Postkoloniale Zeitgeschichte?

  1. Einführung: Die Causa Mbembe und die Provinzialität des Denkens
  2. Postkoloniale Ansätze und Zeitgeschichte in Deutschland
  3. Perspektiven

Anmerkungen

[Mein Dank geht an die Redaktion der »Zeithistorischen Forschungen« für zahlreiche hilfreiche Anregungen und Hinweise.]

1. Einführung:
Die Causa Mbembe und die Provinzialität des Denkens

Im Frühjahr 2020 tauchten die Begriffe »Postkolonialismus«, »postkoloniale Theorie« und verwandte Kategorien mit ungewohnter Dichte in den deutschen Feuilletons auf, waren Gegenstand von Streitgesprächen im Radio und aufgeregten Twitter-Kommentaren. Zentraler Anlass für die ambivalente Hausse des Postkolonialismus war die Erklärung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, der Kameruner Historiker Achille Mbembe sei wegen antisemitischer Positionen als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale »nicht geeignet«. Daraus entwickelte sich eine heftige und durchaus verwirrende Debatte, in der Klein und gleichgesinnte Mbembe-Kritiker*innen des Rassismus und McCarthyismus gescholten wurden, während andere anhand weniger Passagen aus Mbembes umfangreichem Werk nicht nur darauf insistierten, er sei Antisemit und »Israel-Hasser«, sondern zugleich die »postkoloniale Theorie« anprangerten, als deren wichtiger Vertreter Mbembe gilt.1 Irritierend daran war nicht allein der Gestus, mit dem beispielsweise so mancher Journalist auftrat, als sei er der erste, der Kritik am Postkolonialismus oder an Mbembe übe. Insgesamt fiel zudem auf, wie sehr die Debatte auf einer bestenfalls oberflächlichen Lektüre relevanter Texte basierte. Dies galt zum Teil auch für jene, die etwa die Antisemitismusvorwürfe gegen Mbembe vehement ablehnten. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die in der Öffentlichkeit rasch zu einer der führenden Verteidi­ger*innen Mbembes aufstieg, gestand zunächst freimütig ein, sie könne seiner Theorie eigentlich gar nicht so richtig folgen.2

Der Streit um Mbembe brachte eine Reihe kontroverser Debattenthemen zusammen, die bislang oft wenig verbunden waren: Holocaust, Israel, Zionismus, Antisemitismus, Apartheid und postkoloniale Studien. Zugleich offenbarte sich vor allem bei einigen Mbembe-Kritiker*innen eine mitunter schmerzhafte Provinzialität, die der Jurist Ralf Michaels prägnant zusammenfasste: »Deutsche Diskutanten verlangen von anderen, die ›Errungenschaft‹ einer spezifisch deutschen ›Erinnerungskultur‹ nicht nur anzuerkennen, sondern zur Grundlage auch ihres eigenen Denkens und Sprechens zu machen. Da wir Deutschen für den Holocaust verantwortlich sind, nehmen wir uns das moralische Recht, anderen vorzuschreiben, was sie dazu zu sagen haben.«3 Die Causa Mbembe bietet also ohne Zweifel interessanten Stoff für künftige Zeithistoriker*innen, wirft aber auch Fragen gerade für die gegenwärtige Zeitgeschichtsforschung in Deutschland auf, deren Vertreter*innen, soweit ich es sehe, während der bisherigen Debatte eher vornehme Zurückhaltung offenbarten. Doch ist im Zuge der Kontroverse um Mbembe in den letzten Monaten wiederholt angemahnt worden, den Dialog mit der postkolonialen Theorie zu suchen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie ernstzunehmen oder ihr wenigstens einmal zuzuhören, so wie es in benachbarten Disziplinen bereits geschehen ist.4 Jürgen Zimmerer bezeichnete postkoloniale Debatten mehrfach gar als die »zentralen« oder »größten« Identitätsdebatten Europas in der Gegenwart.5 Hat ein solcher Dialog bereits begonnen? Ist er überhaupt sinnvoll, und verspricht er einen intellektuellen Ertrag? Welche Perspektiven bieten sich für eine Zeitgeschichtsforschung an, die sich postkolonialen Ansätzen stärker öffnen möchte? Im Folgenden sollen diese Fragen vorrangig mit Blick auf die Zeitgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum und ihre spezifischen Kontexte diskutiert werden.

2. Postkoloniale Ansätze und Zeitgeschichte in Deutschland

Postkoloniale Theorieansätze sind seit nun beinahe vier Jahrzehnten ebenso erfolgreich wie umstritten. Ein zentrales Problem, sie kritisch zu erfassen, besteht nicht zuletzt darin, dass der Begriff »postkolonial« »trotz aller Versuche der Klärung unscharf und heiß debattiert« bleibt.6 Welche Ansätze und Autor*innen dem Feld der postkolonialen Studien zuzurechnen sind, scheint unter anderem davon abzuhängen, worauf eine bestimmte Kritik zielt oder welcher Bezug für die eigene Arbeit her­gestellt werden soll. Mbembe etwa gilt, einerseits, als wohl wichtigster afrikanischer Repräsentant des Postkolonialismus, andererseits hat er sich selbst mehrfach von dieser Denkrichtung distanziert.7

Jenseits aller Verästelungen und Differenzierungen lassen sich zwei wesentliche Bedeutungen von Postkolonialismus festmachen. Einmal, ganz simpel, bezeichnet der Begriff die Situation und die Entwicklungen nach dem formalen Ende kolonialer Herrschaft. Die Dekolonisation vollzog sich im Kern zwischen 1947, als in Indien die britische Herrschaft endete, und den ersten freien Wahlen in Südafrika 1994. Die meisten lateinamerikanischen Kolonien erlangten allerdings bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit. Deutschland, seit 1919 nicht mehr formal Kolonialmacht, wurde gleichsam die erste »postkoloniale Nation« unter jenen Ländern, die aktiven Anteil am europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts hatten.8

SPIEGEL-Cover 45/1976. Koloniale Vergangenheit, die nicht vergehen will: Deutsche Siedler*innen in Namibia

Studien, die sich einem postkolonialen Ansatz verpflichtet fühlen, fragen hingegen vor allem danach, wie sich koloniale Herrschaft in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Recht, Literatur und Kunst, in der Populärkultur wie in Alltagskontexten manifestiert und wie sie sich bis in die Gegenwart hinein auswirkt. Das »post« in »postkolonial« markiert daher nicht das Ende kolonialer Beziehungen zwischen Nord und Süd. Es legt vielmehr das Augenmerk auf koloniale Kontinuitäten, die nach dem Ende der formalen Fremdherrschaft unter veränderten Bedingungen weiterbestehen. Die stärkere Einbeziehung postkolonialer Perspektiven könnte nicht zuletzt ein Impuls sein, »Zeitgeschichte« wieder breiter als Geschichte des »langen« 20. und des frühen 21. Jahrhunderts zu untersuchen.

Die Geschichtswissenschaft tat sich mit postkolonialen Ansätzen lange schwer. Selbst in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien blieb der Mainstream des Faches davon geraume Zeit wenig berührt, und bis heute haben nur einzelne historische Bücher postkolonialer Provenienz, etwa Dipesh Chakrabartys »Provincializing Europe« (2000), weite Resonanz im Fach erfahren. Zugleich beschäftigen sich in den genannten Ländern allerdings sehr viel mehr Historiker*innen mit der Geschichte der ehemals kolonisierten Weltregionen oder allgemein mit Fragen des Kolonialismus und seinen Folgen und setzen sich in diesem Zusammenhang intensiver mit postkolonialen Ansätzen auseinander. In Frankreich ließ sich lange Zeit eine große Skepsis, zuweilen gar massive Polemik gegen postkoloniale Studien ausmachen.9 In Deutschland lag die Zurückhaltung offenkundig auch an der Überzeugung, dass die Bundesrepublik mit Fragen des Kolonialismus, mit seinen Auswirkungen und Effekten wenig zu tun habe, die zentralen Perspektiven postkolonialer Denker*innen daher kaum relevant seien. Die Tatsache, dass viele dieser Forscher*innen – allen voran der aus Indien stammende, in Harvard lehrende Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha – dichte und zuweilen undurchdringliche Texte hervorgebracht haben, machte es überdies leicht, sie für ihren Jargon zu schelten und die hermetische Prosa als neue Orthodoxie zu kritisieren, als eine Art rhetorische Zwangsjacke, die alle Gedanken einem vorgefertigten Vokabular unterwerfe. Die verspätete und zunächst wenig intensive Reaktion auf postkoloniale Ansätze in Deutschland ließ sich bequem begründen mit dem Verweis auf deren Schwächen und Widersprüche, wie sie etwa in der nordamerikanischen Debatte sofort thematisiert worden waren. Dies konnte nun nachgeplappert werden, ohne sich mit den Texten selbst auseinandersetzen zu müssen. Zugleich wuchs aber gerade unter jüngeren Wissenschaftler*innen vor allem im Feld der Kulturwissenschaften das Interesse an dieser Richtung. Erste sehr kompetente Einführungen entstanden, einige Schlüsselwerke wurden ins Deutsche übersetzt, erschienen mehrheitlich jedoch in kleineren und spezialisierten Verlagen.10

Das seit einigen Jahren wieder sichtbare Interesse an der Bedeutung des Kolonialismus auch für die deutsche Geschichte basiert zum Teil auf der sich intensivierenden Auseinandersetzung mit postkolonialen Ansätzen und kam häufig aus kulturwissenschaftlicher Richtung.11 Eine kontroverse wie anregende Debatte entfachte sich um die These, dass koloniale Erfahrungen und Praktiken konstitutiv für die nationalsozialistische Eroberungs- und Kriegspolitik im Osten und den Holocaust gewesen seien.12 Die Postcolonial Studies haben in der Historiographie weltweit nicht zuletzt die Beschäftigung mit der Kolonialperiode selbst geprägt und dabei viele neue Aspekte ins Zentrum gerückt. Nachdem sich die Forschung lange Zeit vor allem für die Auswirkungen kolonialer Herrschaft auf die abhängigen Territorien in Afrika, Lateinamerika, Asien und im Nahen Osten interessiert hatte, gerieten nun verstärkt die Rückkoppelungen für die kolonisierenden Gesellschaften in den Blick. Dahinter stand die Einsicht, dass die imperiale Expansion auch in Europa, in den Vereinigten Staaten oder in Japan soziale Gruppen voraussetzte, die sich mit kolonialen Zielen identifizieren konnten. Zugleich schuf die territoriale Ausdehnung, so eine zentrale These, in den Metropolen selbst ein koloniales Bewusstsein. Analysen des Imperiums »zu Hause« suchten zu zeigen, wie Kolonialausstellungen und Völkerschauen, Kolonialwarenläden oder Kolonialromane dazu beitrugen, das imperiale Projekt auf der Ebene der Imagination breiterer Bevölkerungsschichten zu verankern. Charakteristisch für diese Perspektive war zum einen, dass sie sich für die Kolonisierten häufig nur als Kollektivsubjekt sowie als Projektionsfläche europäischer Fantasien und Begierden interessierte. Zum anderen war die Forschung stark kulturhistorisch geprägt, sodass sich nicht selten der Eindruck aufdrängen konnte, koloniale Herrschaft habe sich in erster Linie in den Köpfen abgespielt.13

Kolonialwarenhandlungen gehörten ab dem späten 19. Jahrhundert zum Alltag vieler Menschen in Deutschland. Sie sind ein gutes Beispiel für die subkutane Präsenz des Kolonialen in der Bundesrepublik, aber auch
in der DDR. Das Foto von 2015 zeigt ein ehemaliges Geschäft in
Loitz(Mecklenburg-Vorpommern).
(picture-alliance/ZB/Stefan Sauer)

Auch zahlreiche der klassischen Texte des Postkolonialismus nehmen zwar die Gegenwart oder jüngste Vergangenheit zum Ausgangspunkt, ihr Schwerpunkt liegt jedoch in der kolonialen Periode. So charakterisierte Stuart Hall in seinem Essay »The West and the Rest« (1992) den britischen Nachkriegsrassismus als Folge eines Prozesses, in dem die durch die Einwanderung gleichsam zur inneren Geschichte gewordene Kolonialhistorie der Insel wieder in den Außenbereich einer negativen Alterität verdrängt werden sollte. Dazu habe es klarer Trennungslinien zwischen (weißem) »Ich« und (nicht weißem) »Anderen« sowie des Unsichtbar-Machens historischer Mobilitäten und Verflechtungen bedurft. Hall legte dar, wie der Kontext von kolonialer Eroberung, Ausbeutung und Herrschaft seit dem 15. Jahrhundert die Vorstellung einer Zweiteilung der Welt vorantrieb und legitimierte. In diesem Rahmen begegneten sich Europa und der Rest der Welt nämlich nicht als Gleiche, sondern als Eroberer und zu Erobernde. Dies habe einen hierarchischen Diskurs geschaffen, der nicht lediglich zwei unterschiedliche Räume verglich, sondern dem einen Superiorität, dem anderen Minderwertigkeit zuschrieb. In diesem Szenario werde der »Rest« zum »Anderen Europas« stilisiert und mit all jenem verknüpft, was Europa nicht zu sein beanspruche, ja nachdrücklich von sich weise: Barbarei, Primitivität, Unterentwicklung. Die Rituale der Herabwürdigung der »Anderen«, deren Konstruktion als Negation dessen, wofür der Westen vermeintlich stehe, seien bis heute konstitutiv für die Schaffung eines westlichen Selbstbildes; dieser Zusammenhang werde aber beharrlich verleugnet und verschleiert.14

Ein zentrales Ziel des postkolonialen Denkens bestand und besteht darin, dieses binäre Denken aufzubrechen. Offen zutage trat eine solche Sicht auf die Welt etwa bei der Planung und Einrichtung des Berliner Humboldt Forums. Von seinen Initiatoren konzipiert als »Werkstatt für den kulturellen Dialog«, welche zugleich das »Verhältnis Deutschlands zu den Kulturen der Welt« neu bestimmen könne, war dem Projekt von Beginn an die Trennung zwischen »europäischen« bzw. »deutschen« und »anderen«, »außereuropäischen« Kulturen eingeschrieben.15 Die anschließenden Kontroversen, die sich nicht zuletzt daran entzündeten, dass zahlreiche in der Kolonialperiode gestohlene oder mit Gewalt angeeignete Objekte im Forum ausgestellt werden sollen, haben sich eingereiht in eine breitere öffentliche Debatte über den Kolonialismus, der nicht vergehen will, sondern in vielfältiger Gestalt weiterhin auch in Deutschland präsent ist – unter anderem in diversen Formen des Rassismus, die, so die Kritik, hierzulande systematisch verdrängt worden seien.

Denn wer sich anlässlich der aktuellen Debatten profund über die Geschichte des Rassismus und der Bedeutung von race in Deutschland nach 1945 informieren wollte, fahndete lange Zeit beinahe vergeblich nach einschlägigen zeithistorischen Studien.16 Dies mag man als symptomatisch für ein Feld ansehen, das nun schon seit Jahrzehnten einen beträchtlichen Zuwachs an Forschung und fachlicher wie öffentlicher Aufmerksamkeit erfährt, sich zugleich aber lange schwer tat, seine traditionell stark germanozentrische Ausrichtung, die durch die enorme Konjunktur der DDR-Forschung nach 1990 noch verstärkt wurde, zu nuancieren und sich darüber hinaus bestimmter Themen anzunehmen, die wie Rassismus und der lange Schatten des Kolonialismus zunächst wenig relevant für die deutsch-deutsche Historie nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen. Der Aufstieg der transnationalen Geschichte und Globalgeschichte, immerhin, hat schließlich auch die Zeitgeschichtsforschung herausgefordert, die darauf in der Regel zunächst mit einer argumentativen Mischung aus »Das machen wir im Grunde doch längst schon« und »Dieser Ansatz ist in vielen Fällen gar nicht angemessen« zu antworten suchte. Als eine Art Konsens scheint sich inzwischen die von Alexander Gallus, Axel Schildt und Detlef Siegfried formulierte Sichtweise etabliert zu haben, derzufolge die »deutsche Geschichte nach 1945 […] nicht ausschließlich als transnationale Geschichte erzählt werden [kann], weil ihre nationalen Aspekte – vor allem die Vorgeschichte des ›Dritten Reiches‹ und die deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte von Bundesrepublik und DDR – substantiell sind. Aber wir würden«, fügen die Autoren sogleich hinzu, »zentrale Aspekte dieser Geschichte und unserer Gegenwart ausblenden, betrachteten wir sie nicht aus einer transnationalen Perspektive und stellten wir nicht Deutschland in jenen internationalen Kontext, der seine Existenzbedingungen und kollektiven Bewusstseinslagen erheblich mitbestimmt hat«.17

Dem vom Autorentrio formulierten Befund, die deutsche Zeitgeschichtsschreibung habe den Transnational Turn in der Praxis längst vollzogen, freilich ohne sich immer dieses Etikett anzuheften, ist zumindest in Teilen sicher zuzustimmen. Blickt man etwa auf die laufenden Projekte größerer Forschungsinstitute der Zeitgeschichte – das Institut für Zeitgeschichte München/Berlin, das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg –, so findet sich gewiss eine Reihe von Vorhaben, welche die jüngere und jüngste deutsche Historie in transnationale Kontexte stellen und diese vor allem nicht nur postulieren, sondern empirisch beforschen. Auffällig ist allerdings der weiterhin starke Fokus auf die deutsche Geschichte oder auf eine Perspektive, die Deutschland als Ausgangspunkt für die Untersuchung von Verflechtungen aller Art nimmt. Zu wenig reflektiert wird überdies das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und politischem Aktivismus. Gerade in Bezug auf das Themenfeld (Post-)Kolonialismus und Rassismus finden viele wesentliche Debatten außerhalb der Fachwissenschaft statt. Sie sind häufig mit einem primär politischen Interesse verbunden, fördern zugleich jedoch neue historische Forschungsergebnisse zutage und stellen neue Fragen.18 Von einem Postcolonial Turn ist in der deutschsprachigen akademischen Zeitgeschichte dagegen nichts zu sehen. Nun muss nicht immer gleich ein Turn ausgerufen werden, und es kann auch nicht vorrangig darum gehen, eine neue postkoloniale Meistererzählung zu etablieren. Aber ein bisschen mehr postkoloniale Perspektiven dürften schon sein, und die könnten ganz schlicht damit beginnen, die Geschichte der Postkolonien stärker in die zeithistorische Forschung zu integrieren.

Die Demonstration im Februar 2020 zum 135. Jahrestag der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 ist nur ein Beispiel für das beharrliche Eintreten zivilgesellschaftlicher Initiativen für einen kritischen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit.
(snapshot-photography/F. Boillot/Süddeutsche Zeitung Photo)

3. Perspektiven

Die durchaus wachsende Zahl von Historiker*innen, die sich in Deutschland Themen der jüngeren lateinamerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Geschichte annehmen, wird selten dem Bereich der »Zeitgeschichte« zugeordnet, sondern meist in die Historiographie ihrer jeweiligen Weltregionen eingruppiert. Die Wahrnehmung und Einordnung dieser Studien, ihrer methodischen und theoretischen Angebote ebenso wie ihrer thematischen Schwerpunkte als »Zeitgeschichte« könnten neue Horizonte eröffnen und den eigenen Blickwinkel darauf, was denn eigentlich »Zeitgeschichte« ausmacht, zu entprovinzialisieren helfen. Wer etwa gängige Einführungen in die Zeitgeschichte zur Hand nimmt, wird wenig Hinweise auf Entwicklungen jenseits des europäischen und nordatlantischen Raumes finden.19 Damit einher geht die Tendenz, die entscheidenden »Signaturen« der jüngeren Geschichte dann doch vor allem in Europa zu verorten, wie dies etwa ein neuerer Sammelband tut, der das 20. Jahrhundert zu »vermessen« beansprucht, dabei aber weitgehend ohne Entwicklungen in den postkolonialen Regionen auskommt, ja selbst den Prozess der Dekolonisation offenbar nicht als besonders relevant erachtet.20 Es geht jetzt gar nicht darum, die Keule des Eurozentrismusvorwurfs zu schwingen, aber es sei doch auf die problematische Tendenz verwiesen, in der Zeitgeschichtsforschung die Entwicklungen Deutschlands oder bestenfalls (West-)Europas gleichsam zu normalisieren und den Rest der Welt, vor allem die ehemals kolonisierten Regionen, nur dann zu berücksichtigen, wenn sie mit der deutschen Zeitgeschichte verknüpft werden können.21

Ein gängiges Argument für den dominierenden Fokus auf Deutschland verweist auf das große Interesse gerade an Fragen deutscher Zeitgeschichte in Öffentlichkeit und Politik, Medien und Buchmarkt sowie im Bereich von Schule und Bildung, dem es nachzukommen gelte, um die Legitimation des Faches zu gewährleisten, und das überdies die Berufschancen des Nachwuchses erhöhe.22 Diese Begründung hat einiges für sich, doch erinnert sie ein wenig an die Rechtfertigungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, zur Hauptsendezeit lieber eine Degeto-Schmonzette oder ein Fußballspiel aus der ersten Runde des DFB-Pokals zu zeigen als eine anspruchsvolle politische Dokumentation oder ein experimentelles Fernsehspiel, weil es schließlich Zuschauerpräferenzen gebe. Gerade die so sichtbare Zeitgeschichte könnte es sich zur Aufgabe machen, gleichsam die Sehgewohnheiten zu verändern und die Relevanz von Entwicklungen in nachkolonialen Gesellschaften für die globale Zeithistorie zu betonen (und die Vielfalt der methodischen Herausforderungen, die mit ihrer Erforschung verbunden sind). Dies ist kein Aufruf, sich von der zeitgeschichtlichen Erforschung Deutschlands (in seinen Verflechtungen) zu verabschieden, sondern die Beschäftigung mit der jüngeren Historie ehemals kolonisierter Weltregionen ebenfalls als Teil der Zeitgeschichte zu konzeptualisieren – über die sicher nett gemeinte Anfrage »Wir hätten für die Tagung gern auch was zu Afrika« hinaus.

Eine solche Erweiterung und »Normalisierung« hieße aber noch nicht, sich auf postkoloniale Perspektiven einzulassen, sondern erst einmal die Ordnung des zeithistorischen Wissens behutsam zu rekonfigurieren, um ein stärkeres Bewusstsein für und eine solidere Grundlage zu Entwicklungen jenseits des europäisch-nordatlantischen Raumes zu schaffen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie eine postkoloniale Perspektive auf die deutsche Geschichte nach 1945 aussehen könnte. Der Themenkomplex Rassismus und race drängt sich in diesem Zusammenhang gegenwärtig geradezu auf und soll im Folgenden als Beispiel dienen. Christina Morina und Norbert Frei haben unlängst die brutale Tötung des schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch Polizisten in Min­neapolis im Mai 2020 als möglichen Wendepunkt hin zu einer wahrhaft globalen und damit notwendigerweise vielstimmigen Debatte über Rassismus bezeichnet und daraus das Plädoyer für einen »fundamentalen Perspektivwechsel« abgeleitet. Darunter verstehen sie nicht allein eine historiographische Neuorientierung, sondern weit umfassendere persönliche, professionelle und institutionelle Konsequenzen, also sich etwa »der unterschiedlichen Verteilung von Verwundbarkeiten und Privilegien bewusst zu werden«.23 Hier trifft sich das Autor*innen-Duo mit einem zentralen Anliegen postkolonialer Zugänge, welche in ihre Kritik an der unzureichenden Dekolonisation immer auch die akademische Praxis einbezogen haben, etwa die Frage, welche Stimmen gehört und welche marginalisiert werden.

Aber in welcher Form könnte sich eine deutsche Zeitgeschichtsschreibung, die sich verstärkt mit der – höflich formuliert – bisher unzureichend problematisierten Historie des Rassismus auseinandersetzen muss, explizit von postkolonialen Perspektiven inspirieren lassen?24 Race und »Rassismus« gehören sicherlich zu zentralen Aspekten postkolonialer Forschung.25 In diesem Kontext kann es jedoch weniger darum gehen, sich allgemein auf einen »postkolonialen Kanon« zu berufen, als vielmehr Anregungen aufzunehmen, die auch, aber beileibe nicht exklusiv von Ansätzen geleistet wurden, welche sich dem Spektrum des Postkolonialismus zurechnen lassen. Race ist in den USA, dies hat vor allem W.E.B. Du Bois bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet, eine zur Sichtbarmachung diskriminierender race relations, der Rassendiskriminierung und der Unterdrückung Schwarzer Menschen ebenso umstrittene wie unabdingbare Kategorie.26 Die Trias race, class, gender bestimmte in Nordamerika seit den späten 1960er-Jahren auch einen Teil der historischen Forschung, doch die Selbstverständlichkeit, mit der »Rasse« auf eine Stufe mit Geschlecht und Klasse gestellt wurde, funktionierte im deutschen Kontext nicht. Während race im Englischen nicht nur ein historischer Begriff ist, sondern ein kulturell und politisch aktuelles Konzept darstellt, herrscht im deutschen Sprachraum ein historisch gut begründetes Unbehagen am Begriff »Rasse«, der daher schwerlich parallel mit »Geschlecht« zu einer wichtigen Kategorie der Geschichtswissenschaft aufgewertet werden konnte.27 »Rasse« gehörte nach 1945 im deutschsprachigen Raum kaum noch zum politischen Diskurs, während Rassismus ab den 1970er-Jahren lange als etwas galt, was es in anderen Ländern wie den USA und Südafrika gab. Erst als etwa die NSU-Mordserie, Pegida-Proteste und die Fluchtbewegungen von 2015 das massive Ausmaß der Ablehnung, Anfeindung und Gewalt gegen Menschen, die als »fremdländisch« identifiziert werden, überdeutlich machten, nahm die Wahrnehmung von Rassismus zu, ohne anfangs signifikante Effekte in der zeithistorischen Forschung auszulösen. Das beginnt sich jedoch langsam zu ändern.

Christian Geulen hat mehrfach zurecht darauf verwiesen, dass dieser Rassismus weitgehend ohne das Konzept der »Rasse« auskommt, was die Notwendigkeit, race als analytisches Konzept fruchtbar zu machen, aber nicht ausschließt.28 Als nützlicher Ansatz für die Zeitgeschichte könnte sich die zunächst aus dem rechtswissenschaftlichen Kontext erwachsene, eng mit postkolonialen Ansätzen verschränkte Critical Race Theory erweisen, deren Ausgangspunkt in der Annahme besteht, dass Rassismus keineswegs eine exzeptionelle Erscheinung darstellt, sondern alltäglich und strukturell ist, mithin ein Machtverhältnis ausdrückt, das nicht zuletzt durch das Recht gestützt wird.29 Rassismus in Deutschland als historisch gewachsenes, gesamtgesellschaftlich wirksames Phänomen ist in dieser Lesart eben nicht auf Rechtsradikalismus zu reduzieren und lässt sich keineswegs vor allem als »Ausländerfeindlichkeit« erfassen; Rassismus ist ein gleichsam normalisierter Aspekt der deutschen Gesellschaft. Ein eindringliches Beispiel für diese Normalität bietet die 1985 getätigte Aussage des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und SPD-Mitglieds Wolfgang Zeidler über die Schwierigkeiten, in Namibia eine Verfassung auf den Weg zu bringen: »Der durchschnittliche afrikanische Massenmensch, der unerzogen im Busch lebt, hat noch nicht die Entwicklungsstufe der Abstraktionsfähigkeit erreicht. Und wir wollen ihnen [sic] unser in 2000 Jahren geformtes Modell der Staatskunst aufzwingen ohne Rücksicht auf die Annahmefähigkeit! Das wäre ja, als ob man einen Säugling, der drei Tage alt ist, mit Rumpsteak und pommes frites füttert!«30

Es wäre zu einfach, solche Denkstile als inzwischen überwunden zu betrachten. Traurige Schlagzeilen mit rassistischen Aussagen macht regelmäßig der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke (CDU), der etwa 2018 in einem Zeitungsinterview verkündete: »Die Gesellschaften funktionieren dort [in Afrika] anders. Das hat mit Clan-Strukturen zu tun, der Rolle von Stammesführern, der Vielzahl an Ethnien und tradierten Verhaltensweisen. In Niger bekommen die Frauen im Schnitt 7,3 Kinder, die Männer hätten gerne elf!« Und sodann ordnete er auf markante Weise die Bedeutung des Kolonialismus für Afrika ein: »Schlimm waren die Sklaventransporte nach Nordamerika. Auf der anderen Seite hat die Kolonialzeit dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen. Experten, auch Afrikaner, sagen: Der Kalte Krieg hat Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit.«31 Während sich der offenkundig rassistische Gehalt der Zitate wohl auch ohne postkoloniales Instrumentarium erschließen lässt, verweist die neuere Diskussion verstärkt auf zunächst weniger sichtbare Aspekte wie das Racial Profiling im Rahmen polizeilicher und allgemein staatlicher Maßnahmen sowie auf die vielfache Marginalisierung von People of Color etwa im Berufsleben.32

Eine zentrale Aufgabe einer postkolonial inspirierten Zeitgeschichtsforschung bestünde folglich darin, dieser Normalität des Rassismus auf vielen Ebenen nachzuspüren, sie einzuordnen und zu erklären. In diesem Zusammenhang wäre die Frage, auf welche Weise Rassismus die ungleiche Verteilung von Chancen sowie den ungleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen begründet, von besonderer Bedeutung. Ist etwa das Konzept des Racial Capitalism, das auf die enge Verknüpfung zwischen kapitalistischer Ausbeutung und rassistisch begründeten Hierarchien verweist, auch für die Zeitgeschichte ein nützliches Vehikel?33 Gerade die materiellen Phänomene postkolonialer Konstellationen gehören zu den – bereits oft kritisierten – Blindflecken postkolonialer Ansätze.34 Solche Ansätze bieten sicher kein Passepartout für die Zeitgeschichtsschreibung, aber bisher kaum genutzte Instrumentarien und Perspektiven, welche es (mit) ermöglichen, lange ignorierte und gegenwärtig extrem dringlich erscheinende Dimensionen der Zeithistorie näher zu erforschen.


Anmerkungen:

1 Stellvertretend dafür genannt sei der Beitrag von Saba-Nur Cheema/Meron Mendel, Leerstelle Antisemitismus, in: taz, 25.4.2020. Für eine fundiertere und differenziertere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Postkolonialismus und Antisemitismus vgl. Bryan Cheyette, Postcolonialism and the Study of Antisemitism, in: American Historical Review 123 (2018), S. 1234-1245.

2 Eine interessante und abwägende Darstellung der »Causa« findet sich bei Cristina Nord, Einig, uneins zu sein. Zur Debatte um Achille Mbembe, in: Merkur 74 (2020) H. 7, S. 19-31. Zur Äußerung Assmanns vgl.: Die Welt reparieren, ohne zu relativieren. Aleida Assmann und Susan Neiman zur Causa Mbembe, in: Deutschlandfunk Kultur, 26.4.2020; Patrick Bahners, Mbembe lesen. Ein Verband übt Kritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.2020. In einer jüngeren Publikation setzt sich Assmann dagegen etwas dezidierter mit Mbembes Werk auseinander und sieht als dessen Kernpunkt die grundlegende Kritik an rassistischer Gewalt. Vgl. Aleida Assmann, Polarisieren oder solidarisieren? Ein Rückblick auf die Mbembe-Debatte, in: Merkur 75 (2021) H. 1, S. 5-19. Ich selbst habe während der Debatte in mehreren Medienbeiträgen die Vorwürfe an Mbembe als unbegründet bezeichnet (z.B.: Antisemitismusvorwürfe gegen Achille Mbembe: »Anzeichen einer Hexenjagd«, Interview SWR 2 Kultur Aktuell, 22.4.2020), und darf in diesem Zusammenhang hinzufügen, dass sich meine Kenntnis von Mbembes Œuvre nicht bloß auf einige inkriminierte Textstellen aus seinen jüngeren Veröffentlichungen beschränkt. Vgl. u.a. Andreas Eckert, Ausgang aus der großen Nacht. Über Achille Mbembe, in: Merkur 70 (2016) H. 7, S. 58-65. Für eine differenzierte Analyse von Mbembes Werk in Bezug auf die gegenwärtige Debatte über Rassismus und Antisemitismus vgl. jetzt Philipp Dorestal, Reassessing Mbembe: Postcolonial Critique and the Continuities of Extreme Violence, in: Journal of Genocide Research online, 4.12.2020.

3 Ralf Michaels, Deutschstunde für alle Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.6.2020. Vgl. auch Felix Axster, War doch nicht so schlimm, in: Freitag, 28.5.2020.

4 Dies gilt nicht nur für die Ethnologie und den weiten Bereich der Kulturwissenschaften, sondern etwa auch für die Soziologie und die Politikwissenschaft. Vgl. Julia Reuter/Paula-Irene Villa (Hg.), Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Interventionen, Bielefeld 2015; Aram Ziai (Hg.), Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und empirische Zugänge, Bielefeld 2016.

5 Vgl. z.B. Jürgen Zimmerer, Die größte Identitätsdebatte unserer Zeit, in: Süddeutsche Zeitung, 20.2.2019. Freilich gilt es zu bedenken, dass sich zum einen die Fokussierung auf Identität in der Forschung nicht immer als ertragreich erwiesen hat, zum anderen »Identität« als analytische Kategorie recht problematisch ist. Dazu immer noch anregend: Rogers Brubaker/Frederick Cooper, Beyond »Identity«, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1-47. Aus literarischer Sicht zum Thema jetzt Mithu M. Sanyal, Identitti. Roman, München 2021.

6 María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, 3. Aufl. 2020, S. 15.

7 What is postcolonial thinking? An interview with Achille Mbembe, in: Eurozine, 9.1.2008 (Erstveröffentlichung auf Französisch in: Esprit 12/2006).

8 Britta Schilling, Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation, Oxford 2014; Andreas Eckert, The First Postcolonial Nation in Europe? The End of the German Empire, in: Martin Thomas/Andrew Thompson (Hg.), The Oxford Handbook of the End of Empires, Oxford 2018, S. 102-122.

9 Besonders vehement fiel die Streitschrift des sehr historisch arbeitenden Politologen und Afrika-Spezialisten Jean-François Bayart aus: Les études postcoloniales. Un carnaval académique, Paris 2010. Dagegen: Nicolas Bancel u.a. (Hg.), Ruptures postcoloniales. Les nouveaux visages de la société française, Paris 2010.

10 Neben Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie (Anm. 6), vgl. etwa Ina Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2012; Dirk Göttsche/Axel Dunker/Gabriele Dürbeck (Hg.), Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart 2017. Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, versammeln einige »klassische« Aufsätze im Feld. Siehe auch Ulrike Lindner, Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.4.2011. Übersetzt wurden etwa Edward Said, Orientalismus. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Liliane Weissberg, Frankfurt a.M. 1981 (amerik. Orig. 1978; später erschienen weitere, verbesserte Übersetzungen); Gayatri Chakravorty Spivak, Kritik der postkolonialen Vernunft. Hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart. Aus dem Englischen übersetzt und eingeleitet von Nadine Böhm-Schnitker u.a., Stuttgart 2014 (amerik. Orig. 1999); Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2000 (amerik. Orig. 1994).

11 Die Liste entsprechender Studien ist inzwischen recht lang. Stellvertretend seien genannt: Sandra Maß, Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964, Köln 2006; Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a.M. 2013; Felix Axster, Koloniales Spektakel in 9x14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich, Bielefeld 2014; Dörte Lerp, Imperiale Grenzräume. Bevölkerungspolitik in Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens 1884–1914, Frankfurt a.M. 2016; Bernd-Stefan Grewe u.a., Freiburg und der Kolonialismus. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, Freiburg i.Br. 2019.

12 Vgl. u.a. Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2011. Kritisch zu diesem Ansatz etwa: Birthe Kundrus, Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur »Kolonialisierung« des Holocaust, in: WerkstattGeschichte 43 (2006), S. 45-62; Robert Gerwarth/Stephan Malinowski, Der Holocaust als »kolonialer Genozid«? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439-466. Als Überblick zur Debatte siehe auch Steffen Klävers, Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin 2019.

13 Vgl. Sebastian Conrad, Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012) H. 44-45, S. 3-9.

14 Stuart Hall, The West and the Rest. Discourse and Power [1992], in: ders., Essential Essays, Bd. 2: Identity and Diaspora, hg. von David Morley, Durham 2018, S. 141-184.

15 Vgl. die informative Analyse von Daniel Morat, Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 16 (2019), S. 140-153.

16 Dies gilt weniger für die Zeit vor 1945. Vgl. etwa Fatima el Tayeb, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um »Rasse« und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt a.M. 2001; Anette Dietrich, Weiße Weiblichkeiten. Konstruktion von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007. Für die Zeit nach 1945 stechen die Studien von Maria Alexopoulou hervor, etwa: Rassismus als Kontinuitätslinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (2018) H. 38-39, S. 18-24; dies., »Ausländer« – A Racialized Concept? »Race« as an Analytical Concept in Contemporary German Immigration History, in: Mahmoud Arghavan u.a. (Hg.), Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt? Facing Problems of Race, Racism and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany, Bielefeld 2019, S. 45-67. Jetzt auch in einem weiteren Kontext: Maria Alexopoulou, Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Stuttgart 2020. Aufschlussreich zudem: Astrid Messerschmidt, Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft – vom Umgang mit Rassismus und Antisemitismus, in: Peripherie 109/110 (2008), S. 42-60.

17 Alexander Gallus/Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Zeitgeschichte – transnational, in: dies. (Hg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015, S. 11-23, hier S. 18. Ein differenziertes Plädoyer für eine transnationale/globale Öffnung der Zeitgeschichte der Arbeit in Deutschland jetzt bei Lutz Raphael, Deutsche Arbeitswelten zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungsbezügen. Zeitgeschichtliche Perspektiven, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69 (2021), S. 1-23.

18 Vgl. etwa <https://www.tearthisdown.com/de/> (Deutschland-Karte als »ein Startpunkt für die Sammlung von kolonialen Namen im öffentlichen Raum«, mit Links zu verschiedenen lokalen Initiativen). Auch in Literatur und Essayistik sind die Themen sehr präsent und finden zunehmend ein breites Echo. Für sein Buch »Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa« (Berlin 2020) erhält der englische Journalist und Fotograf Johny Pitts im Mai 2021 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

19 Vgl. Horst Möller/Udo Wengst, Einführung in die Zeitgeschichte, München 2003; Gabriele Metzler, Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn 2004. Vor allem der erste Band hat einen fast ausschließlichen Fokus auf die deutsche Geschichte. Es ist anzunehmen, dass entsprechende Einführungen, würden sie heute geschrieben, inhaltlich anders gewichtet wären.

20 Martin Sabrow/Peter Ulrich Weiß (Hg.), Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, Göttingen 2017.

21 Dies gilt in gewissem Maße selbst für Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019. Es ist durchaus legitim und nachvollziehbar, wenn in Deutschland tätige und sozialisierte Historiker*innen die deutsche Perspektive als Ausgangspunkt nehmen, aber es erscheint problematisch, »Zeitgeschichte« allein daran zu knüpfen.

22 Es sei allerdings angemerkt, dass im Journalismus bzw. in der medialen Öffentlichkeit das Interesse an »nicht-deutschen« oder »dekolonialen« Themen partiell wesentlich höher ist als in der Geschichtswissenschaft, was ohne Zweifel mit der inzwischen größeren Diversität der Akteure in den Medien zusammenhängt. Das Deutschlandradio hat das Thema »Eine Welt 2.0 – Dekolonisiert euch!« immerhin als einen starken Schwerpunkt im Jahr 2020 verfolgt: <https://www.deutschlandradio.de/denkfabrik-dekolonisiert-euch.4142.de.html>.

23 Christina Morina/Norbert Frei, Rassismus und Geschichtswissenschaft, in: L.I.S.A. Wissenschafts­portal Gerda Henkel Stiftung, 24.9.2020. Vgl. aber auch schon Maria Alexopoulou, Blinde Flecken innerhalb der zeithistorischen Forschung in Deutschland, in: zeitgeschichte | online, 9.2.2017. Zur Einordnung des Falls von George Floyd in die US-Geschichte siehe auch Jürgen Martschukat, »I can’t breathe.« Atemnot als Normalzustand, in: Geschichte der Gegenwart, 21.10.2020.

24 In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass es nicht an deutschsprachigen Texten zur Geschichte des Rassismus mangelt, dass diese jedoch selten auf Entwicklungen in Deutschland nach 1945 eingehen. Vgl. etwa Imanuel Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt a.M. 1988; Robert Miles, Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Aus dem Englischen von Michael Haupt, Hamburg 1991; Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003; Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, München 2007, 4. Aufl. 2021; sowie die zahlreichen instruktiven Studien von Wulf D. Hund, z.B.: Rassismusanalyse in der Rassenfalle. Zwischen »raison nègre« und »racialization«, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 511-548. Stärker auf die Kategorie race fokussieren Olaf Stieglitz/Jürgen Martschukat, race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit. Oder: Grenzüberschreitungen einer kritischen Wissenschaft, in: dies. (Hg.), race & sex. Eine Geschichte der Neuzeit, Berlin 2016, S. 13-24. Für Großbritannien vgl. etwa Paul Gilroy, ›There Ain’t no Black in the Union Jack‹. The Cultural Politics of Race and Nation, London 1987, der scharf die verbreitete Vorstellung kritisierte, dass race für die Entwicklung der britischen Gesellschaft wenig Bedeutung habe, und bemängelte, dass auch ein Teil der Linken auf diesem Auge blind sei.

25 Vgl. etwa Pooja Rangan/Rey Chow, Race, Racism, and Postcoloniality, in: Graham Hoggan (Hg.), The Oxford Handbook on Postcolonial Studies, Oxford 2013, S. 396-411; Nasar Meer, »Race« and »postcolonialism«: should one come before the other?, in: Ethnic and Racial Studies 41 (2018), S. 1163-1183.

26 Dazu jüngst José Itzigsohn/Karida L. Brown, The Sociology of W.E.B. Du Bois. Racialized Modernity and the Global Color Line, New York 2020.

27 Race und »Rasse«. Politische Bedeutungen und historische Kontexte. Ein Interview mit Jakob Tanner, in: Naika Foroutan u.a. (Hg.), Das Phantom »Rasse«. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus, Köln 2018, S. 35-44.

28 Zuletzt Christian Geulen, Rassismus ohne ›Rassen‹. Über eine Ideologie und ihren scheinbaren Grundbegriff, in: Geschichte der Gegenwart, 5.7.2020.

29 Eine gute Zusammenfassung des Ansatzes und seiner Anwendung für den deutschen Kontext findet sich bei Cengiz Barskanmaz, Critical Race Theory in Deutschland, in: Verfassungsblog, 24.7.2020. Grundlegend: Richard Delgado/Jean Stefancic, Critical Race Theory. An Introduction, New York 2001, 3. Aufl. 2017.

30 Zit. nach Barskanmaz, Critical Race Theory (Anm. 29).

32 Mohamed Wa Baile u.a. (Hg.), Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand, Bielefeld 2019.

33 Das Konzept erstmals formuliert hat Cedric Robinson, Black Marxism. The Making of a Black Radical Tradition, Chapel Hill 1983. Vgl. jetzt Destin Jenkins/Justin Leroy (Hg.), Histories of Racial Capitalism, New York 2021.

34 Hierzulande bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang etwa die Kritik des Soziologen Vivek Chibber (Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Berlin 2018), der der postkolonialen Theorie vorwirft, vom Kapitalismus besessen zu sein wie ein Exorzist von einem Dämon; sie wolle das Konzept loswerden, es aber nicht näher beleuchten, und bagatellisiere so die materielle Dimension (post)kolonialer Verhältnisse. Siehe zu diesem Aspekt auch den instruktiven Beitrag von Robert Heinze, Das Gespenst des Postkolonialismus, in: junge Welt, 21.8.2020.

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