Gegenbilder

Reflexionen zum (Selbst-)Zeugen in der aktuellen Migrationsgeschichte: Das Archivio Memorie Migranti

  1. Die italienischen Akteure oder der Wille zum Hören
  2. Die migrantischen Akteure oder der Wille zur Zeugenschaft
  3. Fazit

Anmerkungen

»Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?«, fragt sich der Schriftsteller, Fotograf und Regisseur Chris Marker (1921–2012) in seinem Filmessay »Sans Soleil« (1983). Damit weist er auf die Kluft zwischen Erfahrung und Erinnerung hin, die stets das Ergebnis reflexiver Prozesse ist. Er deutet des Weiteren einen Aspekt an, der für Historiker*innen von beträchtlicher Relevanz ist: den konstruktiven Charakter des Selbstzeugnisses. Nicht erst die historische Erzählung, sondern schon das Elementarteilchen der Geschichtsschreibung, das (Selbst-)Zeugnis, ist seit jeher das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Neu- bzw. Umschreibung. Denn auf der einen Seite unterliegen Zeugnisse selektiven Wahrnehmungs- und Gedächtnismechanismen,[1] auf der anderen ändern sie sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit neu eingetretenen Erfahrungen und kollektiven Anstößen.[2] Die negative Kehrseite dieser Verformbarkeit kommt bei der Manipulation und Instrumentalisierung von Zeugen durch Politik und Medien ans Licht, worüber Historiker*innen in den letzten Jahrzehnten intensiv reflektiert haben.[3] Jedes (Selbst-)Zeugnis muss daher als eine Momentaufnahme in einem Prozess der Erinnerungsverarbeitung angesehen und entsprechend kritisch im Kontext seiner Entstehung und späteren Rezeption analysiert werden. Ohne Zeugnisse damit dem Bereich des Fiktiven zuzuordnen, bezweckt diese kritische Auseinandersetzung, ihnen die Qualität der Reinheit, Ursprünglichkeit und Beständigkeit, der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Vergangenheit und der Individualität abzusprechen und sie in den Horizont sinnbildender Prozesse zurückzuführen.

Hier sollen diese Aspekte am Beispiel von Zeugnissen ausgelotet werden, die das 2012 gegründete Archivio Memorie Migranti (AMM) in Rom zum Thema Flucht und Migration gesammelt und mitproduziert hat.[4] Die im AMM gespeicherten (Selbst-)Zeugnisse von Geflüchteten und Migranten haben die Besonderheit, dass sie im Rahmen einer gemeinsamen Reflexion zusammen mit italienischen Akteuren entstanden sind, im Kontext von partizipativen Workshops und Seminaren, und insofern auf den kollektiven Charakter der Zeugenschaft verweisen. Im Laufe dieser Arbeit haben sowohl die begleitenden Italiener*innen als auch die Geflüchteten und Migranten einen Prozess der Bewusstwerdung sowie einen Gewinn an hermeneutischen Kompetenzen durchlaufen, die bei jeglichem Diskurs über die »Selbst«-Zeugnisse mitzudenken sind. Eine kritische Analyse der im AMM aufbewahrten Zeugnisse muss daher die Absichten, Interessen und epistemischen Hintergründe aller beteiligten Akteure berücksichtigen – sowohl der italienischen Initiatoren (1.) als auch der Migranten (2.).

Die Rekonstruktion dessen, wie diese Quellen entstanden sind, ist die Conditio sine qua non, um zu deuten und zu verstehen, was sie sagen. Und sie spornt dazu an, über die Rolle von Zeithistoriker*innen als kritische Koproduzenten von Quellen nachzudenken. Im Folgenden geht es um rezente Quellen von Flucht und Migration, die einerseits für künftige Geschichtsschreibung relevant sein können und andererseits komplexe Bezüge zu früheren Formen von Zeugenschaft aufweisen.

1. Die italienischen Akteure oder der Wille zum Hören

2012 gründete der Ethnohistoriker Alessandro Triulzi, der sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte von Subsahara-Afrika und der italienischen Kolonialgeschichte am Horn von Afrika beschäftigt, das Archivio Memorie Migranti. Sein reichhaltiger Fundus besteht aus Dokumentarfilmen, audiovisuellen und transkribierten Interviews in unterschiedlichen Sprachen, Fotografien, Karten sowie Essays zum Thema Flucht und Migration und ist über ein Internetportal zum Teil öffentlich zugänglich.[5] Dieser digitale Raum versteht sich als ein offenes Notizbuch und dient dazu, die Erinnerungen der »migranti« und die kritische Auseinandersetzung mit der Migrationspolitik aufzunehmen. Der Terminus »migranti« steht hier sowohl für das Attribut »wandernd« als auch für das Nomen »Migranten« und verdeutlicht damit erstens, dass sich nicht nur Menschen, sondern auch ihr Wissen und ihre Erinnerungen in Bewegung befinden, sowie zweitens, dass die Migrationserfahrungen von ihren Protagonisten selbst erzählt werden.[6] Dabei verfolgt das AMM ein ähnliches Ziel wie andere jüngst entstandene Portale zum Thema Flucht und Migration.[7] Es will die Polyphonie migrantischer Stimmen wiedergeben, um diese Selbstzeugnisse vor der möglichen Einverleibung in den Deutungshorizont »äußerer« Beobachter*innen zu schützen, die über Migrations- und Fluchtphänomene schreiben.

Das AMM verdankt seine Gründung einem spezifischen Entstehungskontext. Es geht auf den Dialog mit überwiegend aus den Regionen am Horn von Afrika und aus dem Sudan Geflüchteten zurück – ein Dialog, der zunächst in den besetzten Lagerhallen im römischen Viertel Tiburtina und später in den Räumlichkeiten der Sprachschule Asinitas in der Via Ostiense stattgefunden hat.[8] Hier boten Marco Carsetti, einer der Begründer der Schule, Alessandro Triulzi und weitere Mitarbeiter*innen Italienischunterricht an, in dessen Rahmen sie versuchten, die von den Schüler*innen vorgeschlagenen Spuren zu verfolgen. Im Unterricht wurde von Wörtern ausgegangen, die diese Menschen unerwartet und in gebrochener Sprache von sich gaben: Wörter ohne Syntax, Satzfragmente, unvollständige Gedanken, Zeichnungen, hinter denen sich ganze Gedankenketten und Diskurse verbargen. Diese rudimentären Äußerungen griffen die Lehrkräfte auf, um die Schüler*innen erzählen zu lassen.[9] Damit kamen sie einerseits dem starken Mitteilungsbedürfnis dieser Menschen nach und boten ihnen einen Kontext des Zuhörens und Teilens solcher Erlebnisse. Andererseits betrachteten es die ehrenamtlich tätigen Sprachlehrer*innen als Notwendigkeit, solche Erinnerungen als Teil des künftigen kulturellen Gedächtnisses Italiens und Europas festzuhalten.

Diese Bemühungen mündeten in ein Projekt, bei dem das Unterrichten der italienischen Sprache mit der partizipativen Forschung über die Migrationserfahrungen auf dem Weg nach Italien und ihre Fortsetzung in diesem Land miteinander verbunden werden sollten. Den Grundsatz dieses Vorhabens erklärt Triulzi wie folgt: »Die Tätigkeit des Bezeugens sollte von den Migranten selbst vorangebracht werden. Nur auf diese Weise würden sie die Chance haben, Stimme, Freiheit und Rederecht zurückzuerhalten […].«[10] Die »anderen« zur Sprache kommen zu lassen, damit nicht nur »wir« – wie es allzu oft im medialen, aber auch akademischen Diskurs der Fall ist – von den »anderen« erzählen,[11] bedeutet auf der pragmatischen Ebene der Quellenproduktion, den Selbstzeugnissen und -darstellungen den Vorrang zu geben. Dem Erzählen mit und durch Migranten wird ein Vorrecht gegenüber dem Berichten über sie eingeräumt.[12]

Dieser programmatische Ansatz fußt auf verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen. Zunächst bezieht sich Triulzi explizit auf den Soziologen Abdelmalek Sayad, der Ein- und Auswanderung als zwei untrennbare Seiten ein und desselben Phänomens betrachtet und dabei ein Gefühl des Fremdseins sowohl am Herkunfts- als auch am Ankunftsort herausgearbeitet hat: das Gefühl der »doppelten Abwesenheit«.[13] Der Wunsch, diesem Verlorenheitsgefühl am Ankunftsort abzuhelfen, war der erste Beweggrund des AMM dafür, den Dialog mit den Migranten aufzunehmen. Sodann speist sich sein Ansatz aus Argumenten der Subaltern Studies,[14] nach denen die gesellschaftlich und politisch ausgegrenzten Gruppen als Subjekte der Geschichte und Erzähler der eigenen Biographien begriffen werden müssen, um die Entstehung von multiperspektivischen Geschichten und Gegenerzählungen zu ermöglichen, ohne den Anspruch zu erheben, sie in einem einzigen, allgemeingültigen Narrativ miteinander zu verschmelzen. Schließlich fügt sich das Projekt AMM in Triulzis generelle wissenschaftliche Reflexionen über die (post)kolonialen Verflechtungen der italienischen Identität und Erinnerung mit den einstigen Kolonien Italiens am Horn von Afrika ein.[15] Als Ethnohistoriker plädiert er für die Überwindung der Dichotomie zwischen dem »Westen« und dem »Rest«, den Kolonisierenden und den Kolonisierten, dem hegemonialen Zentrum und der Peripherie, welche die Postcolonial Studies anfangs noch reproduzierten. Diese manichäische Darstellung hat – trotz der nachvollziehbaren Verurteilung jeglicher Form von kolonialer Herrschaft – zur Verzerrung des Geschichtsbildes über die koloniale Vergangenheit Italiens geführt. Denn die Wechselbeziehungen waren komplexer als von der klassischen Historiographie dargestellt. Sie bestanden nicht nur aus Widerstand oder Kollaboration, sondern auch aus Formen des Ausgleichs, der Schlichtung, des Austausches und der Verhandlung.[16] Die daraus resultierende Identität und die zugehörigen Erinnerungen seien daher hybrid und vielschichtig (gewesen), schreibt Triulzi. Die Auseinandersetzung mit der italienischen Kolonialgeschichte soll im gegenwärtigen Italien dazu beitragen, die wieder aufgetauchte normative Trennung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, Staatsbürgern und Untertanen sowie Einheimischen und Auswanderern als historisches Konstrukt zu enthüllen, um die Anerkennung einer kulturellen Hybridität und einer partiell geteilten Geschichte zu fördern, die im heutigen Migrationsland Italien Spuren hinterlassen hat. Migrierten Menschen die Möglichkeit zu geben, zu sprechen und Gehör zu finden, entspringt daher nicht so sehr dem Bedürfnis, Geschichte »von unten« zu erzählen, sondern vielmehr dem Wunsch, die erzählten Geschichten als wichtigen Bestandteil der Historie und des Gedächtnisses sowie der Gegenwart dieses Landes zu verstehen. Im Folgenden geht es daher nur in zweiter Linie um die Geschichte des Archivs AMM, zumal Triulzi darüber bereits zahlreiche Artikel veröffentlicht hat.[17] Vielmehr gilt es, die Produktionsmodi der migrantischen Erzählungen herauszuarbeiten und diese auf ihren Erkenntniswert für die Geschichtswissenschaft im weiteren sowie für die Flüchtlings- und Migrationsforschung im engeren Sinne zu prüfen.

2. Die migrantischen Akteure oder der Wille zur Zeugenschaft

Wechselt man die Perspektive und nimmt den Standpunkt der Zeugnis ablegenden Migranten ein, stellen sich zwei wesentliche Fragen: zum einen die Frage danach, weshalb und wann diese erzählen, oder auch, weshalb sie zum Erzählen ermutigt und wie sie dabei unterstützt werden; zum anderen die Frage, inwieweit die Migranten sich der eigenen Zeugenrolle bewusst sind und wie sich der Zweck ihres Bezeugens im Laufe der Zeit und aufgrund der medialen Möglichkeiten verändert hat. Diese Aspekte sollen im Folgenden anhand der migrantischen (Selbst-)Zeugnisse herausgearbeitet werden.

2.1. Schriftliche Erzählfragmente vor und während der Auswanderung. In den Zeugnissen der Migranten beginnt die Erzählung mitunter bereits vor oder während der Auswanderung. Es kommt vor, dass Menschen auf der Flucht Tagebuch über ihre Reise führen. Ein Beispiel dafür ist ein Notizbuch, das der Äthiopier Dagmawi Yimer (geb. 1977) mit einem Freund gemeinsam schrieb, mit dem er 2007 von Addis Abeba aus gen Europa aufbrach[18] – ein Notizbuch, in welches die beiden laut Yimer jeden Tag abwechselnd ein paar Zeilen zu den wichtigsten Ereignissen notierten, und zwar mit der Absicht, ihren Bericht den zurückgebliebenen Familienangehörigen und Freunden zukommen zu lassen. Dieses Notizbuch vertraute Yimer sodann einer Frau in Libyen an, damit es während der Überfahrt nicht verloren gehe, und bat sie darum, es ihm später nach Italien oder, im Falle seines Todes, an seine Familie in Addis Abeba zu schicken. Darum sind die ersten Aufzeichnungen an die Familienmitglieder, also »rückwärts« adressiert.

Ein weiterer Grund dafür, Reiseerlebnisse aufzuschreiben, liegt allgemein in dem Wunsch begründet, Freunden und Landsleuten, die die Heimat verlassen wollen, eine Art Vademecum mit auf den Weg zu geben: »Jeder Jugendliche, der sich auf diese Reise begibt, hat das Exemplar eines Briefes dabei, den einige junge Menschen, die vor den anderen in Italien angekommen sind, aus Kirkos [einem Viertel von Addis Abeba] verschickt haben und in welchem alle Informationen und nötigen Hinweise gegeben werden, um die Reise nach Italien zu machen. Auch wir hatten diesen Brief, aber leider hat er uns nicht besonders viel geholfen, weil die Dinge sich geändert haben, seit die ersten Jugendlichen von Kirkos nach Italien gereist waren.«[19] Ermahnungen, Warnungen vor Gefahren sowie Worte des Trostes, die Inhaftierte auf den Gefängnis- und Lagermauern Libyens an die späteren Insassen gerichtet haben, kommen fragmentarisch in Form von Gebrauchsanweisungen hinzu. Trotz mancher Versuche seitens der libyschen Gefängniswärter, das dort Geschriebene zu tilgen, bleiben diese Wände wie ein beschämendes Dokument der Gegenwart bestehen, das uns allerdings vorerst versperrt bleibt.

2.2. Desillusionierende Botschaften an diejenigen, die sich auf die Abreise vorbereiten. In der Sprachschule Asinitas stießen verschiedene Asylbewerber vom Horn von Afrika und aus dem Sudan auf Gehör. Neben den mündlichen Erzählungen, die im Kontext des Sprachunterrichts entstanden, begann die Koproduktion mündlicher und audiovisueller Zeugnisse, die Triulzi und weitere Mitarbeiter*innen gemeinsam mit Migranten realisierten. Infolge eines in mehreren Schritten durchlaufenen Prozesses der Erforschung und der Kritik an aktuellen Darstellungs- und Erzählformen von Flucht- und Migrationsphänomenen gab es eigene Versuche im Self-Storytelling. In Gesprächen, Erzählkreisen und vor allem in den Interviews, die der äthiopische Flüchtling Sintayehu Eshetu 2008 mit einigen Landsleuten in amharischer Sprache durchführte, entstanden die ersten (Selbst-)Zeugnisse, aus denen sich das Archiv speist.[20] Parallel dazu wurden in Kooperation mit dem Verein ZaLab, der sich mit der Produktion von Dokumentarfilmen und Participatory Videos[21] beschäftigt, die ersten audiovisuellen Zeugnisse realisiert. Die Wahl des Mediums Film zielte darauf ab, neben der Registrierung von Gestik und Mimik weitere verbale wie nonverbale Ausdrucksformen, also auch das Schweigen, festzuhalten und auf diese Weise den Teilnehmern, die sich in einer Fremdsprache nur sehr eingeschränkt zu äußern vermochten, ein für jeden geeignetes Kommunikationsmittel an die Hand zu geben, um Erlebnisse, Erwartungen, Wünsche und ihre Sicht auf die Welt verständlich zu machen.[22] Wie sich die Migranten mit der Kamera vertraut machten und wie sie lernten, sie zu handhaben, zeigt der Vorspann der ersten Gemeinschaftsarbeit »Il deserto e il mare« (»Die Wüste und das Meer«, 2007) der damaligen Asylbewerber Dagmawi Yimer, Sintayehu Eshetu, Solomon Moges, Mengistu Andechal und Adam Awad.[23] Am Ende dieser Sequenzen erscheint die Textzeile: »Das ist ihre Erzählung.« Es sind autobiographische Fragmente einiger Afrikaner, die vom Horn von Afrika und aus dem Sudan stammen, sowie anderer afrikanischer Flüchtlinge in Rom, Neapel und Caltanissetta. Sie schildern einen Alltag zwischen Bürokratie und Abwarten, bestimmt von bescheidener und harter Arbeit in einer zum Teil feindseligen Umgebung, eine Realität, die Italiener*innen kaum zu Gesicht bekommen haben dürften.

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Standbild aus »Il deserto e il mare«,
Regie: Mengistu Andechal, Adam Awad, Sintayehu Eshetu, Solomon Moges und Dagmawi Yimer, AMM 2007

Ähnlich wie Yimers Tagebuch sind diese audiovisuellen Dokumente ideell an all diejenigen gerichtet, die aus den afrikanischen Ländern auszuwandern beabsichtigen, um ihnen ungeschönt von den Lebensumständen der Migranten in Italien zu berichten. Damit – erzählt Yimer – habe die kleine Gruppe der Filmemacher nicht die Absicht verfolgt, jene abzuschrecken, die erwägen, sich auf die Flucht zu begeben, sondern sie auf das vorzubereiten, was sie zu erwarten hätten:[24] besetzte baufällige Wohnhäuser, jahrelange Asylverfahren, die nicht immer in eine Aufenthaltserlaubnis bzw. ein Bleiberecht münden, keine staatlichen Zuschüsse oder Gratis-Tickets für den öffentlichen Verkehr, keine Wohnung, Arbeitslosigkeit, Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Rassismus.[25] Ein »girare, girare« (»Herumlaufen«) im Kreis, auf das Bleiberecht oder auf Arbeit hoffend, innerhalb einer Falle namens Italien, das als Gefängnis oder sogar als noch schlimmer wahrgenommen wird,[26] ohne die Möglichkeit – aufgrund der Dublin-Verordnung von 2003 – in andere europäische Länder weiterzuziehen und dort nach Arbeit zu suchen oder aber in das Heimatland zurückkehren zu können, wo die Familie wiederum oft auf die wirtschaftliche Unterstützung des Geflüchteten angewiesen ist: »Wenn du einmal weggegangen bist [...], kannst du nicht mit leeren Händen zurückkehren, sonst ist es noch schlimmer.«[27] Mit diesen Worten schließt ein Äthiopier seinen Bericht über den Selbstmord eines Mitbürgers, dessen Schicksal stellvertretend für viele andere steht. Dieser habe vier oder fünf Jahre zuvor Äthiopien verlassen und eine mehr als zwei Jahre lange Flucht über den Sudan, Libyen und das Mittelmeer hinter sich. Anschließend sei er etwa zwei Jahre in Italien geblieben, bevor er illegal in Schweden eingereist sei. Hier seien ihm die Fingerabdrücke abgenommen worden, durch die er als Asylant aus Italien identifiziert und nach Rom zurückgeschickt worden sei, wo er nur eins getan habe, nämlich »girare, girare«, bevor er nach Mailand weitergezogen sei, dort auch nichts gefunden und sich am Ende umgebracht habe. Den Mehrwert dieses audiovisuellen Dokuments macht möglicherweise jenes schlichte, sich wiederholende Verb »girare, girare« aus, das einer der Äthiopier, der sich gerade in Amharisch mit Landsleuten unterhält, auf Italienisch ausspricht, eine Art Terminus technicus, der sich unter Flüchtlingen und Migranten in der fremden und dennoch geteilten Sprache etabliert hat, um genau jenen existenziellen Zustand in diesem Land zu bezeichnen.

Noch mehr Termini technici finden sich in einem weiteren kurzen Dokumentarfilm, »L’attesa« (»Das Warten«, 2012), den der somalische Journalist und Flüchtling Zakaria Mohamed Ali gedreht hat. In den Gesprächen zwischen jungen Somaliern, die auf Arbeit warten, fallen immer wieder Bruchstücke der italienischen Sprache wie »auguri« (»Glückwünsche«), »bravo«, »corso« (hier in Bezug auf einen Geschichtskurs), »oddio mio« (»oh mein Gott«) und »va via« (»geh weg«). Es handelt sich um einen semantischen Fundus, der sowohl auf die italienische koloniale Vergangenheit als auch auf kristallisierte Erfahrungen in Italien verweist. Er liefert aussagekräftiges Belegmaterial für die Geschichte eines (schwierigen) Eingliederungsprozesses.

2.3. Die Zeugenpflicht gegenüber den Untergegangenen. Das Bedürfnis, Zeugnis für die Zurückgebliebenen und die Menschen abzulegen, die immer noch in den libyschen Gefängnissen festgehalten werden oder weiterhin unterwegs sind, bestimmt auch den Dokumentarfilm »Come un uomo sulla terra« (»Wie ein Mann auf der Erde«), den Yimer zusammen mit den italienischen Filmmachern Andrea Segre und Riccardo Biadene 2008 gedreht hat. »Als ich nach Italien kam« – erklärt Yimer in dem Film –, »dachte ich, dass ich all das vergessen hätte, aber dann haben wir zusammen verstanden, dass man erzählen muss.« Yimer, der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Sprachschule Asinitas als Sprachmittler tätig war, übernimmt in dem Film eine Doppelrolle: die des Regisseurs und die des Vermittlers zwischen den Zuschauern und den sieben weiteren Protagonisten – allesamt junge Menschen aus seinem Viertel, Kirkos, die etwa ein Jahr nach ihm in Rom ankamen. Daniel, Dawit, Tsegay, Sintayehu, Hailu, Tullu und Fuad erzählen Yimer in amharischer Sprache in der vertrauten Küche der Schule von ihren grauenvollen Erlebnissen auf der Reise von der Hauptstadt Äthiopiens bis Lampedusa, durch die Sahara und über das Mittelmeer. Sie sprechen über ihre Zwangsaufenthalte in den menschenunwürdigen Gefängnissen Libyens, vor allem über das Gefangenenlager in Kufrah, nahe der sudanesischen Grenze, und die erlittene Gewalt. Sie zeichnen mit dem Finger die befahrenen Routen auf einer Weltkarte nach, denn Bilder von diesen Orten und diesen Erlebnissen existieren lediglich in ihren Köpfen.

Standbild aus »Come un uomo sulla terra«, Regie: Andrea Segre, Dagmawi Yimer und Riccardo Biadene, ZaLab-Asinitas 2008
Standbild aus »Come un uomo sulla terra«,
Regie: Andrea Segre, Dagmawi Yimer und Riccardo Biadene, ZaLab-Asinitas 2008

Ihre Schilderungen gemahnen an das Bild vom Katz-und-Maus-Spiel, bei dem einige so viel Pech haben, dass sie mehrmals von der libyschen Polizei festgenommen und von Bengasi oder Tripolis (in einem Fall bis zu sieben Mal) in unter anderem von Italien finanzierten Containern ins Gefängnislager nach Kufrah zurückgeführt werden. Hier hätten die libyschen Polizisten sie für 30 Dinare an die dallala[28] verkauft, und sie seien als illegale Einwanderer gegen Bezahlung in überfüllten LKW oder Pick-ups erneut in Richtung Bengasi oder Tripolis transportiert worden. Die Gespräche zwischen Yimer und den jungen Äthiopier*innen sowie die Interviews von Eshetu und Triulzi mit weiteren Flüchtlingen komplettieren das Bild vom Menschenhandel mit zusätzlichen Details. Dabei tauchen immer wieder genderspezifische Aspekte auf. Einerseits machen die interviewten Frauen deutlich, welchen geschlechtsspezifischen Gefahren – etwa der Vergewaltigung und der Zwangsprostitution – sie ausgesetzt gewesen seien, andererseits zeigen ihre langen Schweigepausen und durch Tränen unterbrochenen Erzählungen im Vergleich zu den männlichen Geflüchteten eine ausgeprägtere Emotionalität.

Des Weiteren liegt der Mehrwert der (Selbst-)Zeugnisse in dem neuen Fragenhorizont, den sie erschließen. Die Begegnung zwischen Äthiopiern, Eritreern, Sudanesen und Libyern ist nicht nur von sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschieden gekennzeichnet. Die koloniale Vergangenheit sowie die jeweiligen nationalen Befreiungsnarrative, in welche die libyschen Aufseher hineingeboren worden sind, spielen ebenfalls eine Rolle dabei, auf wen sie ihren Hass richten: Äthiopier, aber vor allem Eritreer, die Arabisch sprechen, werden als »Enkelkinder« der verräterischen Askari beschimpft, und werden zu ausgewählten Opfern grundloser Gewalt und Demütigungen.[29] Für Yimer stellt sich die Frage, warum etwa die positive Erinnerung an Äthiopien als Symbol des afrikanischen Widerstands gegen die Kolonialmächte heute keine Rolle mehr spielt. Vor etwa 50 Jahren seien viele Anführer der Unabhängigkeitskämpfe – auch der libyschen – nach Äthiopien gereist, um hier Rat zu suchen. »Aber nun« – schließt Yimer aus den aktuellen Berichten – »hat diese Vergangenheit keine Bedeutung mehr, und so kann ein Äthiopier in Libyen auch gefoltert werden.«[30] Die Italiener*innen wiederum werden dazu ermahnt, sich an ihre koloniale Vergangenheit zu erinnern und die daraus resultierende Verantwortung Italiens wahrzunehmen, indem Yimer zu Beginn des Dokumentarfilms konstatiert, dass sich ja bereits seine Großeltern und diejenigen der heutigen italienischen Bürger*innen kennengelernt hätten, wozu er historische Aufnahmen vom italienischen Krieg in Äthiopien zeigt.[31]

Die Gründe, weshalb sie ihr Land verließen, erwähnen die jungen Äthiopier ebenfalls: die Korruption und Ungerechtigkeit der repressiven Regierung von Meles Zenawi (1955–2012), der 2005 nach seiner Wiederwahl als Premierminister mit Gewalt gegen Oppositionelle vorging, sowie ethnische und politische Verfolgung. Aber für all das, was sie erlitten haben, machen die Protagonisten nicht allein die Regierung Äthiopiens verantwortlich, sondern auch die dallala, also die Schlepper, sowie den Menschenhandel in den Transitländern in Richtung Europa, die Korruption und die brutalen Foltermethoden der libyschen Polizei. Zugleich stellen sie die damalige italienische Regierung Berlusconis (2001–2005) an den Pranger, die mit dem Diktator Muammar al-Gaddafi ein Abkommen geschlossen hatte, um Abschiebungen nach Libyen möglich zu machen und Flüchtlingslager in diesem Land zu finanzieren. Ferner kritisieren sie die europäische Agentur Frontex dafür, die Gefängnisse Libyens besucht, aber nicht auf die dort festgestellten menschenunwürdigen Zustände reagiert zu haben. Insbesondere die Anschuldigungen gegen Europa, die in den ersten Gesprächen mit den neu Angekommenen keine Erwähnung finden, machen deutlich, dass der Dialog mit den Akteuren von AMM eine beträchtliche Rolle dabei spielt, die Erzählungen im Hinblick auf die komplexen und zahlreichen Verantwortlichkeiten, die hinter dem Leid der Flüchtlinge stecken, zuzuspitzen und insofern kritisch zu schärfen. Darüber zu sprechen, vor allem über das, was sie in Libyen erlitten haben, erklären die Migranten zur moralischen Pflicht, »um zu versuchen, diejenigen zu retten, die jene Gewalttätigkeiten und jene Diskriminierungen gerade eben noch erleiden«.[32]

Die zum Ausdruck gebrachte Pflicht des Bezeugens sowie die Erzählungen der Geflüchteten evozieren – zumindest bei italienischen Zuschauer*innen – das Zeugnis par excellence, und zwar jenes von Primo Levi. »Es gefällt mir, davon zu erzählen, was in Libyen passiert ist«, sagt Yimer in einer Szene. »Weißt du, warum es mir gefällt? Jetzt, da ich unbesorgt hier in Italien bin, sehe ich das Gesicht derer, die mir zuhören, so ... [der Erzähler reißt die Augen auf und öffnet den Mund, um den Ausdruck seiner Zuhörer nachzuahmen; Anm. der Verf.], weil das eine Sache ist, die du dir nicht vorstellen kannst; und die Dinge, die du ihnen erzählst, scheinen nicht wahr zu sein. Sie erwarten so etwas nicht.« Yimers Selbstdarstellung als sorgloser, in Sicherheit gebrachter Erzähler, der in Rom, auf einem Sofa sitzend, auf die überstandene Reise durch die Sahara und über das Mittelmeer zurückschaut und dem kaum geglaubt wird, ruft uns die Worte des Auschwitz-Überlebenden und Schriftstellers Primo Levi in Erinnerung. Dieser hatte in mehreren Interviews davon berichtet, wie er im KZ von dem Albtraum verfolgt worden war, wieder zurückzukehren, vom Erlebten zu erzählen und kein Gehör zu finden: Mit »febbre di raccontare« (»Erzählfieber«) sei er aus Monowitz heimgekehrt und habe daraufhin seine Mitmenschen immer wieder genötigt, seiner Erzählung zuzuhören.[33]

Nachdem Yimer selbst 2009 Primo Levis »Se questo è un uomo« und »I sommersi e i salvati« auf Anregung eines Zuschauers gelesen hat,[34] erlangt die von ihm empfundene Verpflichtung, bezeugen zu müssen, eine neue Qualität und führt ihn mehr oder weniger bewusst zu einer tiefgründigeren Thematisierung der »sommersi« (»Untergegangenen«) und der »zona grigia« (»Grauzone«). Die Lesung, die Yimer an der University of California in San Diego 2015 hält, lässt deutliche Einflüsse von Levis Buch erkennen. Ab diesem Moment ist es sein Status als »Überlebender«, der Yimer verpflichtet, von den »Untergegangenen« zu berichten. Schließlich habe er die Tatsache, dass er das europäische Ufer lebend erreicht habe, lediglich dem Zufall und keineswegs besonderen Fähigkeiten zu verdanken.[35] Ähnliche Worte klingen in dem offenen Brief an, den der Eritreer Zerit auf der Gedenkfeier für das Bootsunglück vor Lampedusa am 3. Oktober 2013, bei dem sein Bruder zusammen mit fast 390 Menschen ertrank, vorlas: »Nennt uns nicht migrantische Opfer, wir sind nur Überlebende. Ich bin am Leben, weil mein Bruder gestorben ist.«[36] Diese Worte gemahnen erneut an jene von Primo Levi. Die Frage danach, welche Menschen das KZ überlebt hätten und dank welcher Umstände, verfolgte Levi: Nicht die Ehrlichsten hätten überlebt. Die im KZ Ermordeten, die Erinnerungs- und Namenlosen, seien jene Zeugen, die von ihrer Erfahrung weder berichten noch diese in Worte übersetzen können. Die »anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse«[37] habe keine Geschichten – denn es gebe »nur einen einzigen, breiten Weg des Verderbens«, und keiner von ihnen sei zurückgekehrt, um das zu erzählen.[38] Und dennoch versuchen sowohl Levi als auch Yimer, Zerit und die anderen, Bruchstücke von Geschichten derjenigen, die die Rückkehr oder die Überfahrt nicht geschafft haben, durch die Erzählung zu retten. So berichtet Yimer in seiner Lesung von einem Jungen aus dem Stadtviertel Piazza in Addis Abeba, Jimmy, der 2008 während der Überfahrt starb,[39] und von Selam (wörtlich: Friede) oder Tesfaye (wörtlich: Meine Hoffnung), die am 3. Oktober 2013 vor der Küste Lampedusas umgekommen seien. Sämtliche Namen der Ertrunkenen hatte Yimer bereits in seinem filmischen Mahnmal »ASMAT – Nomi per tutte le vittime in mare« (»Namen für alle im Meer ertrunkenen Opfer«, 2014) ein Jahr zuvor aufgezählt. Hier verwandelt sich der beobachtende Blick des afrikanischen Geflüchteten in ein j’accuse, das nicht nur an die afrikanischen Regierenden, sondern auch an die Europäer gerichtet ist: Die Flüchtlinge seien nach Europa gekommen, um die Zivilisation auf die Probe zu stellen, auf die die europäischen Regierenden so stolz seien.

Der Vergleich mit den KZ-Überlebenden ist nicht gerechtfertigt, wenn man an die Dimension und die Art der Menschenvernichtung im Nationalsozialismus denkt. Dennoch können Analogien hergestellt werden – die grundlose Gewalt, die Ablehnungen an den Grenzen, die menschenunwürdigen Zwangstransporte in die Gefangenenlager bis zur Reduzierung des menschlichen Wesens auf ein bloßes Objekt.[40] Ein für die Pflicht des Bezeugens relevanter Unterschied bestehe darin, so Yimer, dass die Tragödie der Flüchtlinge bisher nicht zu Ende sei.[41] Zeugnis abzulegen habe sich daher noch lange nicht erübrigt.

Darüber hinaus findet man Spuren einer Rezeption Levis in Yimers Thematisierung jener Grauzone der Kollaborateure, die sich dem Schema einer klaren »Freund-Feind-Einteilung«[42] entziehen, weil sie unter Zwang handeln mussten. Es wäre für Levi darum ein unbesonnener Akt, über solche Menschenschicksale ein Urteil zu fällen: »Es muß uns klar sein, daß die Hauptschuld das System, die eigentliche Struktur des totalitären Staates trifft; die Mitschuld der einzelnen oder kleinen Kollaborateure [...] ist immer schwer zu bewerten.«[43] Und so schreibt Yimer über jene Vermittler, die Flüchtlinge »anwerben«, um sie wiederum den Schleppern gegen Geld zu übergeben: »The cruelty of the situation creates other monsters along the chain of command: most of the lower rank intermediaries are usually ›failed‹ immigrants who ran out of money, were cheated or were robbed along the way. They recycle themselves in the system and become merciless predators because they know the psychology of the traveler, know how to exploit the newcomers.«[44] Das gilt zum Beispiel für die Vermittler aus Addis Abeba in Bengasi: Jimmy aus dem Viertel Piazza, Tamrat aus Megenagna, Ermias aus Kirkos, oder aber Mesfin, der Vermittler der Äthiopier in Khartum, der die Reise äthiopischer Flüchtlinge bis zur libyschen Grenze in Bussen mit Klimaanlage organisiert.[45] Yimers Auseinandersetzung mit Levi bringt einen zusätzlichen Aspekt der Zeugenschaft zum Vorschein, nämlich die wachsende Bewusstwerdung der eigenen Rolle aufgrund von Einflüssen, Lektüren und Reflexionen, die das (Selbst-)Zeugnis letztlich zu einem kollektiven Produkt machen.

Standbild aus »Il deserto e il mare«, Regie: Mengistu Andechal, Adam Awad, Sintayehu Eshetu, Solomon Moges und Dagmawi Yimer, AMM 2007
Standbild aus »Il deserto e il mare«,
Regie: Mengistu Andechal, Adam Awad, Sintayehu Eshetu, Solomon Moges und Dagmawi Yimer, AMM 2007

2.4. Rollenwechsel: Die Migranten als Beobachter und das gespiegelte Land. Wenn die Migranten die Kamera in die Hand nehmen, werfen sie unvermeidlich einen selektiven, beurteilenden Blick auf die Gegenwart und das Land, in dem sie jetzt leben. Sie wählen das Sujet aus und beziehen Position durch die Bestimmung des Bildausschnitts, die Montage, den gesprochenen Text. Einigen Teilnehmern der partizipativen Projekte zum Self-Storytelling, die als Asylbewerber über Lampedusa nach Italien kamen, scheint es ein wichtiges Anliegen zu sein, zu der Pelagischen Insel im Mittelmeer zurückzukehren und das für sie bedeutsamste, dennoch unbekannt gebliebene Stück Land noch einmal zu Gesicht zu bekommen. In seinem Dokumentarfilm »To whom it may concern« (2013) erzählt Zakaria Mohamed Ali, wie er am 13. August 2008 an der Mole strandete und sogleich von der Polizei mit einem Bus in das Centro di Identificazione e di Espulsione (CIE, Identifizierungs- und Abschiebehaftzentrum) abgeführt wurde. Mit zeitlichem Abstand erneut auf Lampedusa, begibt er sich auf die Suche nach einer doppelten Erinnerung: einerseits auf die Suche nach der Flucht Richtung Italien und der Überfahrt zusammen mit anderen »compagni di viaggio« (»Reisegefährten«), deren Namen er notiert und sorgfältig aufbewahrt hat; andererseits auf die Suche nach den Erinnerungsstücken eines somalischen Bekannten, Osman, der bei der Ankunft im CIE die Fotografien seiner Trauung und seiner Kinder abgeben musste. Mohamed Ali fragt im CIE vergeblich danach. Dies sei für ihn, erzählt er, die schlimmste Form der Gewaltausübung: den Menschen ihr Gedächtnis, ihre Vergangenheit wegzunehmen. Im Identifizierungszentrum werden die Asylbewerber ihrer Identität beraubt, die ihnen Zukunft und Anerkennung ermöglichen könnte. Obwohl beide Wörter, »identificazione« und »identità«, aus der gleichen lateinischen Wurzel idem (»derselbe«) stammen, klafft ihr jeweiliges Verständnis dessen, was das Selbst ausmacht, unüberbrückbar auseinander: In dem einen Terminus besteht das Individuum aus seinen Fingerabdrücken, in dem anderen aus seiner Biographie und seinen Erinnerungen.

Auch der Eritreer Mahamed Aman wollte nach Lampedusa zurückkehren, um mit der Würde eines freien Menschen die Insel und ihre Einwohner kennenzulernen.[46] Ein ähnliches Bedürfnis verspürte Yimer, der 2010/11 zusammen mit Fabrizio Barraco und Giulio Cederna dort »Soltanto il mare« (»Nur das Meer«) drehte. Durch die Kamera sah er zum ersten Mal die Insel, von der die über das Meer als Flüchtlinge Ankommenden abgeschottet wurden: die Insel der »Lampedusani« und der Touristen. Die Kluft zwischen ihnen und den Flüchtlingen auf dem Meer wird am deutlichsten in der Beschreibung der Überfahrt und der Ankunft, die Yimer im Dokumentarfilm einem Fischer anvertraut: »Am Vormittag, als ich hier angekommen bin, habe ich entspannte Touristen gesehen, und ich habe daran gedacht, was wenige Meilen von Lampedusa entfernt passiert war ... hier ein Vergnügen ... und nur wenige Meilen entfernt, auf dem Meer, waren wir zwischen dem Leben und dem Tod.« Nun, von der Inselküste aus, kann Yimer wie der Zuschauer eines imaginierten Schiffbruchs das Meer wie ein Tourist anschauen.

Standbild aus »Soltanto il mare«, Regie: Fabrizio Barraco, Giulio Cederna und Dagmawi Yimer, AMM 2011
Standbild aus »Soltanto il mare«,
Regie: Fabrizio Barraco, Giulio Cederna und Dagmawi Yimer, AMM 2011

Die Perspektive wird erneut umgedreht, und Yimer erzeugt ein regelrecht ethnographisches Dokument der Insel: Durch seine Augen sehen wir Alltagsszenen, Rituale und Sitten der Lampedusani – eine Hochzeit, eine Prozession, das Tanzfest auf dem Hauptplatz, aber auch Selbstzeugnisse der Inselbewohner, die von diesem Grenzort zwischen Afrika und Europa erzählen und über das dortige Leben mit all seinen Schwierigkeiten berichten. Ursache dafür seien nicht die Flüchtlinge, sondern der italienische Staat, der sie vergessen habe. Obschon dieses Fleckchen Erde auf dem Papier zu Italien gehöre, fühlten sich die Inselbewohner*innen ebensowenig als Italiener*innen wie die Asylbewerber. Der Unterschied zwischen Lampedusani und Flüchtlingen aus Afrika verwischt sich graduell in den wütenden Worten eines Einwohners: »Auf dem Papier erweisen wir uns als Italiener, aber wir sind keine Italiener, wir sind Lampedusani, besser noch, Nordafrikaner« – und auch ihnen gegenüber würden sich die (Nord-)Italiener rassistisch verhalten.

Standbild aus »Friziorat«, Regie: Dagmawi Yimer, AMM 2012. Im Bild ist der Friseur Mirko zu sehen, der seinen Beruf in Rom auf der Straße ausübt.
Standbild aus »Friziorat«,
Regie: Dagmawi Yimer, AMM 2012.
Im Bild ist der Friseur Mirko zu sehen,
der seinen Beruf in Rom auf der Straße ausübt.

In diesem wie in den weiteren von AMM produzierten Dokumentarfilmen, etwa »C.A.R.A. Italia« (2010), »Benvenuti in Italia« (»Willkommen in Italien«, 2012), »Friziorat« (2012), »Va’ Pensiero, storie ambulanti« (»Flieg Gedanke, Straßengeschichten«, 2013), gerät zunehmend ein Heer von Mittellosen, Randgruppen, kreativen Unternehmergeistern ins Blickfeld. Der Migrant mit der Kamera liefert somit ein zeitgenössisches Dokument über die gespaltene, komplexe italienische Gesellschaft. Die Perspektive ist nun umgedreht, und das Objektiv fokussiert mitsamt einzelnen Migrationsgeschichten ein unbekanntes Stück Land. Die Paradoxie dieses Perspektivwechsels taucht am deutlichsten in »Soltanto il mare« auf, in einer Szene mit ausländischen Touristen in Rom, die beim Fotografieren der Sehenswürdigkeiten (in diesem Fall das Kolosseum) gezeigt werden und dabei nur die »Grande Bellezza« Italiens betrachten. Der Flüchtling mit der Kamera setzt die Italiener, die Europäer und die Touristen vor den Spiegel einer facettenreichen Wirklichkeit, die nicht nur glänzend ist. Italien ist nolens volens schon lange, zumindest seit den 1970er-Jahren, ein Einwanderungsland.[47] Wie ein neuer Herodot, dessen Forschungen im Innersten mit der Erfahrung des Exils verknüpft waren, wird damit der Migrant zum histor,[48] zum indirekten Zeugen der zukünftigen Vergangenheit Italiens.

Standbild aus »Il deserto e il mare«, Regie: Mengistu Andechal, Adam Awad, Sintayehu Eshetu, Solomon Moges und Dagmawi Yimer, AMM 2007
Standbild aus »Il deserto e il mare«,
Regie: Mengistu Andechal, Adam Awad, Sintayehu Eshetu, Solomon Moges und Dagmawi Yimer, AMM 2007

3. Fazit

Ob die besprochenen, durch die Umkehrung der Perspektive hervorgebrachten Zeugnisse noch im Horizont der Flucht- und Migrationsforschung liegen oder ob diese Dokumente als Quellen für eine künftige (Re-)Konstruktion der italienischen und europäischen Geschichte Verwendung finden werden, ist offen. Fest steht aber, dass diese Selbstdarstellungen und Ego-Dokumente für die zeithistorische Flüchtlings- und Migrationsforschung einen zweifachen epistemischen Mehrwert besitzen. Zum einen liefern sie unverzichtbare Informationen über sonst unsichtbar bleibende Erlebnisse und Aspekte bis hin zu kritischen Gegenerzählungen. Damit entziehen sie sich der Gefahr, die Geflüchteten zu passiven Objekten einer Staats- oder Wirkungsgeschichte der Migration im Ankunftsland zu reduzieren und das Phänomen lediglich auf der Grundlage von Statistiken, polizeilichen Akten, Gerichtsprotokollen, Arbeitsverträgen, transnationalen Anwerbeabkommen und Gesetzen zu untersuchen.

Ferner tragen die Dokumente zur Beantwortung jener Fragen bei, die Jochen Oltmer jüngst für die historische Migrationsforschung aufgeworfen hat. Sie liefern gleichermaßen Indizien für Hintergründe und Bedingungen der Migration, für vielgestaltige Verläufe räumlicher Bewegung und migrantische Netzwerke, für Erlebnisse am Ankunftsort, Lebensläufe und -entwürfe, für Bemühungen um Einflussnahme auf Migration durch (nicht)staatliche Organisationen, für die Produktion von Wissen über Migration sowie für Rückwirkungen auf Zurückgebliebene.[49] Indem die Migranten frei darüber entscheiden, was sie festhalten und wovon sie erzählen wollen, setzen die (Selbst-)Zeugnisse zudem neue Schwerpunkte. Denn während die Migranten in den ersten Interviews stärker bei der Beschreibung ihres Lebens vor der Auswanderung oder der Flucht verweilen, ändert sich ihr Erzählstoff angesichts des vorgefundenen Umfelds und des Bedürfnisses, sich in dem Ankunftsort zurechtzufinden, relativ rasch. Diesem Ort gilt zunehmend ihr Augenmerk, sodass ihre Zeugnisse den Schwerpunkt von der (Aus-)Wanderung und der Flucht auf die Zustände im gegenwärtigen Italien verlegen.

Kein Zweifel besteht ebenfalls an dem wegweisenden Charakter, den die Arbeit des AMM für die Geschichtswissenschaft insgesamt besitzt. Dass Zeithistoriker*innen aktiv an der Produktion von Quellen für künftige Geschichtsforschung mitwirken, fordert dazu auf, das Spektrum der Geschichtswissenschaft zu erweitern: Über ihr traditionelles Selbstverständnis hinaus, das ihre wesentliche Aufgabe in der kritischen Beschäftigung mit dem überlieferten, vorgefundenen »historischen Material« sieht, ist ein stärkeres Engagement für die Quellenproduktion oder zumindest für die Vermittlung der methodischen Standards fachlich betriebener Geschichtsforschung zu wünschen. Statt die Unangemessenheit und Unzulänglichkeit der Quellen hinsichtlich aktueller historischer Fragen zu tadeln, und anstelle der resignierten Feststellung, dass seit Jahrzehnten »Zeitzeugen« für Fernsehkonsumenten medial aufbereitet und inszeniert würden, können Zeithistoriker*innen andere Modi quellenkritischer Praxis ausüben, indem sie gegenüber den neu entstehenden (Selbst-)Zeugnis-Beständen Position beziehen, sie kritisch befragen, ihre Entstehungsbedingungen transparent machen, die Quellenproduktion nach wissenschaftlichen postkolonialen Ansprüchen aktiv mitgestalten sowie ihre langfristige Archivierung sichern. Außerdem sollten die geschichtswissenschaftlichen Kriterien der Quellenproduktion in den Hochschulen mehr als bisher vermittelt werden.[50] Indem die Geschichtswissenschaft mitbestimmt, wie man Menschen und ihren Erfahrungen durch das (Selbst-)Zeugnis gerecht wird und sie als aktive Subjekte der Geschichte wahrnimmt, könnte sie zugleich dem befürchteten Verlust ihrer Orientierungsfunktion in der Gesellschaft entgegenwirken.

Anmerkungen:

[1] Vor allem der Mediävist Johannes Fried hat sich mit der Frage der Gedächtnis(ver)formung systematisch auseinandergesetzt und hat versucht, die historische Kritik auf einer Gedächtniskritik zu gründen. Siehe insbesondere ders., Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik, Mainz 2003; ders., Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004.

[2] Siehe dazu – in Bezug auf Zeugenaussagen von Überlebenden der Shoah – Ulrike Jureit, Authentische und konstruierte Erinnerung – Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen, in: WerkstattGeschichte 18 (1997), S. 91-101.

[3] Siehe insbesondere Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012.

[4] Die Autorin dankt Susanna Guerini, Alessandro Triulzi und Dagmawi Yimer für all die offenen Gespräche, die zahlreichen Hinweise sowie das sensible und zum Teil unveröffentlichte Material, das sie zur Verfügung gestellt haben.

[5] <http://www.archiviomemoriemigranti.net>. Zu der Entstehung und den Zielen von AMM hat Triulzi zahlreiche Beiträge verfasst; hier nur die neuesten: Alessandro Triulzi, Voci del post-impero: percorsi altri delle memorie migranti in Italia, in: Paolo Bertella Farnetti/Adolfo Mignemi/Alessandro Triulzi (Hg.), L’impero nel cassetto, Sesto San Giovanni 2013, S. 191-201; ders., Voci, racconti e testimonianze dall’Italia delle migrazioni. L’Archivio delle memorie migranti (AMM), in: Storia e Futuro. Rivista di storia e storiografia online 34 (2014); ders., Archivieren der Gegenwart. Die Selbsterzählungen von Migranten als Quelle der Geschichtsschreibung, in: Lisa Regazzoni (Hg.), Schriftlose Vergangenheiten. Geschichtsschreibung an ihrer Grenze – von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Berlin 2019, S. 307-325.

[6] Der Begriff »Migranten« wird vor dem Kollektivnomen »Flüchtlinge« oder »Geflüchtete« aus zwei Gründen bevorzugt: Erstens erlaubt der Begriff »Migranten« eine größere Unbestimmtheit, was die Gründe der Aus-, Ein- und Zuwanderung anbelangt, die nicht exklusiv durch Flucht aus lebensbedrohlichen Umständen erfolgt; zweitens betont der Begriff den Zustand des Dauerwanderns zwischen den Staaten und den unterschiedlichen (Zwischen-)Stationen, auch wenn die Flucht schon länger zurückliegt.

[7] Unter diesen Projekten sei das erste italienische Online-Archiv zu den »Storie migranti« erwähnt, das die Philosophin und Migrationsforscherin Federica Sossi ins Leben gerufen hat und das seit 2008 im Internet zugänglich ist: <http://www.storiemigranti.org>. Siehe zum Ansatz: Federica Sossi, Storie migranti. Viaggio tra i nuovi confini, Roma 2005. Auch das Archivio Diaristico nazionale von Pieve Santo Stefano sammelt seit einigen Jahren »diari migranti«, die in unterschiedlichen multimedialen Formen abgegeben werden können. Um die Breite der Initiativen zur Archivierung und Online-Präsentation sowie die Mannigfaltigkeit der Selbstzeugnisse zu veranschaulichen, sei hier auch das Archiv der afrikanischen Comics von Sasso Marconi (Bologna) genannt. Obschon die Migration nicht explizit im Vordergrund steht und sie nur einen Aspekt des Erfahrungshorizonts und der Imagination afrikanischer Menschen darstellt, lassen sich unter dem Suchbegriff »migration« immerhin 112 Ergebnisse finden (Stand: September 2018), die auf zahlreiche von Afrikanern gezeichnete Migrationsgeschichten verweisen: <http://www.africacomics.net>. Nicht zuletzt sei der Ausstellungsraum Porto M in Lampedusa genannt, in dem das Kollektiv Askavusa Objekte von Migranten gesammelt und diese zum Ausgangspunkt einer kritischen politischen Diskussion gemacht hat. Siehe dazu das Interview der Verfasserin mit Giacomo Sferlazzo, in: Regazzoni, Schriftlose Vergangenheiten (Anm. 5), S. 327-339.

[8] Über den Beginn und die erste Phase des Archivs siehe Triulzi, Voci (Anm. 5).

[9] Marco Carsetti in: Alessandro Triulzi/Marco Carsetti, Ascoltare voci migranti: riflessione intorno alle memorie di rifugiati dal Corno d’Africa, in: afriche e orienti 9 (2007) H. 1, S. 96-115, hier S. 108. Ausführlich zur Geschichte des Projekts: Marco Carsetti/Alessandro Triulzi (Hg.), Come un uomo sulla terra, Roma 2009.

[10] Zitat: Alessandro Triulzi, Per un archivio delle memorie migranti, in: Carsetti/Triulzi, Come un uomo (Anm. 9), S. 18 (meine Übersetzung; auch bei allen weiteren Zitaten).

[11] Für einen guten Überblick zur medialen Darstellung der Zuwanderung nach Italien siehe Emma Bond/Guido Bonsaver/Federico Faloppa (Hg.), Destination Italy. Representing Migration in Contemporary Media and Narrative, Oxford 2015.

[12] Eine dritte Möglichkeit des Berichtens sind die bemerkenswerten Arbeiten jener italienischen Journalisten und Schriftsteller, die sich »als« Migranten auf die Transitrouten von Afrika nach Europa begeben haben – teilweise mit falschem Namen. Siehe darunter Fabrizio Gatti, Bilal. Viaggiare lavorare vivere da clandestini, Milano 2007; Stefano Liberti, A Sud di Lampedusa. Cinque anni di viaggi sulle rotte dei migranti, Roma 2011; Gabriele Del Grande, Mamadou va a morire. La strage die clandestini nel Mediterraneo, Formigine 2007; ders., Il mare di mezzo. Al tempo dei respingimenti, Formigine 2010.

[13] Sayads postum veröffentlichtes Werk bezieht sich auf die Aus- und Einwanderung von Algerien nach Frankreich: Abdelmalek Sayad, La double absence. Des illusions de l’émigré aux souffrances de l’immigré. Préface de Pierre Bourdieu, Paris 1999.

[14] Zur engen Verknüpfung zwischen Postcolonial und Subaltern Studies: Gyan Prakesh, Subaltern Studies as Postcolonial Criticism, in: American Historical Review 99 (1994), S. 1475-1490.

[15] Dies war das Thema eines staatlich finanzierten Verbundprojekts: »Attraversamenti di memorie, di identità e di confini. Verso un’analisi transnazionale della storia coloniale e postcoloniale: il caso del Corno d’Africa«. Für Zwischenergebnisse siehe Uodelul Chelati u.a. (Hg.), Colonia e postcolonia come spazi diasporici, Roma 2011.

[16] Siehe stellvertretend zu dieser Entwicklung der Colonial und Postcolonial Studies: Gennaro Ascione, Science and the Decolonization of Social Theory. Unthinking Modernity, Basingstoke 2016; Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Aus dem Englischen von Robin Cackett, Frankfurt a.M. 2010. Zu diesem Ansatz in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft: Comparativ 21 (2011) H. 1: Entangled Histories: Reflecting on Concepts of Coloniality and Postcoloniality, hg. von Angelika Epple, Olaf Kaltmeier und Ulrike Lindner.

[17] Siehe Anm. 5.

[18] Diese Informationen verdankt die Verfasserin einem am 15. Februar 2018 geführten Skype-Gespräch mit Dagmawi Yimer. Siehe des Weiteren über dieses Tagebuch und sein Verschwinden: Dagmawi Yimer, Il mio diario non è scomparso, in: Carsetti/Triulzi, Come un uomo (Anm. 9), S. 103-105.

[19] Aus einem Interview von Triulzi mit Yimer, in: Alessandro Triulzi/Sintayehu Eshetu, Da Addis Abeba a Lampedusa: memorie di viaggio e di violenza, in: Triulzi/Carsetti, Come un uomo (Anm. 9), S. 37-82, hier S. 49f.

[20] Diese Interviews sind aufgrund des Schutzes der Privatsphäre nur auszugsweise öffentlich zugänglich.

[21] Als Gründungsprojekt des Participatory Video (»Collaborative Filmmaking«) gilt die Arbeit von Sol Worth und John Adair mit dem indianischen Volk der Navajo aus dem Jahr 1966. Dieser Versuch der visuellen Anthropologie zielte darauf ab, die Art und Weise zu untersuchen, wie nicht-europäische und nicht-westliche Kulturen über das filmische Medium die Wirklichkeit und ihre Beziehungen anders sehen und erzählen: Sol Worth/John Adair, Through Navajo Eyes. An Exploration in Film Communication and Anthropology, Bloomington 1972. Für den italienischen Forschungskontext siehe Cristina Balma Tivola (Hg.), Visioni del mondo. Rappresentazioni dell’altro, autodocumentazione di minoranze, produzioni collaborative, Trieste 2004; Francesco Marano, Camera etnografica. Storie e teorie di antropologia visuale, Milano 2007.

[22] Susanna Guerini, Futura memoria, in: Antropologia museale 37/39 (2015/16), S. 79-84, bes. S. 81. Das ist der Grund, weshalb ich mich im vorliegenden Beitrag besonders mit den audiovisuellen (Selbst-)Zeugnissen auseinandersetze.

[23] Die Dokumentarfilme wurden von Asinitas und dem AMM produziert.

[24] Ähnlich äußert sich AW, der am 13. Mai 2008 von Sintayehu Eshetu interviewt wurde: <http://www.archiviomemoriemigranti.net/archivio-delle-memorie-migranti/interviste/amm-giovani-etiopia-n-5/>.

[25] Viele Asylbewerber berichten über das kaum existierende Empfangsprogramm, das viele dazu bewegt, illegal in andere Länder weiterzuziehen. Siehe stellvertretend das Zeugnis von Hassan, einem somalischen Flüchtling, aus dem Jahr 2009, in: Arnoldo Mosca Mondadori/Alfonso Cacciatore/Alessandro Triulzi (Hg.), Bibbia e Corano a Lampedusa, Brescia 2014, S. 179-180.

[26] Siehe ebd., S. 178, und Doolli in Dagmawi Yimer, Tre storie nomadi, in: Lo straniero 164 (2014), S. 9-11.

[27] Im Film in amharischer Sprache.

[28] Dallala bedeutet in amharischer Sprache »Schlepper« oder »Vermittler«. Im Geschäft erfüllen die dallala verschiedene Funktionen: Sie sind die Vertrauenspersonen, an die das Geld für die Reise geschickt wird, sowie die Kontaktpersonen, die bei der illegalen Grenzüberschreitung und der Fortsetzung der Reise helfen. Diese Funktionen beschreiben Triulzi/Eshetu, Da Addis Abeba a Lampedusa (Anm. 19), S. 45, Anm. 9.

[29] Siehe dazu Dagmawi Yimer, Names and Bodies. Tales from across the sea, San Diego 2015 (The James K. Binder Lectureship in Literature 11), S. 13.

[30] Yimer, Il mio diario (Anm. 18), S. 104.

[31] Wie stark der Widerstand der Italiener*innen immer noch ist, sich mit der eigenen kolonialen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, zeigt indirekt die Fernsehübertragung von »Come un uomo sulla terra« im Jahr 2009 auf dem dritten Kanal der RAI (Italienische Rundfunk- und Fernsehanstalt), bei der u.a. die Anfangsszene zur kolonialen Vergangenheit geschnitten werden musste. Eine ähnliche Zensur erlitt eine auf Englisch verfasste Erzählung Yimers, die die Zeitung »La Repubblica« in italienischer Übersetzung veröffentlicht hat und in der ein gesamter Abschnitt über die koloniale Verantwortung Italiens nicht wiedergegeben worden ist. Siehe Dagmawi Yimer, Mediterraneo, in: La Repubblica, 3.5.2015. Diese Informationen verdankt die Autorin einem Skype-Gespräch mit Yimer am 17. April 2018.

[32] Yimer, Il mio diario (Anm. 18), S. 104.

[33] Primo Levi, Conversazioni e interviste. 1963–1987, hg. von Marco Belpoliti, Turin 1997, passim. Zu der Dramatik und Paradoxie von Levis Zeugenschaft siehe Lisa Regazzoni, Selektion und Katalog. Zur narrativen Konstruktion der Vergangenheit bei Homer, Dante und Primo Levi, München 2006, bes. S. 114-139.

[34] Es war ein Turiner, der nach der Vorführung des Films »Come un uomo sulla terra« Yimer sagte, wie sehr ihn der Film an Primo Levi und seine Berichte erinnert habe. Erst eineinhalb Jahre später, im Sommer 2009, habe sich Yimer an die Lektüre herangemacht. Aus einem Skype-Gespräch mit Yimer am 17. April 2018.

[35] Mit diesen Worten beginnt Yimer seine Lesung: »If I am here to speak to you today about those who didn’t make it, those whose lives ended in the sea, it is only because I am lucky enough to be still alive. There is no glory in having reached this side of the sea-shore. The day I arrived in Lampedusa I was marked as ›the one who survived‹: my duty is to recall my friends who drowned.« Yimer, Names and Bodies (Anm. 30), S. 1.

[36] Zerit, Lettera di Zerit, biologo marino, al Popolo italiano, in: Mosca Mondadori/Cacciatore/Triulzi, Bibbia e Corano (Anm. 25), S. 193-196, hier S. 195.

[37] Primo Levi, Se questo è un uomo [1947], in: ders., Opere, Bd. 1, hg. von Marco Belpoliti, Turin 1987, S. 89ff.; dt. Übers. von Heinz Riedt: Ist das ein Mensch? [1958], München 1992, S. 96ff.

[38] Ebd., S. 94; dt. Übers., S. 111; ders., I sommersi e i salvati [1986], in: ders., Opere, Bd. 1, Turin 1987, S. 716; dt. Übers. von Moshe Kahn: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990, S. 83.

[39] Yimer, Names and Bodies (Anm. 29), S. 7.

[40] Der Häftling und der Flüchtling lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen, den Giorgio Agamben als »nacktes Leben« bezeichnet hat, über das die Bio-Macht bestimme: ders., Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002.

[41] Aus einem Skype-Gespräch mit Dagmawi Yimer am 15. Februar 2018.

[42] Siehe das Kapitel »Die Grauzone« in: Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten (Anm. 38), S. 33-69.

[43] Ebd., S. 41.

[44] Yimer, Names and Bodies (Anm. 29), S. 3.

[45] Zahlreich sind die Zeugnisse, die Mesfin als Kontaktperson und Vermittler erwähnen. Über ihn ist jedoch wenig bekannt.

[46] In dem kurzen Dokumentarfilm von Mario Badagliaccia, »Grooving Lampedusa« (2012), u.a. vom AMM produziert.

[47] Siehe stellvertretend für die umfangreiche Literatur: Paola Corti/Matteo Sanfilippo (Hg.), Storia d’Italia. Annali, Bd. 24: Migrazioni, Torino 2009; Corrado Bonifazi, L’Italia delle migrazioni, Bologna 2013.

[48] Siehe François Hartog, La storiografia tra passato e presente, in: Salvatore Settis (Hg.), I Greci, Bd. 2.2: Una storia greca. Definizione, Torino 1997, S. 959-981, hier S. 966; ders., Le miroir d’Hérodote. Essai sur la représentation de l’autre, Paris 1980.

[49] Jochen Oltmer, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt 2017, S. 15f.

[50] Es ist verblüffend, dass Einführungen in das Studium und in die Methoden der Zeitgeschichte die Frage der Quellenproduktion kaum berücksichtigen, und wenn überhaupt, sie der Oral History zuschieben, als ob diese Frage nur einen Bruchteil der Geschichtswissenschaft betreffen würde.

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