enger Latexunterwäsche zeigt, der seinen trainierten Körper selbstbewusst zur Schau stellt (Abb. 9). Ein Blick nach Brasilien belegt, dass auch dort unabhängige Schwulenverbände wie die Grupo Gay da Bahia (GGB) 1985 mit der kolorierten Illustration eines erotisch-muskulösen Männerkörpers für mehr gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Homosexuellen warben (Abb. 10).

Abb. 9: »ALL THE SMARTEST BODIES IN TOWN ARE WEARING RUBBER.« Action for AIDS, Singapur, 56,0 x 37,5 cm, ca. 1994 (Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, noch nicht katalogisiert, Reproduktionsnummer
Abb. 9: »ALL THE SMARTEST BODIES IN TOWN ARE WEARING RUBBER.«
Action for AIDS, Singapur,
56,0 x 37,5 cm, ca. 1994
(Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, noch nicht katalogisiert, Reproduktionsnummer 1356)
Abb. 10: »Homossexual É SER HUMANO / Homofobia é crime. Respeite os gays!« (»Homosexuell sein IST MENSCH SEIN / Homophobie ist ein Verbrechen. Respektieren Sie Schwule!«), Grupo Gay da Bahia (GGB), Brasilien, 39,8 x 30,7 cm, 1985–2003 (Illustration: Carlos Vilmar; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2009/159)
Abb. 10: »Homossexual É SER HUMANO / Homofobia é crime. Respeite os gays!« (»Homosexuell sein IST MENSCH SEIN / Homophobie ist ein Verbrechen.
Respektieren Sie Schwule!«),
Grupo Gay da Bahia (GGB), Brasilien,
39,8 x 30,7 cm, 1985–2003
(Illustration: Carlos Vilmar; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2009/159)

Sicher lässt sich einwenden, dass Darstellungen wie diese dem kommerziellen Umfeld angeglichen wurden, um eine möglichst hohe Breitenwirksamkeit zu erzielen, aber letztlich verändert ein solches visuelles Regime den Blick auf den Körper und somit auch die Körper selbst. Hatte sich in der Schwulen-Szene der hedonistischen 1970er-Jahre gerade eine Amateur-Ästhetik der »Echtheit« und »Unperfektheit« etabliert, so führte Aids zu einer Neuauflage des stählernen Körpers, der für jedwede Krankheit unangreifbar erscheint – eine Zäsur innerhalb der Geschichte schwuler Bildlichkeit, die einen Verlust der pluraleren sexuellen Kultur der 1970er-Jahre und damit einer alternativen Männlichkeit zur Folge hatte.15

Auffällig bleibt auch, dass Plakatmotive wie dasjenige der Deutschen Aidshilfe (Abb. 6) auf die Darstellung der Gesichter der Bildprotagonisten verzichteten. Obwohl die Epidemie in solchen Plakaten völlig ausgeblendet und nur durch die Schrift angesprochen wurde, war die Scheu offenbar groß, konkrete Körper oder Personen mit dem Virus in Zusammenhang zu bringen. So engagierten die Auftraggeber der Gesundheitsorganisation HERO aus Baltimore für das erwähnte Plakat von 1986 (Abb. 3) zwei Fotomodelle, denen sie den Verwendungszweck der Aufnahmen nicht mitteilten. Trotz Einspruch und juristischen Unterlassungsaufforderungen gelang es den beiden Bildprotagonisten im Nachhinein nicht mehr, die Veröffentlichung der Fotografien zu verhindern. Die rigorose Beschneidung der Körper oberhalb der Schultern mochte eine Strategie sein, Schwierigkeiten wie diese zu vermeiden. Durch die Gesichtslosigkeit und Anonymität werden die Dargestellten allerdings zu Symbolen einer vermeintlichen Schwulenszene, mit der ein bestimmter Körperkult sowie ein ausschweifendes Sexualleben assoziiert werden. Die Einheitlichkeit und der Sex-Appeal der (Plakat-)Körper wird zum gemeinsamen Identitätsmerkmal und versinnbildlicht einen schwulen Lebensstil, der genügend Projektionsfläche bietet, um gesellschaftlich verbreitete Vorannahmen über Homosexualität zu bestätigen.

Darüber hinaus könnte die fehlende Darstellung der Gesichter schwuler Männer auch ein Hinweis auf eine grundsätzlichere gesellschaftliche Vermeidung von Themen wie Sexualität und Krankheit sein. Susan Sonntag hat argumentiert, der Dualismus von Körper und Gesicht bestimme in der westlichen Kultur jeden Aspekt der Sitten, der Mode, der sexuellen Vorlieben und der ästhetischen Sensibilität. So habe die Spaltung von Leib und Kopf in der christlichen Ikonographie dazu geführt, dass Schmerz und Leid ausschließlich dem Körper zugeordnet würden, während dem Gesicht positive Erfahrungen wie Glück und Freude vorbehalten seien.16

Vor dem Hintergrund dieser ikonographischen Tradition führt das Ausblenden der Gesichter auf vielen Aids-Plakaten dazu, dass die Krankheit ausschließlich über den anonymen Körper thematisiert wird – eine Identifikation mit den Leidtragenden wird unmöglich. Die Krankheit bleibt von der Gesellschaft abgeschnitten, sie spiegelt sich nicht auf Gesichtern. Eine solche Vermeidung der Repräsentation von Gesicht oder Person verhärtet dann auch die Trennlinie zwischen der »gesunden« Gesellschaft auf der einen und den mutmaßlich infizierten Körpern auf der anderen Seite. Es kommt zu jener Grenzziehung zwischen Homosexuellen und der Mehrheitsbevölkerung, die bereits vor der Autoimmunschwächekrankheit zur Verurteilung und Diskriminierung von Homosexuellen führte – nun aber im Kontext von Aids noch einmal schärfer wurde.

3. »AIDS hat ein Gesicht«

Im Vergleich zur ikonographischen Fokussierung auf den anonymen Körper ist die Spendenkampagne der Deutschen Aidshilfe von 1992 besonders bemerkenswert. Mit dem Slogan »AIDS hat ein Gesicht« setzte die Kampagne auf reale Krankheitsfälle und druckte Porträt-Fotografien von Betroffenen ab. So ist auf einem der Plakate Thomas Passarge (1966–1992) abgebildet, besser bekannt unter dem Pseudonym Ikarus, der kurz zuvor an den Folgen von Aids verstorben war (Abb. 11). Ikarus engagierte sich in den 1980er-Jahren für ein selbstbestimmtes Leben mit der Krankheit und kämpfte gegen die gesellschaftliche Tabuisierung von Homosexualität. So ließ er beispielsweise die aktuelle Zahl seiner Helferzellen auf seine T-Shirts drucken und weigerte sich, die Aids-bedingten Kaposiflecken auf seiner Haut zu überschminken. Zwischen 1989 und 1992 porträtierte die Fotografin Ines de Nil den jungen Mann, der sich ernst, aber selbstbestimmt vor der Kamera in Szene setzte.

Der direkte Blick und die sorgsam gefalteten Hände sollen die Betrachtenden unmittelbar ansprechen. Es ist ein ganz anderes Männerbild als die Darstellung der athletischen Paare, die sich auf den Safer-Sex-Plakaten in Pornofilm-ähnlicher Pose umeinander räkeln. Stattdessen stehen der ernste Blick, die schmalen befleckten Arme und die behutsame, beinahe unsicher wirkende Pose im Zentrum dieser Abbildung. Der männliche Körper wird hier im Angesicht seiner Verletzlichkeit thematisiert, nicht mehr als Ressource von Stärke und Potenz inszeniert. Da mit diesem Plakat nicht vorrangig eine Präventionsabsicht verfolgt, sondern zur Spende aufgerufen wird, setzt das Motiv vor allem auf Betroffenheit; es verlangt nach einer anderen Rahmung, Ansprache und Darstellung des Körpers. So kann es vielleicht nicht direkt als Antwort auf Motive früherer Plakatkampagnen gelesen werden, doch wendet sich die ungewohnt fragile Darstellung des Körpers gegen langjährige Stereotype der Darstellung schwuler Männlichkeiten. Denn anders als die stilisierten Aufnahmen der Safer-Sex-Plakate, die anonyme Individuen auf Symbole eines Lebensstils reduzieren, wird dem Protagonisten hier ein Gesicht gegeben. Ikarus steht mit seinem Körper für eine subjektive Erfahrung als schwuler Mann, der mit Aids lebt – und schließlich stirbt. Die Krankheit ist damit als reale Bedrohung des Körpers im Bild präsent.

Abb. 11: »AIDS hat ein Gesicht / DU bist herausgefordert«. Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Bundesrepublik Deutschland, 68,0 x 48,0 cm, 1992 (Foto: Ines de Nil; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 11: »AIDS hat ein Gesicht /
DU bist herausgefordert«.
Deutsche AIDS-Hilfe e.V.,
Bundesrepublik Deutschland,
68,0 x 48,0 cm, 1992
(Foto: Ines de Nil; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 12: »›kan ik jou verleiden tot veilige seks?‹ / ›can I seduce you to have safer sex?‹« SAD Schorer-Stiftung, Niederlande, 68,0 x 47,0 cm, 1995 (Foto: Erwin Olaf, Reproduktion: Michael Kretzschmar; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2003/837)
Abb. 12: »›kan ik jou verleiden tot veilige seks?‹ / ›can I seduce you to have safer sex?‹« SAD Schorer-Stiftung, Niederlande, 68,0 x 47,0 cm, 1995
(Foto: Erwin Olaf,
Reproduktion: Michael Kretzschmar; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2003/837)

Das Motiv des fragilen, verletzlichen Körpers findet sich auch auf einem Beispiel aus den Niederlanden, das 1995 von der unabhängigen Schorer-Stiftung herausgegeben wurde und den jungen Aids-Kranken Martin Schenk zeigt, wie er nackt auf einer gefliesten Bank sitzt und lächelnd die Betrachter*innen des Plakates anschaut (Abb. 12). »Kann ich dich zu sicherem Sex verführen?«, ist darauf zu lesen. Auch Schenk ging offen mit seiner Krankheit um und stellte die Kaposiflecken seines Körpers auf diesem Plakat selbstbewusst zur Schau. Es ist jener Ausdruck des Empowerments, den auch der Filmregisseur, Autor und Aktivist Rosa von Praunheim forderte, als er 1993 schrieb, Schwule sollten sich, da sie die größte Betroffenengruppe bildeten, mit der Krankheit identifizieren und sich öffentlich zu ihrer Homosexualität bekennen. Ihm ging es bereits seit den 1980er-Jahren um die politische Dimension der Krankheit: »Wir sind wieder dort, wo die Schwulenbewegung 1971 begann. In Amerika ist das anders. Viele stellen sich der Krankheit, machen ihr Schwulsein öffentlich – und damit politisch.«17 Mit dieser Forderung folgte Praunheim der »68er«-Logik, dass das Private und hier insbesondere die Sexualität politisch sei. Ähnlich ging auch Ikarus vor, wenn er sich selbstbewusst als Schwuler mit Aids vor der Kamera inszenierte und dadurch ein öffentliches Umdeuten von Homosexualität und Krankheit forderte. In dem Slogan »AIDS hat ein Gesicht« spiegelt sich also der ständige Kampf um Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen unter dem Druck der neuartigen Krankheit.

Die Motive dieser beiden Plakate beziehen ihre Wirkmacht vor allem aus dem Anspruch auf Authentizität. Das Foto von Ikarus macht nicht abstrakt auf Aids oder Homosexualität aufmerksam, sondern zeigt die Selbstrepräsentation eines Betroffenen, der stellvertretend für mehr politische Sichtbarkeit einer ganzen Gruppe einsteht. Gleichzeitig wird durch die schmale Statur und die dunklen Flecken auf Ikarus’ Haut auf den baldigen Tod des Protagonisten verwiesen. Das Foto entstand vor Einführung der Kombinationstherapie und dokumentiert damit eine gesellschaftliche Situation, in der die Diagnose der Krankheit noch einem Todesurteil gleichkam. So bezieht sich auch der Infotext auf das bevorstehende Sterben des Abgebildeten: »AIDS-Kranke können nicht warten. Deine Spende hilft, die Not zu lindern.« Tatsächlich war Ikarus zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Plakates schon gestorben – sein Foto erhielt nun die Funktion eines Denkmals. Indirekt wird hier auf mehreren Ebenen die medienspezifische Indexikalität der Fotografie betont, jenes »Es ist so gewesen«, das ihr im Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs immer wieder zugeschrieben worden ist. Die Aufnahme wird zum Abbild eines vergangenen Jetzt, dem diejenigen, die es anschauen, retrospektiv Glauben schenken. So wird das fotografische Medium genutzt, um Bedeutung und Erinnerung zu generieren. Indem Ikarus sich kurz vor seinem Tod noch ein Aktfoto seines kranken Körpers wünschte, suchte er nach einer selbstbestimmten Inszenierung des eigenen Sterbens und einer bewussten Gestaltung des Erinnerns an ihn.18

4. Gay Clones und Aesthetic Boys

Die geschilderte Inszenierung von Authentizität lässt die Frage aufkommen, ob sich Motive finden lassen, die eine alternative Bildlichkeit von Homosexualität entwerfen, ohne auf die Selbstdokumentation von Betroffenen zu setzen. Gerade mit kleineren Kampagnen, die für Kneipen, Discos und eine direkte Zielgruppen-Presse ausgelegt waren, bemühte sich die Deutsche Aidshilfe um ein differenziertes Bild schwuler Männlichkeiten. Im Rahmen dieser Szene-internen Kampagnen lassen sich vor allem zwei visuelle Strategien beobachten: zunächst einmal die sehr eindeutige, beinahe pornographische Inszenierung schwuler Sexualpraktiken, die sich an Stereotypen der urbanen Schwulenszene orientiert – enge Jeans, lederne Polizeimützen, Schnauzbärte und trainierte Oberarme (Abb. 13 und 14); ein ästhetisches Stilvokabular, das an Freddie Mercury erinnert und auf den Clone-Look der 1970er-Jahre verweist. Es ist die Reaktivierung eines Männerbildes, das im Zuge der Stonewall-Ereignisse 1969 als visuelle Strategie entstand, sozialer Stigmatisierung durch Genderkonformität entgegenzuarbeiten. So versuchte man am sozialen und erotischen Privileg von Heterosexualität teilzuhaben, indem jegliche Markierung als Homosexueller gemieden wurde. Frei nach dem Motto: Wer wie ein hypermännlicher Macho aussieht, der wird auch nicht als Schwuler diskriminiert. Gleichzeitig entlarvten solche »Aufführungen« der schwulen Lederszene jede Form von Männlichkeit als Konstrukt und etablierten das Bild des offenen, ekstatischen Schwulensex als Befreiung von heteronormativ geprägten gesellschaftlichen Zwängen.19

Abb. 13: »Ohne viel Worte«. Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Bundesrepublik Deutschland, 68,0 x 48,0 cm, 1989 (Foto: Uwe Boek; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 13: »Ohne viel Worte«.
Deutsche AIDS-Hilfe e.V.,
Bundesrepublik Deutschland,
68,0 x 48,0 cm, 1989
(Foto: Uwe Boek; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 14: »Ich steh’ auf starke Typen, die die Spielregeln kennen.« Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Bundesrepublik Deutschland, 68,0 x 48,0 cm, 1988 (Foto: Michael Taubenheim; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 14: »Ich steh’ auf starke Typen,
die die Spielregeln kennen.«
Deutsche AIDS-Hilfe e.V.,
Bundesrepublik Deutschland,
68,0 x 48,0 cm, 1988
(Foto: Michael Taubenheim;
Deutsches Plakat Museum im
Museum Folkwang, Essen)
Abb. 15: »KÄYTÄ KUMIA« (»BENUTZE GUMMIS«). AIDS-Tukikeskus, Finnland, 59,4 x 42,0 cm, 1988 (Illustration: Tom of Finland; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2007/949)
Abb. 15: »KÄYTÄ KUMIA«
(»BENUTZE GUMMIS«).
AIDS-Tukikeskus, Finnland,
59,4 x 42,0 cm, 1988
(Illustration: Tom of Finland; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2007/949)

Auf ähnliche Darstellungen von muskulösen Gay Clones im schwarzen Leder-Look setzte in Finnland die nichtstaatliche Organisation AIDS-Tukikeskus (engl.: AIDS Support Center, heute hivpoint) und engagierte 1988 für ihre Plakatkampagne den in der Szene bekannten Illustrator Tom of Finland (Abb. 15). Das Motivspektrum auf diesen zielgruppenorientierten Präventionsplakaten knüpfte damit zwar an den selbstbestimmten Verhaltenscode einer Subkultur an, sorgte aber gleichzeitig für eine Neuauflage des gesunden, starken Männerkörpers; ein Ideal, das – wie oben schon erläutert – mit der Bedrohung durch Aids im Hintergrund umso machtvoller wurde.

Die zweite visuelle Strategie auf den Plakaten für ein kleineres Publikum lässt sich anhand von Motiven zeigen, welche die Deutsche Aidshilfe in der Informationskampagne »Kondome schützen« 1986 herausgab. Zu sehen sind homosexuelle Paare, die mit aufrichtiger Miene und ernstem Gestus über HIV sprechen, mal im Wohnzimmer, mal in einer dunklen Restaurant-Szene – immer jedoch in dramatische Hell-Dunkel-Kontraste getaucht und in ein seriöses Arrangement gesetzt (Abb. 16 und 17). Auf diesen Motiven steht nicht der Sex zwischen den Bildprotagonisten im Fokus. Gezeigt werden vielmehr junge Männer mit schönen Gesichtern, die sich einander aufmerksam zuwenden und »Klartext reden«. Stand sonst der Austausch zwischen den Körpern im Zentrum, so verschiebt er sich mit diesen Plakaten auf die verbale und emotionale Ebene, die vorher bewusst ausgeklammert worden war.20 Die Kommunikation und Aufklärung über HIV und Aids wird damit zu einer Angelegenheit unter gut aussehenden jungen Männern, die ihre Körper in einer ästhetisch zurückhaltenden Schönheit präsentieren. »Die Printmedien der D.A.H. […] sollen über den Informationsgehalt hinaus auch schwule Identität bzw. schwule Sexualität stabilisieren. Die akzeptierende Darstellung schwuler Lebensstile bzw. sexueller Gewohnheiten in Text und Gestaltung ist Voraussetzung dafür, daß die Safer-Sex-Botschaft angenommen wird […]«,21 schrieb die Deutsche Aidshilfe 1989 über die Auswahl der Motive – und setzte mit der Stärkung verschiedener Lebensstile auch auf unterschiedliche Vorstellungen schwuler Männlichkeit. Der Historiker Kenneth Dutton differenziert bei den Darstellungen von Männerkörpern zwischen einem »heroic« und einem »aesthetic mode«: Während der »heroic mode« sich an klassischen Abbildungen muskulöser Helden orientiere, stelle der »aesthetic mode« keine Muskelpakete zur Schau, sondern lege mehr Wert auf einen Gesamteindruck des Schönen und die Anmutung des Gesichts.22

Abb. 16: »Wir reden Klartext: Auf jeden Fall Safer Sex«. Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Bundesrepublik Deutschland, 59,1 x 41,7 cm, 1986 (Foto: Detlev Pusch; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 16: »Wir reden Klartext:
Auf jeden Fall Safer Sex«.
Deutsche AIDS-Hilfe e.V.,
Bundesrepublik Deutschland,
59,1 x 41,7 cm, 1986
(Foto: Detlev Pusch; Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang, Essen)
Abb. 17: »POSITIV LEBEN.« Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Bundesrepublik Deutschland, 59,1 x 41,8 cm, 1986 (Foto: Jörg Reichhardt; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2003/1114)
Abb. 17: »POSITIV LEBEN.«
Deutsche AIDS-Hilfe e.V.,
Bundesrepublik Deutschland,
59,1 x 41,8 cm, 1986
(Foto: Jörg Reichhardt; Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2003/1114)
Abb. 18: »›GARÇONS ENTRE EUX‹«. Association des Jeunes contre le Sida (AJCS), Frankreich, 41,9 x 29,7 cm, 1985–1998
(Sammlung Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inventarnummer 2004/210)

In Frankreich ließ der private Präventionsverein Association des Jeunes contre le Sida 1985 gemeinsam mit dem ebenfalls nichtstaatlichen Schwulenverband Syndicat national des entreprises gaies (SNEG) das Porträt eines jungen, gutaussehenden Fotomodells mit der Aufschrift »›GARÇONS ENTRE EUX‹. Désir, Amour et Sexualité« drucken (Abb. 18). Auch diese Kampagne sollte »zu einem generell offenen, selbstbewussten Umgang mit […] Sexualität und dem Schutz vor HIV« beitragen.23 Das Plakat verweist dabei einzig durch das Logo der Herausgeber auf den Kontext von Aids; ganz im Zentrum steht die Darstellung des attraktiven jungen Mannes. Damit findet eine Verschiebung von der Zurschaustellung körperlicher Kraft hin zur Ästhetik der Persönlichkeit statt. Symbolisierte das muskulöse Körperideal vor allem zentrale Attribute traditioneller Männlichkeitsentwürfe wie Stärke, sexuelle Potenz und emotionale Zurückhaltung, geben Schlagworte wie Liebe und Verlangen dem Männertypus auf diesen Plakaten eine stärker gefühlsbestimmte Implikation.

Beide Körperpolitiken – die hypermaskulinen Gay Clones und die zurückhaltenden Aesthetic Boys – entspringen dem selbstbestimmten Impuls, heteronormative Bilder umzudeuten oder neue erotische Bilder von Homosexualität zu zeigen, orientieren sich dabei allerdings an einer normativen Ästhetik und riskieren, dass kulturell verankerte Deutungsmuster von Männlichkeit reproduziert und gestärkt werden.

5. Fazit

Formen des schwulen Empowerments – sowohl durch Zugriffe auf hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen als auch über alternative Männlichkeitsentwürfe – sind auf den Plakaten zur Aids-Prävention der 1980er- und 1990er-Jahre in unterschiedlichen Darstellungsabsichten zu beobachten. Die Präsentationen des sexuell attraktiven männlichen Körpers werden durch Übertreibung der muskulösen Gay Clones ad absurdum geführt und als heteronormativ entlarvt oder mit erotisch-ästhetischen Bildern schwuler Männlichkeit konterkariert. Nicht selten spielen auch inszenierte Authentizität und reale Betroffenheit eine zentrale Rolle. Die Frage »Wer spricht?« wird dabei ebenso ausschlaggebend wie die Frage danach, wer zu sehen ist. Während staatliche Plakatkampagnen bevorzugt auf Shootings mit anonymen Fotomodellen setzten, wurde mit bekannten Bildprotagonisten wie Ikarus auf den Plakaten der Deutschen Aidshilfe die Krankheit tatsächlich als Bedrohung des Körpers thematisiert und in einen (vorweggenommenen) Erinnerungsdiskurs eingebettet. So wären in diesem Kontext die von Dutton diskutierten Darstellungsformen des Männlichen um einen »authentic mode« zu erweitern. Auch die drei zu Beginn vorgestellten Plakate können als Beispiele der in diesem Beitrag verhandelten Darstellungsmodi gelesen werden. Das Plakat aus Luxemburg bietet die Lesart des »authentic mode« (Abb. 1), das Motiv aus Neuseeland zeigt Männerkörper im »aesthetic mode« (Abb. 2), und die US-amerikanischen Fotomodelle in Bodybuilder-Pose können für den »heroic mode« stehen (Abb. 3). Allen ist gemeinsam, dass sie sich im Spannungsfeld von Körper­idealen, Politik und geschlechtlicher Identität bewegen. Die Betrachtung der Aids-Plakate zeigt damit dreierlei: Erstens war und ist der Kampf gegen das Virus immer auch ein Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen. Zweitens sind Bilder, hier in Form der Plakate, mehr als Zeugen, die von einem Ereignis berichten – sie sind Agenten kultureller Vorstellungen und verweisen auf ein Wissen hinter den Abbildungen, weil sie als mediale Produkte immer auch in politischen Diskursen, sozialen Kontexten und ästhetischen Traditionen stehen. Bilder werden damit zu einem dauerhaften Konfliktfeld des Sozialen.24 Deswegen lohnt es sich drittens, gerade einen so umfangreichen und internationalen Quellenbestand wie die Aids-Plakate mit Blick auf explizite und implizite Männlichkeitsentwürfe zu befragen.


Anmerkungen:

1 In einem Konzeptpapier des Gesundheitsministeriums des Gouvernement du Grand-Duché de Luxembourg hieß es 1996, dass »ein [männlicher] Transvestit [sic] als drittes Motiv geeignet scheint, um die ganze Vielfalt der Beziehungs- und Lebensformen und sexuellen Begegnungen im Auge zu haben«. Da der Begriff ›Transvestit‹ vor allem wegen der Stigmatisierung als psychische Störung zunehmend problematisch geworden ist, verwende ich hier die Bezeichnung Trans-Person, die von der LGBTQIA+-Community bevorzugt wird.

2 Dieses Motiv ist eine Leihgabe des Museums für Gestaltung Zürich an das Deutsche Plakat Museum.

3 Sebastian Haus-Rybicki, Eine Seuche regieren. AIDS-Prävention in der Bundesrepublik 1981–1995, Bielefeld 2021, S. 160.

4 Vgl. Henning Tümmers, AIDS. Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland, Göttingen 2017, S. 55f.

5 Susan Sontag, Aids und seine Metaphern. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach, München 1989; hier zitiert nach einer der späteren Taschenbuch-Ausgaben: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, Frankfurt a.M. 2003, S. 94.

6 Vladimir Čajkovac/Kristina Kramer-Tunçludemir, Die Gesichter einer Epidemie, in: Museum Folkwang (Hg.), Rettet die Liebe! Internationale Plakate gegen AIDS, Göttingen 2020, S. 13.

7 Paula A. Treichler, AIDS, Homophobia and Biomedical Discourse. An Epidemic of Signification, in: October 43 (1987), S. 31-70, hier S. 42.

8 Vgl. Everett M. Rogers/James W. Dearing/Soonbum Chang, AIDS in the 1980s. The Agenda-Setting Process for a Public Issue, Columbia 1991.

10 Susanne Roeßiger, Safer Sex und Solidarität. Die Sammlung internationaler Aidsplakate im Deutschen Hygiene-Museum, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 502-514; auch zum Folgenden.

11 Für die Bundesrepublik: Haus-Rybicki, Eine Seuche regieren (Anm. 3), S. 164; vergleichs- und beziehungsgeschichtlich: Henning Tümmers, »GIB AIDS KEINE CHANCE«. Eine Präventionsbotschaft in zwei deutschen Staaten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 491-501.

12 Vgl. u.a. Beate Hofstadler/Birgit Buchinger, KörperNormen – KörperFormen. Männer über Körper, Geschlecht und Sexualität, Wien 2001.

13 Vgl. Kenneth R. Dutton, The Perfectible Body. The Western Ideal of Male Physical Development, New York 1995, S. 266-280.

14 Ebd., S. 210.

15 Vgl. Peter Rehberg, Hipster Porn. Queere Männlichkeiten und affektive Sexualitäten im Fanzine Butt, Berlin 2018, S. 56-58.

16 Sontag, Krankheit als Metapher (Anm. 5), S. 106.

17 Rosa von Praunheim, 50 Jahre pervers. Die sentimentalen Memoiren des Rosa von Praunheim, Köln 1993, S. 162.

18 Diese Aktfotografie sollte bei einer Ausstellung in Paris 1995 zum Thema Aids gezeigt werden, veranstaltet vom Fonds national d’art contemporain (FNAC), wurde letztlich aber doch der Öffentlichkeit vorenthalten mit der Begründung, sie sei entwürdigend. Vgl. Ines de Nil, Ein Rebell gegen die Verachtung, in: Magazin HIV, 3.12.2016.

19 Vgl. Martin P. Levine, The Gay Macho. The Life and Death of the Homosexual Clone, London 1998, S. 6.

20 Das Plakat Abb. 13 ist bezeichnenderweise mit dem Slogan »Ohne viel Worte« überschrieben. Zur Gefühlsgeschichte der Homosexualität in Deutschland siehe auch Benno Gammerl, anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021.

21 Jahresbericht 1988/89 der Deutschen Aidshilfe e.V. zur Plakatkampagne, S. 14.

22 Vgl. Dutton, The Perfectible Body (Anm. 13), S. 340.

24 Vgl. Jörn Ahrens/Lutz Hieber/York Kautt, Einführung, in: dies. (Hg.), Kampf um Images. Visuelle Kommunikation in gesellschaftlichen Konfliktlagen, Wiesbaden 2015, S. 7-11.

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