1. Annäherung an ein lange unsichtbares Feld
2. Ein Blick zurück
3. Moscheen in umfunktionierten Räumen
4. Den Islam sichtbar machen
5. Räume des Islams – Ausdruck einer „Parallelgesellschaft“?
1. Annäherung an ein lange unsichtbares Feld
Die aktuelle Moscheedebatte entzündet sich oft an dem Wunsch von Muslimen nach sichtbaren Moscheen. Im Dokumentarfilm „Heimvorteil“ von Jan Gabriel (2008) meint der Protagonist, dass er sich als in Deutschland aufgewachsener Muslim nur dann wirklich heimisch und integriert fühlen könne, wenn er auch seinen Glauben in einem sichtbaren und repräsentativen Bau praktizieren dürfe und nicht auf eine „Hinterhofmoschee“ beschränkt bleibe. Umgekehrt stören sich viele Nichtmuslime kaum am Vorhandensein von „Hinterhofmoscheen“, sondern nehmen den Islam erst in dem Moment als existent und irritierend wahr, wenn er sich im Stadtbild in Form von Neubauten zeigt. Greifbar wurde eine solche Haltung besonders in der Volksabstimmung über Minarette in der Schweiz 2009.1 Gleichzeitig gibt es in Europa wie im Orient zahllose nominelle Muslime, die ihre Religion wenn überhaupt, dann privat ausüben und weder in der Kleidung noch im Habitus als Gläubige erkennbar werden.
Die kleinen Einblicke beleuchten verschiedene Perspektiven der Debatte um Moscheen, die an sich eine Debatte um den Islam in Deutschland ist. Erst überall sichtbare religiöse Zeichen lassen die Existenz unterschiedlicher Kulturen zu einem Gegenstand der öffentlichen Debatte werden. Hier wirkt ein typischer Mechanismus von Kulturen und Religionen, deren Mitglieder sich über das gemeinsame Verständnis von Zeichen und Symbolen verbunden fühlen: Für die einen gehört das „Zeichen“ Moschee zum eigenen Weltbild unabdingbar dazu, für die anderen gerade nicht. Ein vertiefter religionswissenschaftlicher Blick zielt darauf ab, hinter der vordergründigen Debatte der Mitglieder unterschiedlicher Kulturen und Interessengruppen weitere Dimensionen sichtbar zu machen. Dazu dient im Folgenden zunächst eine begriffliche Reflexion, gefolgt von einer historischen Rückschau in die Zeit der „unsichtbaren“ „Hinterhofmoscheen“ als Schwerpunkt des Beitrags. Dies wird eingebettet in die Darstellung weiterer soziokultureller Räume des Islams.
Beim Islam handelt es sich um eine alte und überregional verbreitete Religion, die sich folglich stark binnendifferenziert hat. So ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, überhaupt von „dem Islam“ zu sprechen, lässt man unterschiedliche historische Entwicklungen einmal ganz außer acht und denkt allein an Muslime etwa in Ägypten, der Türkei, China, den USA oder in Deutschland. Auch sind unterschiedliche „Konfessionen“2 zu berücksichtigen: Die Mehrheit der frommen Sunniten folgt in ihrem Lebenswandel dem Vorbild (sunna) des Propheten Muhammad. Die schiitische Minderheit geht auf eine Partei (shiʿa) zurück, deren Interesse seinem Schwiegersohn und dessen leiblicher Nachkommenschaft gilt. Hinzu kommen Unterschiede im Bildungszugang und vor allem bezogen auf eine dogmatische Prägung. Das Grunddogma des Islams ist der Monotheismus. Auf dem Lande und in illiteraten Kreisen, auch unter den lange Jahrhunderte bei Bildungszugängen deprivilegierten Musliminnen, wird hingegen ein starker Heiligenkult betrieben. Dies geht so weit, dass der Religionsethnologe Clifford Geertz die Aussage prägte, der Islam sei nur vordergründig eine monotheistische Religion; eigentlich tendiere er angesichts der hohen Bedeutung der regional verehrten „Heiligen“ (al-awliyaʾ) zum Polytheismus. Dennoch fand Geertz elementare Bezüge, die überregional sämtliche Muslime einen, in Form des Glaubens an Allah oder an den Koran.3
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Bei einer Außenperspektive stechen nichtsdestotrotz die Vielfalt und Wandelbarkeit des Islams ins Auge. Dies zeigt sich auch bei Sonderentwicklungen wie derjenigen der Aleviten, die im 16. Jahrhundert in einem über Jahrhunderte religiös heterogenen und zu Synkretismen tendierenden Gebiet entstanden, in einer Region zwischen turksprachigem Kleinasien und arabisch-persisch geprägtem Mesopotamien, mit Sunniten und Schiiten und einer religiös sehr vielschichtigen Vergangenheit. Die Aleviten haben manche Affinitäten zu einem sufisch-mystisch und schiitisch geprägten Islam; darüber hinaus haben sie den zentralasiatischen Schamanismus weiterentwickelt. All dies macht sie in der Summe zu einer eigenständigen Religion. Ähnliches gilt von den im 19. Jahrhundert im Iran aus der Zwölferschia als eine Neureligion erwachsenen Bahaʾi.4
Der Islam formte sich in einem anderen institutionellen Rahmen als demjenigen, der für die Geschichte des Christentums prägend war. So existiert in asiatischen Sprachen oft noch nicht einmal ein Begriff für „Religion“, und Mehrfachzugehörigkeiten sind dort die Regel. Zunächst gab es auch im Islam niemals eine offizielle Organisation, vergleichbar mit den klerikalen Hierarchien der römisch-katholischen Kirche oder mit der gegenwärtigen Kirchenmitgliedschaft in der Bundesrepublik, die zumindest nominelle Gläubige zahlenmäßig erfasst. So verstehen sich Muslime normalerweise als solche, wenn sie einer bereits muslimischen Familie angehören. Die Familie zählt sich ferner zu einer bestimmten Rechtsschule. Eine dogmatische Bindung zum sunnitischen oder schiitischen Islam wird tradiert und auf der Ebene gesellschaftlicher Kontakte und Loyalitäten aktualisiert, aber weniger kontrolliert oder dokumentiert. So bilden in Deutschland Gläubige eines gemeinsamen ethnischen und sprachlichen Hintergrunds eher aus praktischen Gründen einen gemeinsamen Moscheeverein, während es immer wieder vorkommt, dass schiitische oder sunnitische und multiethnische Gäste wechselseitig integriert werden.
Die in der Moderne in Europa ins Bewusstsein getretene Trennung von „Religion“ und „Staat“ bzw. „Politik“ hat kein Pendant im Islam; dieser erhebt den Anspruch, sämtliche Lebensbereiche zu umfassen. In der Praxis formierte sich allerdings bereits im Kalifat eine Trennung, in eine Schicht von Religionsgelehrten (ʿulamaʾ) einerseits und Politikern andererseits, einschließlich einer eigenen Rechtsform (qanun) neben der Scharia. Dabei handelte es sich eher um eine funktionale als eine politisch gewollte Aufteilung. Beide Gruppen arbeiteten durch politische und auch familiäre Allianzen zusammen. Über eine Adaption aufgeklärter Ideen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Bewegung der nahda, über wirtschaftliche, soziale und bildungspolitische Modernisierung bis hin zu modernen Medien hat sich das Leben in islamisch geprägten Ländern de facto verändert. Es gibt breite Schichten „säkularer“ Muslime, auch in Deutschland, die bei der Thematisierung „des“ Islams oft vergessen werden, wohl weil man sie in der Öffentlichkeit weniger wahrnehmen kann. Aber auch sie sind eine Facette dieser in vielfältige Subkulturen aufgefächerten Religion, die man mit in Betracht ziehen muss, wenn der Islam in der Bundesrepublik angemessen behandelt werden soll.5
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Ähnlich bedarf das Thema „Moschee“ genauerer Vorüberlegung. Moscheen und Muslime in Deutschland werden oft zu leicht analogisiert. Im vorliegenden Beitrag soll es daher nur im Schwerpunkt um eine besondere Periode der Moschee-Entwicklung gehen. Eingebettet wird dies in ein größeres Tableau religiöser Räume des Islams.6 Der deutsche Begriff „Moschee“7 bezeichnet in der Regel bereits zweierlei: die masjid, den Gebetsraum für die täglichen Pflichtgebete von Bewohnern in der Nähe ihrer Wohnstatt, und zugleich die jamiʿ, die größere Freitagsmoschee, die sämtliche männliche Mitglieder eines Ortes, Stadtviertels oder Moscheevereins aufnimmt.
Im Folgenden soll die Periode der Einrichtung von „Hinterhofmoscheen“ einen Schwerpunkt bilden (s.u., 3.). Grundsätzlich ist dieser Begriff jedoch stark zu hinterfragen. Von Muslimen selbst wird er in der Regel als ehrverletzend empfunden. Das organisatorische und finanzielle Engagement für die Einrichtung einer eigenen Moschee, die eigene Identität und der Glaube, der das Gebet zu einer religiösen Pflicht macht, stehen in diametralem Gegensatz zu der Abfälligkeit, die der Bezeichnung innezuwohnen scheint. Muslime selbst würden sich oft ästhetischere oder eindeutiger als Moschee erkennbare Gebäude wünschen. Die Moscheen in umfunktionierten Räumen oder an versteckten Örtlichkeiten in Industriegebieten werden zunehmend als Notlösungen wahrgenommen; ein solcher Typus von Gebetsraum ist jedoch oft der einzige, der sich realisieren lässt.
In der Regel denken deutschsprachige nichtmuslimische Sprecher nicht darüber nach, was der Terminus bei muslimischen Hörern auslösen könnte. Es scheint, als würde sich der Begriff mit der latenten Missachtung einer Religionsgemeinschaft decken, als sei mit dem „Hinterhof“ der adäquate Ort für eine Moscheegemeinde gefunden. Diese fehlende Reflexion entspricht der verbreiteten Akzeptanz für diese Form von Moschee, die als solche nicht erkennbar oder in der Peripherie von Städten angesiedelt ist. Insofern kann der Begriff hier nur als ein vorsichtig verwendeter Platzhalter verstanden werden, zur Bezeichnung einer bestimmten Epoche und Situation. Der Begriff hat sich etabliert, ist damit jedoch nicht als solcher zu präferieren. Andererseits wäre er im Deutschen nur holprig durch „Moschee in umfunktionierten Räumen“ o.ä. zu ersetzen.
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Neben den unguten inhaltlichen Assoziationen des Begriffs bleibt auch das Phänomen schwer zu umreißen. Eine Dokumentation der Stadt Frankfurt am Main nennt 2003 bzw. 2006 rund 25 Moscheegemeinden in umfunktionierten Räumen, wobei sicher nicht sämtliche existente „Hinterhofmoscheen“ aufgeführt werden, sondern nur diejenigen, deren Träger sich mit der Dokumentation des Amts für multikulturelle Angelegenheiten einverstanden erklärten, womit ein gewisser „dialogischer“ oder „integrativer“ Ansatz verbunden war.8
Merkez-Moschee in der Münchner Straße in Frankfurt am Main (links);
Tor zum Hinterhof mit einem Hinweisschild zur dortigen Omar Bin Al-Khattab-Moschee (rechts)
(Fotos: Bärbel Beinhauer-Köhler)
Zudem kommen schnell weitere Unschärfen auf. Wie sind Moscheen einzuordnen, die zwar Neubauten sind, aber in einem nicht repräsentativen Stadtteil in einem Hof in zweiter Reihe platziert sind, wie in Frankfurt-Hausen die Abu-Bakr-Moschee – zählt sie zu den „Hinterhofmoscheen“ oder nicht? Was ist mit Gemeinden, die sich privat im Wohnzimmer eines Muslims treffen, weil die Gruppe noch keinen eingetragenen Verein konstituiert hat? Zählt dies zu den „Moscheen in umfunktionierten Räumen“ oder nicht? Wie sind Räume mit Mehrfachnutzung zu deklarieren, wie ebenfalls in Frankfurt am Main die „Muslim Studentenvereinigung in Deutschland“ (MSV) in den Räumen des „Islamischen Zentrums Frankfurt“ (IZF)? Gilt die Adresse der Studentenvereinigung als eigene „Hinterhofmoschee“? Wie sieht es aus mit Umbauten, die recht ansehnlich und gleichzeitig durch klassische Stilelemente als Moschee erkennbar sind? Aus alldem ist zu schließen, dass es müßig wäre, genauere Zahlen dieses Moscheetyps angeben zu wollen. Von der Erhebung in Frankfurt ausgehend kann man für Deutschland recht grob mindestens 2.000 Moscheen eines solchen Typus schätzen.9
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Die Sozialstruktur der Träger von „Moscheen in umfunktionierten Räumen“ bedarf einleitend ebenfalls näherer Beachtung.10 Eine Zuordnung der eingetragenen Mitglieder einer „Gemeinde“ zu einem Sakralraum wie der Kirche wäre für den Islam dabei irreführend. In den meisten Fällen sind nur Männer als Familienoberhäupter Mitglieder eines Moscheevereins, Frauen und Kinder partizipieren jedoch gleichfalls an Gemeindeaktivitäten. Ebenso wird es eine gewisse Anzahl von Gästen oder Nichtmitgliedern geben, die willkommen sind. Auch gibt es nicht automatisch einen Imam im Sinne eines hauptberuflich für eine Gemeinde tätigen Pfarrers oder Priesters; sehr viele Moscheevereine behelfen sich durch einen ehrenamtlichen Vorbeter (imam) oder Prediger (khatib). Letztere reisen oft als Gastvortragende umher.
Der Gender-Aspekt verändert gängige Annahmen: Die meisten Moscheenutzer sind immer noch Männer, während die Sozialstruktur von Menschen islamischen Glaubens mit Migrationshintergrund sich längst dahingehend gewandelt hat, dass zu gleichem Anteil Musliminnen in Deutschland leben. Zunehmend beanspruchen sie Räumlichkeiten für sich, möchten sich religiös bilden, organisieren in diesem Sinne Unterrichtskreise und verfügen verschie-dentlich über eine eigene Predigerin (türk. vaize). Nach einer innerislamischen Diskussion in Migrantenkreisen in den letzten Jahren nehmen auch zunehmend Frauen am Freitagsgebet teil, obwohl dies allein für die Männer eine religiöse Pflicht (fard) ist.11
Bei alldem ist die Moschee kein „sakraler“ Raum im Sinne einer geweihten katholischen Kirche, auch wenn der in der Regel mit Koransuren geschmückte Hauptraum der Moschee dem Gebet und der persönlichen Kontemplation dient. Darüber hinaus ist die Moschee seit Beginn des Islams eher eine soziokulturelle Örtlichkeit, die in der Spätantike zahlreiche halböffentliche Räume der griechisch-römischen Stadt wie Tempel, Bad, Markt und politisches Forum ersetzte. Zur Funktion des Gottesdienstes kamen bei der Moschee die Zwecke der religiösen Bildung, der politischen Diskussion, häufig auch der Rechtsprechung, der Freizeitgestaltung oder der Herberge hinzu. So ist die deutsche Prägung, die eine umfangreichere Moschee, einschließlich Büros, Jugendräumen, Buch- und Gemüseladen, zum kulturellen Treffpunkt einer bestimmten Migrantengruppe macht, nicht so verschieden zu Moscheen im Orient, die auch heute komplexe multifunktionale Stadtteilzentren sein können.
Möchte man aber darüber hinaus „Orte“ und „Formen“ muslimischer Religiosität in Deutschland untersuchen, so bieten sich diverse andere reale und soziokulturelle Räume an: langsam wachsende Friedhöfe bzw. Gräberfelder, Kindergärten ebenso wie Selbsthilfegruppen oder Organisationen.
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2. Ein Blick zurück
Sowohl der Islam als auch die Moschee haben in Deutschland eine weitaus längere Geschichte, als das Stichwort „Hinterhofmoschee“ erwarten lässt.12 Bereits zur Zeit Friedrich Wilhelms I. wurde 1731 in Potsdam vorübergehend in einem Raum eine Gebetsmoschee zur Verfügung gestellt. Der Preußenkönig hatte als Geschenk eine Gruppe tatarischer Kriegsgefangener erhalten, die er nicht nur unterbrachte und verpflegte, sondern denen er auch die Ausübung ihrer Religion garantierte. Im Kaiserreich wurde die Hauptstadt Berlin zu einem Ort, an dem nachweisbar Muslime lebten – vorwiegend solche aus Diplomatenkreisen, die Ende des 19. Jahrhunderts sogar einen eigenen Friedhof besaßen. 1915 errichtete man in Wünsdorf-Zossen eigens eine Moschee für muslimische Kriegsgefangene aus den Armeen der Franzosen, Briten und Russen, die man aufgrund des Bündnisses mit dem Osmanischen Reich als Muslime bevorzugt behandelte.13
Im 18./19. Jahrhundert waren offenbar größere Bevölkerungsgruppen aufgeschlossen für den Islam. Bei Gebildeten speiste sich dies aus den Ideen der Aufklärung – man denke an Lessings „Ringparabel“, Goethes „West-östlichen Divan“ oder die Religion der „Deisten“, die in Freimaurerlogen großen Einfluss hatte und Juden, Christen und Muslime als gleichwertig anerkannte. Zudem galt seit der „Türkenmode“ der Orient im positiven Sinne als „exotisch“ und „geheimnisvoll“ und wurde zur Projektionsfläche eigener Imaginationen. So entstanden „Moschee-Attrappen“ – bereits 1782 ein umfangreicher Pavillon im Schlosspark von Schwetzingen oder um 1842 das Pumpwerk für den Park von Sanssouci.14
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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bauten in Deutschland lebende Muslime bereits einzelne Moscheen. 1924 wurde in Berlin die bis heute betriebene Moschee in Wilmersdorf errichtet, zurückgehend auf eine Abspaltung der Ahmadiyya, einer Neureligion des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus war der Islam im damaligen Berlin sehr vielfältig. Dort lebten ehemalige Kriegsgefangene aus Wünsdorf-Zossen, Diplomaten und Akademiker ebenso wie Konvertiten. Bereits 1922 bündelten sich diese Gruppen in einem multi-ethnischen Verein „Islamische Gemeinde zu Berlin e.V.“.
Überhaupt entstanden in den 1930er- und 1940er-Jahren organisatorische Formen, die bis heute den Islam in Deutschland prägen. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1924, und damit dem offiziellen Ende des Kalifats als Regierungsform, wurde in Kairo als Zusammenschluss islamischer Staaten und Organisationen der „Islamische Weltkongress“ gegründet. Von hier ging 1927 die Initiative zu einer islamischen Bildungseinrichtung in Deutschland aus, dem heutigen „Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland“ in Soest.
Auch das Milieu der Sufiorden hat eine längere Geschichte in Deutschland. Sie organisierten sich erkennbar bereits seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Mitglieder waren oft Konvertiten, die auf ausgedehnten Orient-reisen oder generell aus Interesse an orientalischen Religionen zur islamischen Mystik fanden – wie der Gründer der Bektashi in Deutschland, Walter Schwidtal, oder sein Nachfolger Rudolf Freiherr Glandek von Sebottendorf. Letzterer publizierte 1924 das Werk „Die geheimen Übungen der türkischen Freimaurer“.15 Möglicherweise reizte die Affinität der Sufiorden zu Geheimbünden; die Schaikhs geben ihr Wissen gewöhnlich in einem langen Prozess an die Adepten weiter, und Mitglieder werden stufenweise initiiert.
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Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehrere Moscheen begründet, immer noch unabhängig von den zeitgleich ins Land kommenden Arbeitsmigranten. Zu nennen sind die Fazle-Omar-Moschee in Hamburg von 1957 und die dortige Imam-Ali-Moschee, errichtet 1960–1965 von Kaufleuten mit iranisch-schiitischem Hintergrund. 1964–1968 wurde in Aachen die Bilal-Moschee erbaut, deren Gemeinde sich wesentlich aus Studenten der dortigen Universität zusammensetzte. Diese Moscheen sind auch wegen ihrer Elemente damals moderner Architektur interessant.16
Imam-Ali-Moschee in Hamburg-Uhlenhorst, Foto von 2006
(Wikimedia Commons, Staro1, Imam-Ali-Moschee Hamburg, CC BY-SA 3.0)
Islamisches Zentrum Aachen (Bilal-Moschee), Foto von 2008
(Wikimedia Commons, Euku, Bilal-Moschee, Aachen, CC BY-SA 3.0)
3. Moscheen in umfunktionierten Räumen
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann ein neues großes Kapitel des Islams in Deutschland. Zur Verstärkung des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit versuchte man in der Bundesrepublik seit den 1950er-Jahren ausländische Arbeitskräfte zu gewinnen. Zu Beginn der 1960er-Jahre warb man sowohl in der Türkei als auch in Nordafrika, besonders in Marokko und Tunesien, um so genannte Gastarbeiter. Die Bezeichnung lässt erkennen, dass an einen vorübergehenden Aufenthalt gedacht war. 1972 sollen noch rund 90 Prozent der Arbeitsmigranten Männer gewesen sein; erst später setzte der Familiennachzug ein. Zunächst blieb es die Regel, dass diese Arbeiter am Ende ihres Berufslebens in ihre Heimatländer zurückkehrten. Die Orte der Bestattung verraten, dass noch über Jahrzehnte die emotionale und soziale Verbindung zu den Herkunftsländern eng war. Bis heute werden Verstorbene mehrheitlich aus Deutschland ausgeflogen. Das Bestattungswesen ist in dieser Hinsicht gut organisiert, und schon junge Menschen zahlen in entsprechende Versicherungen zur Überführung ihres eigenen Leichnams ein.
Neben der Annahme des vorübergehenden Aufenthalts war auch eine verbreitete politische Einstellung dafür verantwortlich, dass Fragen der Ausübung des Islams und der Wunsch nach der Errichtung von Moscheen in Deutschland in Kreisen dieser ausländischen Arbeitnehmer erst überraschend spät aufkamen. Die Muslime waren nämlich mehrheitlich wenig religiös orientiert. In der Mitte des 20. Jahrhunderts waren einige Herkunftsländer sehr säkular geprägt – so die Türkei seit Atatürk, wo es in den 1950er-Jahren keinen Religionsunterricht an Schulen gab, in staatlichen Institutionen das Kopftuch und generell die Sufiorden verboten waren und viele Menschen den Glauben eher als Privatangelegenheit wahrnahmen. Andere Länder wie Ägypten, der Irak, Syrien oder Libyen hatten zumindest zum Teil sozialistisch geprägte Systeme. Im arabischsprachigen Raum dominierte der Panarabismus als politische Ideologie, und auch anderswo überwogen nationale Identitäten in Folge der Beendigung des Kolonialzeitalters.17 In vielen Regionen des Orients erfolgten starke wirtschaftliche Veränderungen im Sinne einer Verstädterung und Industrialisierung. Die Gastarbeiterbewegung war ein Teil dieser Entwicklung, nur dass diese Gruppen aus ländlichen Gebieten des Mittelmeerraums direkt in deutsche Industriegebiete zogen. Nebenbei sollte bei der vorliegenden Fokussierung auf den Islam daran erinnert werden, dass ebenso Menschen christlichen Glaubens aus Süditalien, Portugal oder vom Balkan in die Bundesrepublik kamen, ebenso wie Aleviten aus der Türkei.
Islamisches Gebet in Gelsenkirchen-Buer, 1982
(Foto: Henning Christoph/Das Fotoarchiv)
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Anfangs waren Arbeitsmigranten mit islamischem Hintergrund eher gewerkschaftlich organisiert als über Moscheegemeinden; vorrangig interessierten sie ihre Arbeitsbedingungen. Die Ansprüche an Freizeitgestaltung und Wohlbefinden waren nicht allzu hoch. Männer lebten in Gemeinschaftsunterkünften, sparten ihr Gehalt für die Familie zuhause und gaben sich mit Zwischenlösungen zufrieden. So freute man sich, wenn in manchen Betrieben für die täglichen Pflichtgebete Räume zur Verfügung gestellt wurden. Die masjid, die Moschee für das tägliche Gebet, ist auch in islamisch geprägten Ländern oft recht klein. Es gibt solche Räume im Erdgeschoss von Wohnblocks oder an Straßenecken.18 Wer es ermöglichen kann, betet dort. Ansonsten ist das tägliche Gebet sehr informell auf einem Gebetsteppich an einem sauberen Ort überall ausführbar. Zur Not kann man es auch nachholen, wenn am Arbeitsplatz keine Gelegenheit besteht – damit ist der religiösen Pflicht Genüge getan.
Erst allmählich verschoben sich die Erwartungen. 1973 wurde in der Bundesrepublik ein Anwerbestopp für Gastarbeiter verhängt. Ab den 1970er-Jahren erfolgte ein verstärkter Familiennachzug. Mit der Anwesenheit von Frauen und Kindern veränderten sich die sozialen Beziehungen und Lebensformen. Nun setzte auch eine andersartige soziale Kontrolle ein, und man erinnerte sich verstärkt der islamischen Normen der eigenen Herkunft.
Eine weitere Motivation für zunehmende islamische Orientierungen kam hinzu. Als politische Oppositionsbewegung fanden in vielen Ländern des Orients religiöse Gruppierungen Zulauf: in Ägypten und Syrien die Muslimbrüder, im Iran Kritiker des Schah-Regimes, und auch in der politisch instabilen Türkei schien für viele Menschen die Religion lange vernachlässigte Chancen zu bieten, ein durch politische Kämpfe destabilisiertes Staatswesen zu konsolidieren. Nicht zuletzt assoziierte man den Islam zunehmend mit Stolz auf die eigene Identität, gerade auch angesichts von Erfahrungen der realen Marginalisierung. Der in der gesamten islamischen Welt stets aufmerksam verfolgte Palästinakonflikt mit dem für die arabischen Nachbarn vernichtenden Sieg Israels im Oktoberkrieg 1973 spitzte diese Gefühlslage zu. Für Arbeitsmigranten mag sich all dies auch mit Erfahrungen der kulturellen Ausgrenzung überlagert und zu einem neuen Interesse an der eigenen Religion geführt haben.19
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Erste Initiativen zur Bereitstellung von Moscheeräumen gingen auf einzelne engagierte „Laien“ zurück, die Räume sowohl für das Freitagsgebet wie auch als soziale Treffpunkte organisierten. Im Gegensatz zu den bereits verschiedentlich vorhandenen Gebetsräumen im Sinne der masjid suchte man nun umfangreichere Räumlichkeiten, die auch zum Freitagsgebet (jumʿa) dienen sollten. Die Träger waren einfache Gläubige – daher der Begriff des „Laien“. Im Islam gibt es keine geweihten „Priester“, nur Religionsgelehrte und Berufsgruppen wie die Vorbeter oder Prediger. Da diese in Kreisen der Arbeitsmigranten nicht vorhanden waren, half man sich in Eigeninitiative.
Nun entstanden in umfunktionierten Räumen Moscheen. Vielerorts erwies es sich als schwierig, Räume zum vorgesehenen Zweck anzumieten – dies war oftmals auch eine Frage der Kosten. Der Bau eigener Moscheen erschien noch utopisch. So fanden und finden sich viele Moscheen in Industriegebieten oder versteckten Räumlichkeiten in Innenstädten, die für Außenstehende kaum als Gebetsstätten zu erkennen sind und für die sich im Vorfeld keine anderen Mieter interessierten. Für diese Form erwies sich ein überregionales Spezifikum von Moscheen als zuträglich: Da es sich per se nicht um geweihte Sakralräume handelt, kann auch in der islamischen Welt eine Moschee in einem beliebigen Raum eingerichtet werden. In diesen Fällen ist es einzig erforderlich, dass der Raum rituell rein ist, das heißt sauber. Förderlich ist, wenn eine Wand nach Mekka weist. Da dies bei nicht eigens als Moschee konzipierten Räumlichkeiten kaum zu erwarten ist, werden die Betenden durch das Auslegen von Gebetsteppichen oder das Einziehen einer Wand in Richtung Mekka gelenkt. Dennoch besteht ein Unterschied. Während in der islamischen Welt auf diese Art manches Mal Gebetsmoscheen im Sinne der masjid gestaltet sind, sind die dortigen Freitagsmoscheen nach Art der jamiʿ nach innen und außen als geplante Bauwerke repräsentativer. Hier bleibt bei den deutschen Moscheen in umfunktionierten Räumen immer ein Defizit zu verzeichnen.
Mit den „Hinterhofmoscheen“ hängt eng die Frage nach der rechtlichen Organisation der Muslime zusammen. In der Bundesrepublik haben sich zwischen Staat und lange Jahrhunderte ansässigen Religionsgemeinschaften gängige institutionelle Formen herausgebildet. Christliche Kirchen sowie der Zentralrat der Juden in Deutschland organisieren sich nach Art. 140 Grundgesetz in Verbindung mit Art. 137 (5) der Weimarer Verfassung auf einer überregionalen Ebene als Körperschaften öffentlichen Rechts. Ein derartiger Status wäre heute auch seitens vieler Muslime erstrebenswert, gliedert doch der bundesdeutsche Staat in der Nachfolge der Weimarer Verfassung bestimmte Rechte und Pflichten in die öffentlich-rechtlichen Körperschaften aus. Dieser Status wurde bisher jedoch nicht erzielt.
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Insofern organisieren sich die Muslime nach wie vor mehrheitlich in privatrechtlichen gemeinnützigen Vereinen, die als solche jeweils vor Ort anerkannte Vereinssatzungen entwickeln, Spenden entgegennehmen und quittieren dürfen sowie bestimmte steuerliche Vorteile genießen. So entstanden – zwar rechtlich unterschieden, jedoch im Hinblick auf das Gemeindeleben den örtlichen Kirchengemeinden nicht unähnlich – zahlreiche „Moschee-Vereine“ mit Anfängen bereits in den 1920er-Jahren. Damals lehnte man sich an eine Rechtsform an, die auch karitative und kulturelle Organisationen wählten und die einen ganz eigenen Raum bürgerlicher und städtischer Kreise konstituierte.20 In islamischen Ländern, die über die Kolonial- oder Mandatszeit europäisches Recht rezipiert hatten – beispielsweise in Ägypten –, war der Verein ebenfalls eine gängige Möglichkeit für Interessengruppen, sich zu organisieren. Dass der Verein keine islamische Rechtsform ist, wurde zunächst offenbar nicht kritisiert.
Islamische Vereine entstanden verstärkt ab den 1970er-Jahren, als sich Gläubige mit dem Programm zusammenfanden, ein Gebetshaus zu etablieren. Potenziellen Vermietern oder Verkäufern von Immobilien oder größeren Räumlichkeiten wollte man als erkennbare Gruppe entgegentreten, um der Gegenseite Rechtssicherheit zu bieten. Gleichzeitig blieb und bleibt der Verein nur ein juristisches Vehikel, um sich zu organisieren. Das religiöse Leben selbst zeichnet sich durch tradierte soziale Formen aus. Jeder Moscheebesucher ist willkommen, ganz unabhängig von einer eventuellen Mitgliedschaft. Dies erschwert zwar Außenstehenden die statistische Erhebung der durchschnittlichen Anzahl von Moscheebesuchern; wichtiger für die Muslime selbst ist indes die Idee der umma, der weltweiten, sämtliche Ethnien und innerreligiösen Gruppierungen umfassenden islamischen Gemeinschaft.
In der Regel finden sich jedoch in einem Verein bestimmte ethnische oder nationale Gruppen zusammen – Türken, Marokkaner, Bosnier o.ä. Eine wei-tere Besonderheit besteht in der innerislamischen Ausrichtung. Viele der in der hier fokussierten Periode nach Deutschland gekommenen Migranten stammen aus dem Mittelmeerraum und sind ganz überwiegend Sunniten; Schiiten bilden auch in der Bundesrepublik eine Minderheit.21 Zahlenmäßig auffällig ist jedoch die Gruppe der Aleviten, die in der Türkei auf etwa 25 Prozent der Bevölkerung geschätzt werden. Genaue Angaben liegen nicht vor, da sie sich als religiöse und kulturelle Minderheit oft nicht zu erkennen geben. Dies prägt auch ihre Selbstrepräsentation in Deutschland. In jedem Fall könnte ein größerer Teil der türkischstämmigen Migranten einen alevitischen Hintergrund besitzen. Auch sie etablierten ihre eigenen sozial und sakral genutzten Räumlichkeiten (cemevi, „Haus der Versammlung“) zunächst in umfunktionierten Gebäuden.
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Die Moscheen in umfunktionierten Räumen sind von außen unauffällig. Im Inneren entfaltet sich eine eigene Welt mit Bezügen zur Heimat ihrer Betreiber. Häufig werden die Räumlichkeiten in liebevoller Kleinarbeit und abendlicher Eigeninitiative tagsüber Berufstätiger dekoriert. Nicht selten schmücken arabische Kalligraphien die Wände oder auch Malereien von Moscheen in Heimatregionen. Schon dies zeigt, dass diese Orte für die Nutzer weit mehr sind als Gebetsräume. Andere Funktionen werden leicht erkennbar, wie diejenige des sozialen Netzwerks und einer zweiten Heimat. Von Beginn an gestalteten hier vor allem Männer ihre Freizeit. Inzwischen sind es vor allem die älteren Männer der ersten Generation, die als Rentner ganze Tage in den Moscheen bzw. den angeschlossenen Räumlichkeiten verbringen. In der Regel gehört zu einer Moschee auch ein Café oder eine Kantine. Hier kann man sich unterhalten, Freunde treffen, Karten spielen oder gemeinsam via Satellit Heimatprogramme im Fernsehen verfolgen. Nach den ersten Jahrzehnten erweist es sich oft als schwierig, die soziale Struktur der Gründungsväter und deren engen Zusammenhalt auf nachfolgende Generationen zu übertragen. Zu diesem Zweck wurden an die Moscheevereine nicht selten Fußballvereine angeschlossen oder soziale Dienstleistungen wie Hausaufgabenhilfe u.ä. organisiert.22
Erst recht spät traten Frauen als Akteurinnen in Moscheen in Erscheinung. Zunächst waren diese in der ersten Generation auch eher im Rahmen der traditionellen Frauenrolle mit der Kindererziehung oder eigener Berufstätigkeit beschäftigt, nimmt man idealtypisch Migrantinnen an, die in den 1970er-Jahren ihrem Mann in die Bundesrepublik folgten. Bei großen religiösen Festen engagierten sie sich immer schon, indem sie für das leibliche Wohl sorgten. Erst mit dem Erwachsenwerden der Kinder, besonders dem der Mädchen, trat eine weitere Veränderung ein. Frauen wollten analog zu den Koranschulen der Kinder in ihrer entstehenden Freizeit Religionsunterricht genießen. Oder sie unterrichteten als junge, autodidaktisch im Islam gebildete Frauen ihrerseits Mädchen. In den vergangenen 20 Jahren entstanden zahlreiche Frauenunterrichtskreise von und für Frauen.23
In den 1980er-Jahren ergab sich vor allem in türkischen Moscheen eine weitere Veränderung: Der türkische Staat entsandte in die Vereine der 1984 gegründeten Dachorganisation DITIB24 jeweils für mehrere Jahre Imame nach Deutschland, die dort als Vorbeter und Prediger agieren sollten. Anderen erschien die Verbindung mit der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet zu eng und die Betreuung durch Imame, die noch kürzere Migrationserfahrung hatten als die zu betreuenden Gemeinden, nicht sinnvoll. Weitere türkische Dachverbände wie die IGMG (ab 1976) und der VIKZ (ab 1973)25 blieben diesbezüglich unabhängig, ebenso wie die vielen arabischen und anderen Moscheevereine.
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Seit den 1980er-Jahren entstanden als weiterer Schritt der Institutionalisierung islamischer Vereine überregionale Spitzenverbände, beispielsweise der „Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland“ von 1986 oder der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ von 1994. Beide bilden ihrerseits ein Dach für verschiedene Typen von Moschee- und anderen Vereinen. Die Registrierung all dieser überregionalen Organisationen ist für unser Thema insgesamt bedeutsam, weil die verstärkte Institutionalisierung des deutschen Islams über die „Moscheen in umfunktionierten Räumen“ hinaus auch mit einer neuen Art der Repräsentation einherging. Etwa zeitgleich mit der Gründung von Dachverbänden baute man vermehrt neue Moscheen. Eine ganze Generation war in Deutschland aufgewachsen, und die meisten Familien entschieden sich, dauerhaft zu bleiben. Im gleichen Moment erschien es sinnvoll, das religiöse Leben noch weiter zu etablieren und zu normalisieren.
Seit den 1980er-Jahren treten Muslime in der Bundesrepublik selbstbewusster auf. Damit sind auch Probleme verbunden. An wohl kaum einem Ort gingen Moscheeneubauten reibungslos vonstatten.26 Dennoch gibt es inzwischen zahlreiche Moscheen, die die „Hinterhofmoscheen“ ersetzen und für ihre Mitglieder Orte der positiven Identifikation als Muslime in Deutschland sein können. Die Dachverbände wirken hier beratend, was den Bauherren die Arbeit erleichtert. Für die „Mehrheitsgesellschaft“ tritt damit zutage, was statistisch gesehen längst Realität ist: Der Islam ist mit geschätzten rund vier Millionen Mitgliedern die zweitgrößte Religionsgemeinschaft im Land, deren Mitglieder wie diejenigen anderer Gemeinschaften ihren Glauben in angemessenen Räumlichkeiten ausüben möchten. Damit spitzt sich ein in öffentlichen Debatten ausgetragener Konflikt zu.
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4. Den Islam sichtbar machen
Aus Sicht der deskriptiv arbeitenden Religionswissenschaft ist der Islam in der Bundesrepublik nicht erst seit der Periode der Moscheeneubauten präsent. Doch erst seit den 1980er-Jahren kann man die Anwesenheit von Muslimen dadurch deutlicher sehen, dass Moscheen mit „orientalisch“ anmutenden Bauelementen geschmückt werden. Und so kommt es zu einer verspäteten Verhandlung der Akzeptanz des Islams in der nichtmuslimischen „Mehrheitsgesellschaft“.27 Davon unabhängig ist der Islam bereits seit den 1970er-Jahren ein Faktor, der sich in der westdeutschen Gesellschaft nennenswert zu entfalten begann. Insofern soll an dieser Stelle der Blick auf weitere Orte und Formen der Glaubenspraxis oder auch soziokulturelle Räume gelenkt werden, die ebenfalls leicht übersehen werden.
Schon seit langem findet man in der Bundesrepublik, vor allem in Großstädten, Gräber einzelner Muslime. In den 1990er-Jahren bewegte Mitglieder unterschiedlicher islamischer Gemeinden, beispielsweise in Göttingen, erstmals das Fehlen eigener Friedhöfe. Man begann damit, auf dem städtischen Friedhof Junkerberg zugewiesene Gräberfelder systematischer zu nutzen. Allerdings war diese Phase noch von Anfangsschwierigkeiten des Abwägens zwischen deutschen Friedhofsverordnungen und islamischem Ritualrecht geprägt. Offenbar bestand öfter der Wunsch, sich in Deutschland beerdigen zu lassen, doch waren die Wege dafür noch zu erarbeiten. Bis heute organisieren die Dachverbände Überführungen in Länder, in denen Verstorbene zunehmend kaum noch Lebenszeit verbracht haben; in den nachfolgenden Generationen hingegen steigt das Bedürfnis, sich in Deutschland beerdigen zu lassen und auch die Grabstätten der Eltern in der Nähe zu wissen.
Selbst wenn Friedhöfe ebenso wie Moscheen im Islam keine „Sakralräume“ im engeren Sinne sind, so handelt es sich doch um Stätten, die in hohem Maße mit der Religion zusammenhängen. Nach Möglichkeit erfolgt auch in Deutschland eine den rituellen Richtlinien gemäße Bestattung, d.h. eine Waschung durch Angehörige des eigenen Geschlechts, eine kurze Zeremonie in der Moschee und ein auch in islamischen Ländern bescheidener Ritus am Grab. Idealerweise würde der Leichnam in einem Tuch bestattet, was die deutschen Hygieneregeln verbieten. Vor allem die Lage und der Schmuck des Grabs machen ein solches zu einem erkennbar islamischen Ort. Die Verstorbenen werden, wenn es die Friedhofsordnung erlaubt, mit dem Gesicht nach Mekka begraben. Den Grabstein schmücken neben dem Namen des oder der Toten visuelle Zeichen des Islams, beispielsweise Koranverse.28
Wie bereits bei der Charakterisierung der „Moscheen in umfunktionierten Räumen“ erwähnt, begann sich in den 1990er-Jahren die religiöse Aktivität von Frauen zu verändern. Musliminnen, vor allem aus ländlichen Gebieten der islamischen Welt, pflegen traditionell eigene Formen des Glaubens. Sie sind durch die Hausarbeit und Kinderbetreuung oder die Arbeit in der Landwirtschaft oft nicht in der Lage, die täglichen Gebetszeiten einzuhalten, geschweige denn eine Moschee zu besuchen; die Pflicht zum Freitagsgebet besteht ritualrechtlich nur für Männer. So etablierten sich über die Jahrhunderte eigene Praktiken gemeinschaftlicher Frömmigkeit. Gastgeberinnen organisieren religiöse Feste im Rahmen von Gelübden, und Predigerinnen kommen zu derartigen, vielbesuchten Frauenveranstaltungen ins Haus. Oder Frauen suchen bei Sorgen und Nöten Heiligengräber zum Gebet auf.29
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Für Migrantinnen war hier zunächst ein radikaler Bruch zu verzeichnen. Mit dem Umzug in eine deutsche Kommune fanden sich weder das nötige soziale Netz noch die sakrale Landschaft, um die Formen der weiblichen Vergesellschaftung und Religiosität fortzusetzen. Während die Männer bereits in der Moschee ihren Ort des Glaubens gefunden hatten, bestand für die Frauen anfangs ein Defizit. Sie partizipierten zwar im Hintergrund und deutlicher im Rahmen religiöser Feste am Gemeindeleben; aber die Moschee war eher ein außerordentlicher als ein üblicher sozialer und religiöser Raum für sie. Zu besonderen Anlässen organisierte man im türkischen Milieu eine „Kermes“, eigentlich ein „Volksfest“, hier jedoch schwerpunktmäßig ein Bazar mit dem Verkauf von Handarbeiten, dessen Erlös sozialen Zwecken oder gleich der Moschee zukam.
Vorwiegend über die Töchter, die in der Bundesrepublik eine schulische Bildung genossen, erhielten Frauen Zugang zu einem ganz anderen, eher kognitiv geprägten Islam. Zunächst autodidaktisch und zunehmend über selbst organisierten Unterricht begannen Frauen im Koran zu lesen und sich inhaltlich mit seinen Botschaften auseinanderzusetzen. Inzwischen haben sich dadurch neue Formen etabliert,30 die auch in den Räumlichkeiten der Moscheen ihren Ort haben. Sowohl die Moscheen in umfunktionierten Räumen als auch die Neubauten verfügen über Frauenabteilungen. In den architektonisch selten besonders reizvollen Moscheen in Zweitnutzung sind diese Bereiche meist noch weniger elaboriert und gut ausgestattet als die den Männern vorbehaltenen Haupträume. In den Neubauten jedoch wird heute meist großer Wert auf ansprechende Räumlichkeiten für Frauen gelegt.
Frauengebetsraum einer Moschee des „Vereins Islamischer Kulturzentren“ (VIKZ) in Bielefeld
(Foto: Bärbel Beinhauer-Köhler)
Parallel ist auch die Privatwohnung immer noch ein Ort, an dem Frauen sich, auch in Gemeinschaft, mit dem Islam beschäftigen. Das Frauennetzwerk „Huda e.V.“ zum Beispiel hatte seinen Ursprung in Treffen weniger Frauen, die über ihre Situation als Mütter und Musliminnen nachdachten und diese zu verbessern suchten. Zumindest eine sufische Predigerin lässt sich nennen, die eher in Akademikerkreisen Anhängerinnen und Anhänger gewinnt, die auch in Deutschland in privaten Lesezirkeln mystische Klassiker besprechen.31
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Viele Muslime engagieren sich stark, um ihre Kinder gut zu erziehen und ihnen optimale Startbedingungen zu ermöglichen. Gerade die Moscheen scheinen ihnen ein geeigneter Ort zu sein, um der nachfolgenden Generation islamische Werte mitzugeben. Fast sämtliche Moscheen organisieren in diesem Sinne Koran- und Arabischkurse. Diese variieren didaktisch erheblich, auch nach den Kompetenzen der zunächst lange Jahre ehrenamtlichen Lehrpersonen. In der Regel sind die Kurse für kleinere Kinder gemischtgeschlechtlich. Hinzu kommen in vielen Fällen weitere Betreuungsangebote wie Hausaufgabenhilfe, um die Hürden der Zweisprachigkeit auszugleichen. Manche Moscheevereine stellen Tischtennisplatten und Billardtische zur Verfügung oder gründen Fußballvereine. Dies lässt erkennen, dass man vor allem den jungen Männern Angebote macht, denn sie bewegen sich traditionell eher im halböffentlichen Raum, während man bei den jungen Frauen offenbar davon ausgeht, dass diese ihre Zeit im familiären Rahmen verbringen.
Die Geschlechtertrennung setzt sich auf einer anderen Ebene fort. Als Lehrende engagieren sich deutlicher Frauen; sie haben zahlreiche Unterrichts-Initiativen gegründet. Dieses Betätigungs- und Berufsfeld steht ihnen auch aus einer traditionellen Perspektive offen und wird extensiv als Freiraum gestaltet. Wiederum ist hier der Anfang der 1990er-Jahre von einigen Frauen mit multiethnischem und akademischem Hintergrund gegründete Verein „Huda“ zu nennen. Der Name bezeichnet einerseits die „religiöse Rechtleitung“, gleichzeitig handelt es sich um einen beliebten Frauennamen. Es gibt Informationsmöglichkeiten von rituellen bis schariarechtlichen Fragen in puncto Ehe und Scheidung. Interreligiöse Ehen oder Fragen des Schulunterrichts werden ebenso thematisiert wie Gewalt gegen Frauen. Insgesamt nimmt „Huda“ eine feministische und islamkritische Haltung ein. Vor allem ihre eigene Zeitschrift und inzwischen die Website dienen als Multiplikator liberaler Perspektiven von dennoch gläubigen Musliminnen.32
Das Kölner „Institut für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik“ (IPD)33 ist eine ähnlich einzuschätzende Initiative, getragen von der Pädagogin Rabeya Müller. Sie entwickelt seit Jahren Unterrichtsmaterialien für privaten Gebrauch, Moschee und Schule und ist ein Teil der inzwischen auch akademischen Bewegung, die den Islam als Unterrichtsfach an deutschen Schulen auf den Weg bringen möchte. Im Hintergrund steht die Erkenntnis, dass Bildung ein elementarer Weg der Verbesserung der Lebensqualität von Muslimen in Deutschland ist und dass vor allem die Kinder die doppelte Identität zwischen Herkunfts- und Residenzgesellschaft verarbeiten müssen. Das IPD gestaltet seit den 1990er-Jahren anspruchsvolle Materialien in deutscher Sprache; Rabeya Müller ist zudem Mitherausgeberin und Autorin des „Koran für Kinder und Erwachsene“ (2008).
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Zum Wohl der nachfolgenden Generation, die zwischen den Kulturen aufwächst, sind islamische Kindergärten gegründet worden, so in Karlsruhe mit einer Entstehungsphase ab 1994 der „Halima – unabhängiger Kindergarten von Muslimen e.V.“. Aber auch städtische Kindergärten oder solche christlicher Träger gehen auf die kleinen Musliminnen oder Muslime verstärkt ein. Der Islam ist somit nicht zuletzt ein Faktor auch der religiösen Früherziehung nichtmuslimischer Kinder.34
Betrachtet man soziokulturelle Räume des Islams in Deutschland, kann man auch das private Familienleben erwähnen. Hier finden sich vermutlich besondere Varianten der Erziehung mit Rekursen auf islamische Inhalte. Jeannette Spenlen hat dies für arabischstämmige Familien im Rheinland untersucht und dabei den Gender-Aspekt in den Blick genommen – mit der Frage, wie die Erziehung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht im entsprechenden Feld vonstatten geht oder inwieweit dies sich in Deutschland von den Heimatländern unterscheidet.35
Seit Mitte der 1990er-Jahre existiert eine große Jugendorganisation mit Zweigen für Jungen und Mädchen, die „Muslimische Jugend in Deutschland“ (MJD). Die Umgangssprache ist Deutsch. Analog zu christlichen Jugendgruppen werden hier unter anderem Sommercamps abgehalten; die Religion ist ein Thema neben der gemeinsamen Freizeitgestaltung mit Sport und Spiel. Insgesamt macht die MJD einen dynamischen, modernen Eindruck.36 Wie die Jugendorganisationen anderer Religionsgemeinschaften auch, übermittelt sie dabei zugleich traditionelle Werte.
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Neben islamischen Organisationen, die nicht zuletzt eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit betreiben, existiert eine Fülle kleinerer und informeller Netzwerke. Besonders das Internet ist eine Plattform für mannigfache Kontakte. So etabliert sich seit rund zehn Jahren ein Raum vor allem für junge Menschen, die in Chatrooms über den Islam diskutieren oder auf Youtube Predigten und islamische Popmusik herunterladen oder lokale Treffen organisieren. Angeregt durch eine Initiative des populären ägyptischen Predigers Amr Khaled entstanden in Deutschland die „Lifemakers“ mit ehrenamtlichen spontanen Aktionen wie Sammlungen für Obdachlose.37
Diese Bewegung, die man heute zum Teil als „Pop-Islam“ bezeichnet, ist äußerst inhomogen, aber von jungen Menschen getragen, die selbstbewusst den Islam als Teil ihrer Identität in Deutschland entdecken und definieren wollen. Dabei zeichnen sich durchaus Generationskonflikte ab, denn das Selbstbild und auch die Probleme der älteren Generation, die zunächst Moscheevereine gründete und Gebetsräume organisierte, war ein völlig anderes. Inzwischen geht es darum, den Islam selbstverständlich und auch mit einer gewissen Leichtigkeit in seinen Facetten zu leben. Dies wird absehbar auch das Leben in den Moscheen weiter verändern.
Eingangs wurde betont, dass der Islam in der Bundesrepublik und die Moschee nicht gleichzusetzen sind. Daher soll hier auch ein Milieu „säkularer“ Muslime kurz umrissen werden. Es ist schwerer zu greifen, da sich nicht wie bei gläubigen Moscheebesuchern ein eigener sozialer Raum mit realen Örtlichkeiten überlagert. Bisher gibt es wenige explizite Untersuchungen über säkulare Muslime in Deutschland.38 Solche Muslime sind in der Regel nicht durch islamische Kleidung oder einen bestimmten Habitus oder überhaupt als eine gemeinsame soziale Gruppe zu erkennen. Der Islam wird in vielen Elementen als eine reine Privatangelegenheit empfunden; soziale Kontakte bestehen in großem Maße auch zu Nichtmuslimen. Es ergibt sich ein individuell changierendes Bild, das zudem mit unterschiedlichen Lebensphasen einhergeht, denn Menschen befassen sich generell in verschiedenen Lebensstadien mehr oder weniger mit Religion oder existenziellen Fragen. Auch sind in der Regel individuelle Erfahrungen ausschlaggebend, um sich mit dem Glauben zu beschäftigen. So kann eine Person, die bekundet, niemals freiwillig in eine Moschee zu gehen, durchaus im Ramadan fasten oder bei schwerer Krankheit plötzlich Halt im Koran suchen. Für andere mag dieser während ihres ganzen Lebens ein rein literarisches Zeugnis bleiben. Als Korrektiv zu mitunter einseitigen öffentlichen Debatten erscheint zunächst einmal wichtig, dass es diese Kreise – im Orient und in Europa – überhaupt gibt, mit allen Facetten des modernen Lebens von Individualisierung der Biographie, mit wechselnden Partnerschaften oder der Berufstätigkeit von Mann und Frau.
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Man möchte versucht sein, hier eine gebildete und wohlhabende Oberschicht zu vermuten, die seit jeher kosmopolitisch orientiert ist und kulturelle Vielfalt eher als Reiz denn als Problem empfindet. Aber auch die erste Generation der Arbeitsmigranten aus der Türkei war oft durch die staatlich vorgegebene Säkularisierung sehr „modern“ ausgerichtet. Frauen trugen kein Kopftuch, religiöse Feste feierte man eher im Sinne eines Brauchtums als religiös motiviert. Die entsprechenden Kreise sind also durchaus vielschichtig; säkulare Muslime in Deutschland bringen über ihre biographische und ethnische Vielfalt eigene Hintergründe der Privatisierung des Glaubens mit. Afghanische Asylanten in einer Kleinstadt, die aus politischen Gründen hier leben, mögen durch andere Erfahrungen geprägt sein als ein libanesischer Student der Oberschicht, der in Göttingen Zahnmedizin studiert, oder eine türkischstämmige, in Deutschland aufgewachsene, geschiedene Friseurmeisterin in Frankfurt am Main. Der Islam lässt sich dabei als ein eher kultureller Faktor bestimmen, über den in individuell verschiedenem Maße reflektiert wird.
Besuch einer Studierendengruppe der Kirchlichen Hochschule Bethel in einer Bielefelder Moschee, hier im mit Malereien geschmückten Gesprächsraum
(Foto: Bärbel Beinhauer-Köhler)
Abschließend soll der Blick auf soziokulturelle Begegnungsräume fallen, auf situative Begegnungen von Muslimen und Nichtmuslimen. Denn der Islam ruht ja keineswegs in sich oder wird ausschließlich in Moscheen oder rein islamischen Zirkeln gelebt. Er wird vielmehr wie keine andere Religion permanent kritisch angefragt und in der islamischen und nichtislamischen Öffentlichkeit verhandelt. An sich ist der Islam dem gut gewachsen. Er ist per se eine für kognitive Zugänge offene Religion. Darauf verweist bereits ein dem Propheten in den Mund gelegter Ausspruch: „Suche Wissen, und sei es in China.“ Hier mag eine Wurzel liegen, warum Muslime selbst einen kontinuierlichen Diskurs über Glaubenselemente pflegen. Exemplarisch mag hier die Rolle der Frau genannt werden, die in den letzten rund 100 Jahren in inzwischen allen Gesellschaftsschichten diskutiert und auch modifiziert wird.39 Nichtmuslime dürfen ebenfalls anfragen und erhalten Antworten, etwa beim „Tag der offenen Moschee“ am 3. Oktober. Im Unterricht werden Schülerinnen und Schüler zu Repräsentanten ihrer jeweiligen Religion. Man denke darüber hinaus an die ausgeprägte „Dialog-Szene“, in der auf städtischer Ebene Vertreter von Juden, Christen und Muslimen miteinander über Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Religionen reden. Bei Moscheebauprojekten kommen oft ganze Stadtviertel mit ihrer vielfältigen Bewohnerschaft über den Islam ins Gespräch – oder geraten in Konflikt, je nach örtlicher Situation. Claus Leggewie betrachtet auch die Konfrontationen bei Moscheekonflikten als letztlich positiv zu bewertende Prozesse der wechselseitigen Integration.40
In diesem Kontext kultureller Begegnung mögen auch die von verschiedenen Religionsgemeinschaften zu nutzenden „Räume der Stille“ erwähnt werden. Vielfach finden sich diese in halböffentlichen Gebäuden, die entweder – wie Schulen – „Lebensraum“ für viele sind, oder – wie Krankenhäuser oder Flughäfen – „Erfahrungsräume“, die existenzielle menschliche Situationen verarbeiten lassen. An den Universitäten Bielefeld und Frankfurt am Main ist zu beobachten, dass insbesondere Muslime diese Räume für das individuelle Gebet nutzen.
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5. Räume des Islams – Ausdruck einer „Parallelgesellschaft“?
Der Terminus „Parallelgesellschaft“ ist aus religionswissenschaftlicher Perspektive ein irritierendes Pendant zur „Hinterhofmoschee“. Bei beiden Begriffen klingt an, dass man – als Mitglied der „Mehrheitsgesellschaft“ – nicht genau wissen könne, was sich in diesen realen und soziokulturellen Räumen abspiele. Es wird suggeriert, dass es sich eventuell um Vorgänge handelt, die befremdlich und womöglich verboten sind.
Pierre Bourdieu hat sich in seinen Arbeiten über Mechanismen der Distinktion zwischen sozialen Gruppen mit der Sprache beschäftigt. Diese konstituiert soziale Unterschiede und dabei gleichzeitig auch Machtverhältnisse.41 Die Sprache der Mehrheitsgesellschaft zur Bezeichnung islamischen Lebens in Deutschland scheint dies sehr deutlich zu illustrieren.
Die vorliegende, zunächst chronologische und dann auch systematische Übersicht der Gestaltungsräume islamischen Lebens in der Bundesrepublik dürfte einen leicht anderen Befund ergeben. Sie verdeutlicht einen Migrationsprozess, in dessen Rahmen sich eine Weltreligion in Deutschland in örtlich angepassten und zeitgenössischen Formen etabliert. In diesem Kontext wirken die aktuellen Debatten um die äußeren Zeichen des Islams in Europa merkwürdig unzeitgemäß; die langjährige Präsenz des vielfältig institutionalisierten und in viele Facetten ausdifferenzierten Islams wird selten beachtet.
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Ein Grund dafür mögen die Lücken in der Erforschung mancher Aspekte der Geschichte des deutschen Islams sein. Am intensivsten haben das Feld bisher die Sozial- und Politikwissenschaften bearbeitet.42 In methodischer Anlehnung daran befasst sich auch die empirisch ausgerichtete Religionswissenschaft in qualitativen Studien mit muslimischen Migranten und Migrantinnen.43 Aufgrund ihrer Tradition der philologischen Arbeit an Textquellen sind Orientalistik und klassische Religionswissenschaft hingegen traditionell eher mit dem Islam vergangener Jahrhunderte im Vorderen und Mittleren Orient beschäftigt.44 Die Muslime selbst haben ihre Geschichte in Deutschland in vielfältigen Quellen dokumentiert, zugänglich etwa im bereits erwähnten Islam-Archiv in Soest.45
Viele Bereiche sind bislang nur ansatzweise erforscht und würden das Bild einer engen Verbindung von Islam und Moschee, oder gar „Hinterhofmoschee“, aufbrechen. Dies gilt beispielsweise von der auch im vorliegenden Beitrag ausgeklammerten Geschichte des Islams in der DDR. Über Kontakte mit sozialistisch ausgerichteten arabischen Staaten wie Syrien oder zeitweise Ägypten und Irak lebten in der DDR Menschen mit muslimischem Hintergrund und vermutlich meist säkularer Weltanschauung, etwa als Studenten. Auch die religiöse Identität einer ersten Generation von eher moscheefernen Migrantinnen ist nach aktuellem Forschungsstand nur zu erahnen. So eröffnet sich bei der Rekonstruktion der jüngeren Geschichte des Islams in Deutschland ein weites Feld, für dessen Bearbeitung kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Ansätze stärker als bisher mit religionswissenschaftlichen Zugängen zu verbinden wären.
1 Eine verbreitete Ablehnung des öffentlich in Erscheinung tretenden Islams lässt sich in beiden Ländern konstatieren, in Deutschland und in der Schweiz. Im Einzelnen zeigte die Abstimmung in der Schweiz allerdings sehr variierende Ergebnisse – je nach Kanton, ob in der Stadt oder auf dem Land. Für Deutschland existieren keine entsprechenden Daten.
2 Ein solcher christlicher Terminus ist nicht kommentarlos zu übertragen, da es im Islam keine institutionalisierten „Bekenntnisse“ gibt. Gemeint sind hier inhaltlich verschiedene Glaubensrichtungen.
3 Clifford Geertz, Religiöse Entwicklungen im Islam, beobachtet in Marokko und Indonesien, Frankfurt a.M. 1988, S. 88.
4 Tord Olsson/Elisabeth Özdalga/Catharina Raudvere (Hg.), Alevi Identity. Cultural, Religious and Social Perspectives, 2. Aufl. Stockholm 2003; Manfred Hutter, Handbuch Baha’i. Geschichte – Theologie – Gesellschaftsbezug, Stuttgart 2009.
5 Navid Kermani, Wer sind wir? Deutschland und seine Muslime, München 2009; vgl. eine internationale Studie: John Esposito/Dalia Mogahed, Who speaks for Islam? What a billion Muslims really think, New York 2007.
6 Dies meint im Sinne einer sozialwissenschaftlichen Kategorie Lebensräume oder soziokulturelle Bereiche, die nicht immer mit realen Räumlichkeiten einhergehen müssen; Yi-Fu Tuan, Space and Place. The Perspective of Experience, 6. Aufl. Minneapolis 2008.
7 Einführendes zur Moschee allgemein: Bärbel Beinhauer-Köhler, Moscheen in Deutschland und im islamischen Orient, in: dies./Claus Leggewie, Moscheen in Deutschland, München 2009, S. 9-97, hier S. 41-78.
8 Abena Bernasko/Stefan Rech, Religionen der Welt, hg. vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2003, S. 183-197 (zur Abu Bakr-Moschee), S. 201f. (zur Studentenvereinigung); sowie als Gesamtdokumentation: Abena Bernasko/Susanna Keval/Stefan Rech, Religionen der Welt. Ergänzungsband, hg. vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurt a.M. 2006.
9 Thomas Lemmen spricht von mehr als 2.300 Moschee-Vereinen: ders., Die Sozialarbeit muslimischer Organisationen in Deutschland, in: Klaus D. Hildemann (Hg.), Religion – Kirche – Islam, Leipzig 2003, S. 191-206. Ursula Spuler-Stegemann gibt 2.180 für das Jahr 1995 an: dies., Muslime in Deutschland, Freiburg 1998, S. 150. Mehrheitlich sind diese Vereine in umfunktionierten Räumen, zunehmend in Neubauten beheimatet.
10 Beinhauer-Köhler, Moscheen (Anm. 7), S. 79-88.
11 Dies., Muslimische Frauen in Moscheen – zwischen Tradition und Innovation, in: Forschung Frankfurt Nr. 1/2008, S. 52-56.
12 Zur Vorgeschichte der „Hinterhofmoschee“: Muhammad Salim Abdullah, Geschichte des Islams in Deutschland, Graz 1981; Spuler-Stegemann, Muslime (Anm. 9), S. 32-36; Beinhauer-Köhler, Moscheen (Anm. 7), S. 20-24.
13 Beinhauer-Köhler, Moscheen (Anm. 7), S. 12ff.
14 Näheres ebd., S. 14-22.
15 Vgl. Spuler-Stegemann, Muslime (Anm. 9), S. 134ff. Das Werk ist im Laufe des 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart in mehreren Neuausgaben erschienen.
16 Sabine Kraft, Islamische Sakralarchitektur in Deutschland. Eine Untersuchung ausgewählter Moschee-Neubauten, Münster 2002.
17 Bassam Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1987.
18 Siehe etwa die Abbildung bei Beinhauer-Köhler, Moscheen (Anm. 7), S. 47.
19 Siehe auch Werner Schiffauer, Religion und Identität. Eine Fallstudie zum Problem der Reislamisierung bei Arbeitsmigranten, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 10 (1984), S. 485-516.
20 Lemmen, Sozialarbeit (Anm. 9), S. 191.
21 Spuler-Stegemann, Muslime (Anm. 9), S. 42, schätzte sie 1998 auf rund 120.000 Personen. Eine Studie im Rahmen der Deutschen Islam-Konferenz 2010 benennt mit 130.000 wenig mehr.
22 Beinhauer-Köhler, Moscheen (Anm. 7), S. 83, S. 87.
23 Jeannette S. Jouili/Schirin Amir-Moazami, Knowledge, Empowerment and Religious Authority among Pious Muslim Women in France and Germany, in: Muslim World 96 (2006), S. 617-643; Beinhauer-Köhler, Muslimische Frauen (Anm. 11).
24 Diyanet Işleri Türk Islam Birliği, „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.“, zunächst als regionaler Verband in Berlin gegründet. Näheres u.a. bei Spuler-Stegemann, Muslime (Anm. 9), S. 111f.
25 „Islamische Gemeinschaft Milli Görüş“ (Nationale Weltsicht) sowie „Verein Islamischer Kulturzentren“. Näheres u.a. bei Lemmen, Sozialarbeit (Anm. 9), S. 197-201, sowie als Überblick bei Ina Wunn, Muslimische Gruppierungen in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2007.
26 Vgl. Claus Leggewie, Warum es Moscheebaukonflikte gibt und wie man sie bearbeiten kann, in: Beinhauer-Köhler/Leggewie, Moscheen (Anm. 7), S. 117-218.
27 Bärbel Beinhauer-Köhler, Mit Kuppel und Minarett? Was hinter der Kontroverse um Neubauten von Moscheen steckt, in: Forschung Frankfurt Nr. 1/2010, S. 35-41.
28 Als Teil der Studie zu Religionen in Göttingen: Bärbel Beinhauer-Köhler/Dirk Bustorf/Stefanie Sasse, Religionen in und um Göttingen. Eine Dokumentation, in: Spirita 12 (1998), S. 20ff.; Gerhard Höpp/Gerdien Jonker, In fremder Erde. Zur Geschichte und Gegenwart der islamischen Bestattung in Deutschland, Berlin 1996; Spuler-Stegemann, Muslime (Anm. 9), S. 171-177.
29 Robert A. Fernea/Elisabeth W. Fernea, Variations of Religious Observance among Islamic Women, in: Nikki R. Keddie (Hg.), Schoolars, Saints and Sufis, Berkeley 1972, S. 385-401.
30 Gritt Klinkhammer, Moderne Formen islamischer Lebensführung. Eine qualitativ-empirische Untersuchung zur Religiosität sunnitisch geprägter Türkinnen in Deutschland, Marburg 2000, S. 98ff. (zu Aktivitäten muslimischer Frauen außerhalb von Moscheen).
31 Beinhauer-Köhler, Muslimische Frauen (Anm. 11), S. 54f.
32 Dies., Formen islamischer Wohlfahrt in Deutschland, in: dies./Matthias Benad/Edmund Weber (Hg.), Diakonie der Religionen 2. Schwerpunkt Islam, Frankfurt a.M. 2005, S. 97-166, hier S. 157f.
33 Spuler-Stegemann, Muslime (Anm. 9), S. 246f., dort noch als „Institut für Internationale Pädagogik und Didaktik“ geführt.
34 Beinhauer-Köhler, Formen islamischer Wohlfahrt (Anm. 32), S. 153ff.; Michael Frase, Orte für Kinder – Evangelische Kinderbetreuung in einem multireligiösen Kontext: Wie Eltern ausländischer Herkunft die religionspädagogische Arbeit in evangelischen Betreuungseinrichtungen wahrnehmen, in: Beinhauer-Köhler/Benad/Weber, Diakonie der Religionen 2 (Anm. 32), S. 197-220, hier S. 202f., S. 219f.
35 Jeannette Spenlen, Gender-Perspektiven ‚muslimischer Erziehung’ aus der Sicht arabisch-muslimischer Eltern in Deutschland, in: Orientierungen 2 (2009), S. 30-62.
36 Unmittelbare Einblicke gewähren Videos auf der Website: <http://www.muslimische-jugend.de>.
37 Julia Gerlach, Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Berlin 2006, S. 130ff.
38 Implizit werden sie in sozialwissenschaftlichen Einzelstudien erfasst; exemplarisch z.B. Klinkhammer, Moderne Formen islamischer Lebensführung (Anm. 30), S. 213-226, S. 286, S. 288ff.; siehe auch mit internationaler Ausrichtung: Zeynu Baran, The Other Muslims: Modern and Secular, New York 2010.
39 Beinhauer-Köhler, Muslimische Frauen (Anm. 11).
40 Leggewie, Warum es Moscheebaukonflikte gibt (Anm. 26), S. 200f.
41 Pierre Bourdieu, Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen, Berlin 1989, S. 42.
42 Vgl. stellvertretend Werner Schiffauer, Die Migranten aus Subay – Türken in Deutschland. Eine Ethnographie, Stuttgart 1991.
43 Exemplarisch etwa Klinkhammer, Moderne Formen islamischer Lebensführung (Anm. 30).
44 Ausnahmen bestätigen die Regel, so beispielsweise Spuler-Stegemann, Muslime (Anm. 9).
45 <...> [Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].