Dieses Themenheft trägt den Titel „Die 1970er-Jahre - Inventur einer Umbruchzeit“. Wie schwierig ihre Bilanzierung ist, deutet schon der am Ende des Jahrzehnts von Jürgen Habermas lancierte Versuch einer Ortsbestimmung mit dem Titel „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ an. Die Beiträger dieser Sammelbände versuchten „Begriff und Würde der Moderne“ gegen eine befürchtete konservative Wende zu verteidigen. Weit weniger Aufmerksamkeit widmeten die meisten von ihnen dem Beginn eines fundamentalen Strukturwandels, der das Ende der klassischen Industriegesellschaft signalisieren und das sozialliberale Zukunftsprojekt gefährden sollte. Aus heutiger Sicht vermitteln die Essays von 1979 eher den Eindruck einer verbreiteten Ratlosigkeit, als dass sie zum Verständnis der beginnenden ökonomisch-sozialen Strukturkrise beitragen würden.2 Originelle Denker wie Claus Offe erkannten durchaus bestimmte Tendenzen des Wandels, fassten ihre Beschreibungen und Deutungen aber in höchst zeitgebundene und normativ aufgeladene Begriffe („Spätkapitalismus“ etc.).3
Auch die transnationale soziologische Makroperspektive hat keine eindeutige, historiographisch tragfähige Bezeichnung der 1970er-Jahre hervorgebracht, da ihr ein dominantes Ereignis und somit ein Fluchtpunkt fehlt, der eine klare Gewichtung der Entwicklungen erlauben würde. Zu den bekannteren Deutungsangeboten zählen Daniel Bells soziologische These eines Übergangs zum „postindustriellen“ Zeitalter und Jean-François Lyotards philosophische Ankündigung einer „Postmoderne“ - eher Verlegenheitslösungen, die das Auslaufen von Entwicklungen thematisieren - sowie Ronald Ingleharts politologische Beobachtung eines „Wertewandels“, der sich hauptsächlich auf die jüngere Generation bezieht.4 Auch spätere deutsche Begriffsbildungen wie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ oder Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ greifen nur einige Teilaspekte heraus, die sich oft als kurzlebig und historisch wenig fundiert erwiesen haben.5 Die Uneinheitlichkeit dieser Begriffsbildung deutet auf die Widersprüche einer Übergangsepoche, deren Selbstbild zwischen einem verbreiteten Krisengefühl und neuer Aufbruchstimmung schwankte.
Wer heute an die 1970er-Jahre denkt, dem fällt zunächst vielleicht weniger die distanzierte sozialwissenschaftliche Reflexion ein als vielmehr das breite alltagskulturelle Spektrum an Popmusik, Moden, Kinofilmen und Fernsehserien: die schwedische Gruppe „Abba“, Plateauschuhe und Schlaghosen, Erfolgsfilme wie „A Clockwork Orange“ und „Star Wars“, Sendungen wie „Dalli Dalli“ und vieles andere. Neuerdings hat eine regelrechte Retrowelle eingesetzt, die sich bestimmter Embleme der 1970er-Jahre bedient und sie in neue Kontexte stellt. Woher diese Faszination rührt, ist nicht leicht zu erklären; offenbar treffen mehrere Faktoren zusammen: der Nostalgieimpuls von Menschen, die die 1970er-Jahre als Jugendliche oder junge Erwachsene erlebt haben, der idealisierende Rückgriff heutiger Jugendlicher auf eine vermeintlich buntere und fröhlichere Vergangenheit sowie eine mit wechselnden Versatzstücken hantierende Mode- und Unterhaltungsindustrie, die solche Bedürfnisse geschickt bedient. Auch im Bereich der Ästhetik und Popkultur waren die 1970er-Jahre jedoch facetten- und spannungsreicher, als es der heutige Retrochic erkennen lässt.
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Historikerinnen und Historiker haben gerade erst begonnen, sich in dieses Jahrzehnt vorzuwagen - auch weil die westdeutschen Archive den Zugang nur schrittweise freigeben. Der ältere Überblick von Wolfgang Jäger und Werner Link6 sowie die neueren Synthesen von Andreas Rödder und Edgar Wolfrum7 deuten an, dass die 1970er-Jahre in der Bundesrepublik trotz des Linksterrorismus8 eine vergleichsweise ruhige Zeit ohne Kriege oder Revolutionen waren, in der jedoch ein fundamentaler ökonomischer und kultureller Umbruch einsetzte. Während Bernd Faulenbachs Etikettierung dieser Periode als eines „sozialdemokratischen Jahrzehnts“ nur begrenzt aussagekräftig ist,9 vermitteln manche Biographien west- und ostdeutscher Politiker einen durchaus vielschichtigen Zugang.10 Daneben sind schon zahlreiche Monographien zu Einzelthemen erschienen, aber viele Darstellungen brechen entweder 1969 oder 1973/74 ab.11 Aus diesem Forschungsdefizit ergeben sich folgende Leitfragen: Anhand welcher Bezugspunkte und Indikatoren lässt sich das Jahrzehnt zeitlich eingrenzen und zugleich in längerfristige Entwicklungen einordnen (1.)? Wo lagen die hauptsächlichen Veränderungen, wie wurden sie wahrgenommen und politisch verarbeitet (2.)? Welche Leithypothesen könnten die weiteren Diskussionen über Gestalt, Begriffsbildung und Auswirkungen der damaligen Umbrüche strukturieren (3.)?
1. Obwohl die Länge eines Jahrzehnts vorgegeben zu sein scheint, ist seine historische Eingrenzung kaum selbstverständlich. Da viele Entwicklungen der 1970er-Jahre schon früher angefangen haben, andere Trends erst langsam einsetzten, aber sich ihre jeweiligen Folgen weiter erstreckten, erscheint der Anfang dieser Dekade ebenso unbestimmt wie ihr Ende. Die Diskussionen über die „langen 1950er-“ oder die „langen 1960er-Jahre“ weisen darauf hin, dass Jahrzehnte eigentlich nur kalendarische Artefakte sind, dass ihre Grenzen also je nach Fragestellung inhaltlich gerechtfertigt werden müssen.12 In Analogie zu diesen Debatten könnte man von den „langen 1970er-Jahren“ sprechen, die sich in der Bundesrepublik ungefähr von der Generationsrevolte und sozialliberalen Koalition (1968/69) bis zur Kohlschen „Wende“ (1982/83) erstrecken würden.13 Dadurch stellt sich gleichzeitig die Frage nach der inneren Periodisierung des Jahrzehnts. Für die Bundesrepublik könnte man die anfängliche Brandtsche Reformära bis 1973/74 von dem darauf folgenden Schmidtschen Krisenmanagement und schließlich der Agonie der sozialliberalen Koalition nach 1979 unterscheiden.
Ähnlich schwierig ist es, die Stellung der 1970er-Jahre im langfristigen Verlauf des 20. Jahrhunderts und aus internationaler Perspektive zu bestimmen. Die Mehrheit der Historiker neigt dazu, den Ölpreisschock von 1973 als Zäsur für die Entwicklung der hochindustriellen Länder zu setzen. So vertreten Eric Hobsbawm, Charles S. Maier, Edgar Wolfrum, Tony Judt, Anselm Doering-Manteuffel und andere die Sicht, dass mit diesem Zeitpunkt eine Strukturveränderung einsetzte, die als Ende der trente glorieuses und des Nachkriegsbooms eine neue Problematik ankündigte, welche den Kalten Krieg überlagerte.14 Dabei handelt es sich um die „dritte Industrielle Revolution“, an der der Ostblock letztlich zerbrochen ist und die der Westen mit unterschiedlichem Erfolg gemeistert hat, obwohl er noch jetzt unter den Folgen leidet. Im Gegensatz zum Vorschlag von Hans-Peter Schwarz15 kann man daher argumentieren, dass die neueste Zeitgeschichte als Geschichte der Gegenwart nicht erst mit dem Kollaps des Kommunismus, sondern schon anderthalb Jahrzehnte vorher mit dem sozio-ökonomischen Strukturwandel einsetzte, der Ost und West vor ähnliche Strukturprobleme stellte, die sich 1989/90 schließlich dramatisch entluden.
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2. Eine weitere Herausforderung ist es, die wichtigsten inhaltlichen Signaturen der 1970er-Jahre zu charakterisieren. Einerseits findet sich in zeitgenössischen Publikationen eine verbreitete Krisenrhetorik. Mit dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems, den Ölpreisschocks und dem Wegbrechen ganzer Branchen wie der Textilindustrie begann eine Strukturkrise, die sich noch jahrzehntelang auswirkte. Für Kritiker wie den Club of Rome wurde weiteres Wachstum fragwürdig und die Planbarkeit des Fortschritts problematisch; auch der klassische Sozialstaat gelangte offenbar an seine Grenzen (siehe dazu die Beiträge von Nils Freytag, Sabine Höhler und Winfried Süß in diesem Heft). Andererseits machte sich eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung bemerkbar, die eine Befreiung von traditionellen Normen und rechtlichen Beschränkungen verhieß. Der generationelle Wertewandel, die Neuen Sozialen Bewegungen, die Ausbreitung von Medien und Popkultur führten im Westen zu einer Individualisierung der Lebensentwürfe, die trotz der unterschiedlichen Systembedingungen auch den Osten nicht unberührt ließ. Gleichzeitig entwickelte sich die globale Situation von Versuchen der Entspannung mit der Beendigung des Vietnam-Kriegs und der Helsinki-Konferenz zu neuen, vom NATO-Doppelbeschluss und der sowjetischen Invasion Afghanistans geprägten Konfrontationen.
Die Krisenwahrnehmung war weitgehend ein Produkt unerwarteter Wirtschaftsprobleme, die den langen Nachkriegsboom beendeten und eine Periode schwächeren Wachstums einleiteten. Verkürzt gesagt begann mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems eine Phase von Währungsschwankungen; der erste Ölpreisschock löste eine scharfe Rezession aus; und der Wettbewerbsdruck asiatischer Niedriglohnstaaten führte in einigen besonders lohnabhängigen Branchen zu regionaler Entindustrialisierung, die durch die Entstehung neuer Firmen im Bereich der Datenverarbeitung nicht mehr wettgemacht wurde.16 Das Resultat dieser ökonomischen Entwicklungen war eine oft zitierte „Krise der Arbeitsgesellschaft“. Soziologen beobachteten den Übergang von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft und den Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit. Gleichzeitig beklagten Kritiker aber auch eine früher unbekannte, allmählich immer höher werdende Sockelarbeitslosigkeit sowie eine weitere Aus- und Überdehnung des eigentlich auf Vollbeschäftigung fußenden Sozialstaats.17 Das ungewohnte, aber notwendige Krisenmanagement belastete in der Bundesrepublik die sozialliberale Koalition, führte zu einer Renaissance neoliberaler Wirtschaftstheorie und bereitete eine konservative Wende vor. Waren und sind die Anpassungsprozesse für die westlichen Länder und Regierungen schon schwierig genug, so zeigten sich die ost(mittel)europäischen Staaten dazu noch weniger in der Lage (siehe den Beitrag von André Steiner in diesem Heft).
Der konträre Eindruck eines gesellschaftlichen Aufbruchs war dagegen ein Resultat transnationaler kultureller Strömungen im Gefolge der Jugendrevolte, die zunächst die Bundesrepublik erfassten,18 in gewisser Weise aber auch in der DDR zu beobachten waren. An erster Stelle stand dabei der verbreitete Wertewandel, mit dem die jüngere Generation „bürgerliche Sekundärtugenden“ von Ordnung, Fleiß und Sauberkeit Werten individueller Selbstverwirklichung unterordnete (wobei fortdauernde soziale Ungleichheiten, die einem postmateriellen Lebensstil Grenzen setzten, nicht übersehen werden dürfen). Eine weitere Tendenz war die Entstehung von Neuen Sozialen Bewegungen, die die Bewahrung der Umwelt, die Gleichstellung der Frauen und die Sicherung des Friedens zur Priorität machten. In dem basisdemokratischen Reformversuch durch Selbstmobilisierung der Bürger paarten sich Hoffnungen mit Zukunftsängsten, Befreiungsversuche mit Sozialromantik, Engagement mit Rückzug in Nischen.19 Ein letzter Strang lebensweltlicher Veränderung war die Ausbreitung elektronischer Medien und der Popkultur sowie die Ausweitung des Massenkonsums. Diese Kombination wurde stellvertretend für den „westlichen Lebensstil“, der den bescheideneren sozialistischen Konsum im Verlauf der 1970er-Jahre deutlich überschattete.20
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Auch viele Entwicklungen auf internationaler Ebene verstärken den Eindruck des Umschlagens anfänglicher Euphorie in spätere Zukunftsangst. Die Bemühungen um Befriedung während der ersten Hälfte der 1970er-Jahre konnten die neuen Konfrontationen in der zweiten Hälfte nicht verhindern.21 Einerseits waren die Ostverträge der sozialliberalen Koalition, die Beendigung des Vietnam-Kriegs sowie die Helsinki-Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eindeutige Anzeichen eines Versuchs, das nukleare Wettrüsten durch eine bewusste Politik der Entspannung abzulösen. Andererseits verschärfte sich der Rüstungswettlauf aber mit der Stationierung der sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen und dem NATO-Doppelbeschluss, während der sowjetische Einmarsch in Afghanistan einen neuen Regionalkrieg provozierte. Gleichzeitig kriselte es weiter im Nahen Osten, in Irland und Südafrika, gingen die ideologischen Stellvertreterkriege zwischen pro-kommunistischen Revolutionären und pro-westlichen Militärdiktatoren in Afrika und Lateinamerika weiter und blieb der Nord-Süd-Konflikt ungelöst. Während die Ablösung der diktatorischen Regime in Griechenland, Spanien und Portugal aus heutiger Sicht eine positive Weichenstellung war, fand Mitte der 1970er-Jahre auch der Völkermord in Kambodscha statt, ohne dass die Weltgemeinschaft diesem Gräuel Einhalt geboten hätte.
3. Wegen der Gleichzeitigkeit solch widersprüchlicher Tendenzen entziehen sich die 1970er-Jahre im Gegensatz zu manch anderen Jahrzehnten einer eindeutigen Charakterisierung. „Offensichtlich macht es besondere Schwierigkeiten, Gesellschaft und Kultur der siebziger Jahre in den Griff zu bekommen“, schreibt der Kulturhistoriker Werner Faulstich.22 Eine sozialreformerische Sicht würde vielleicht eine Verlustgeschichte des auf neo-keynesianischen Interventionen aufbauenden Versuchs gesellschaftlicher Planung erzählen, könnte aber auch auf die Pluralisierung und Individualisierung der Lebensentwürfe hinweisen. Eine eher konservative Perspektive würde dagegen den Verlust von „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ beklagen, könnte jedoch auch eine erfolgreiche Sammlung des bürgerlichen Lagers und Durchsetzung von neoliberalen Wertideen betonen.23 Gerade diese Gemengelage möglicher, aber unterschiedlich überzeugender Interpretationen verlangt einige Leithypothesen, um künftige Diskussionen zu strukturieren.
Eine erste empirisch zu überprüfende Hypothese könnte lauten, dass während der 1970er-Jahre eine strukturelle Transformation einsetzte, deren Ausmaße sich den Blicken der Zeitgenossen weitgehend entzogen. Das Erlahmen des Wirtschaftswachstums, das die meisten führenden Politiker nur als temporäres Konjunkturproblem wahrnahmen, signalisierte das Ende des klassischen hochindustriellen Zeitalters und damit den Beginn des schon beschriebenen fundamentalen gesellschaftlichen Strukturwandels. Mit dem Zusammentreffen von technologischer Innovation und verschärftem internationalem Wettbewerb begann eine neue Epoche der Entwicklung moderner Industriegesellschaften, deren gleichzeitig zerstörerischer wie kreativer Charakter erst im weiteren Verlauf deutlich wurde. Aus der Sicht einer solchen tektonischen Verschiebung würde die paradoxe Gleichzeitigkeit von Krisenwahrnehmung und Aufbruchsgefühl das Zerbrechen einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung der Industriegesellschaft signalisieren, die für Europa fast ein Jahrhundert lang prägend war und sich nun aufzulösen begann. Näher auszuloten wäre, wie sich die strukturellen und alltäglichen Dimensionen eines solchen Umbruchs zueinander verhielten; diese Fragestellung könnte verschiedene Themen integrieren und zugleich für unterschiedliche Ansätze offen sein.
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Eine zweite Hypothese könnte darauf abzielen, das Angebot zeitgenössischer Theorien nicht als endgültige Erklärung, sondern als kontextbedingten Reflexionsversuch zu verstehen, dessen relative Tragweite durch zeithistorische Forschung zu prüfen wäre. Statt sich gegenseitig auszuschließen, würden schon während der Ereignisse geprägte Begriffe wie „postindustrielle Gesellschaft“, „Postmoderne“ oder „Wertewandel“ demnach unterschiedliche Segmente der ökonomischen, ästhetischen und kulturellen Prozesse beschreiben, die verschiedene Aspekte einer größeren Veränderung bezeichnen, für die sich aber noch kein umfassender Begriff gebildet hat.24 So müsste etwa die marxistische These von einer „Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus“ auf alle entwickelten Industriegesellschaften ausgeweitet werden, um zu eruieren, warum der Krise eben nicht wie vorhergesagt die kapitalistischen, sondern gerade die realsozialistischen Systeme zum Opfer gefallen sind. Als sozialpolitische Alternative böte sich zum Beispiel das Etikett eines „ausgereiften Wohlfahrtsstaates“ an, während man in ökonomischer Perspektive von einer „post-fordistischen“ Industriegesellschaft sprechen könnte, um Veränderungen der Produktionsweise hervorzuheben.25 Eine solche Kritik älterer und Diskussion neuerer Deutungsangebote könnte herausarbeiten, in welcher Richtung eine umfassendere historische Begriffsbildung zu suchen ist, die den Umbruch gleichzeitig in mehreren Dimensionen erfassen würde.
Eine letzte Hypothese sollte schließlich die langfristigen Auswirkungen des fundamentalen Strukturwandels bis in die Gegenwart betonen, um die ideologischen Debatten über einen vermeintlichen oder tatsächlichen „Reformstau“ durch Historisierung transparenter zu machen. Für Ostmitteleuropa ginge es dabei um die Diskussion der ökonomischen wie politischen Ursachen des realsozialistischen Niedergangs sowie um die Schwierigkeiten des postsozialistischen Neubeginns. Für die westlichen Marktwirtschaften würde dies eine Analyse der sukzessiven Stabilisierungsversuche durch minimale Systemkorrekturen verlangen, die zwar bis 1990 im „Modell Deutschland“ noch Erfolg hatten, sich dann durch die Überlagerung von Vereinigungskrise und Globalisierung jedoch als unzureichend erwiesen.26 Dabei wäre es einerseits wichtig, die besonderen Reformblockaden des Rheinischen Kapitalismus durch kontrastierende Beispiele anderer Länder zu hinterfragen, um potentielle Lösungswege durch erfolgreichere Antworten aufzuzeigen. Andererseits wäre es aber auch wesentlich, auf der Grundlage historischen Wissens Wege der Verteidigung und Neubestimmung des europäischen Modells eines marktorientierten Sozialstaats gegen die Übertreibungen des anglo-amerikanischen Neoliberalismus zu diskutieren.27
1 Für zahlreiche Anregungen möchte ich den Teilnehmern des DFG-Rundgesprächs „Neue Forschungen zur jüngsten Zeitgeschichte. Die 1970er-Jahre in historischer Perspektive“ in Tübingen am 14. und 15. Juli 2006 danken.
2 Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1979; siehe dazu Gabriele Metzler, Pathos der Ernüchterung. Zeitdiagnostische „Stichworte“ vor 25 Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 154-158.
3 Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie, Frankfurt a.M. 1972. Siehe auch den Beitrag von Winfried Süß in diesem Heft.
4 Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1973; Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Bremen 1982; Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977. Siehe auch den Beitrag von Andreas Rödder in diesem Heft.
5 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986; Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992.
6 Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel. Die Ära Schmidt 1974-1982, Stuttgart 1987.
7 Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, München 2004; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Als kommentierte Sammlung von Bildmaterial siehe jetzt auch ders., Die 70er Jahre. Republik im Aufbruch, Darmstadt 2007.
8 Vgl. zuletzt Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M. 2006; Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006.
9 Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre - ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 1-37 (Themenband „Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland“).
10 Siehe etwa Peter Merseburger, Willy Brandt, 1912-1993. Visionär und Realist, Stuttgart 2002; Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur von 1962 bis 1972, Berlin 1997.
11 Vgl. u.a. Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005; Andreas Grau, Gegen den Strom. Die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition 1963-1973, Düsseldorf 2005; Markus Bernath, Wandel ohne Annäherung. Die SPD und Frankreich in der Phase der neuen Ostpolitik 1969-1974, Baden-Baden 2001.
12 Vgl. etwa Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993; Hanna Schissler (Hg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany 1949-1968, Princeton 2001.
13 Der Band über die „kurzen 1980er-Jahre“ von Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990, München 2006, setzt ohne weitere Rechtfertigung mit dem Kohlschen Regierungsantritt im Jahr 1982 ein. Zu den 1960er- und 1970er-Jahren, die dort überwiegend als Einheit betrachtet werden, siehe auch Jörg Calließ (Hg.), Die Reformzeit des Erfolgsmodells BRD. Die Nachgeborenen erforschen die Jahre, die ihre Eltern und Lehrer geprägt haben, Rehburg-Loccum 2004.
14 Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; Charles S. Maier, Two Sorts of Crisis? The „Long“ 1970s in the West and the East, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2003, S. 49-62; Wolfrum, Die geglückte Demokratie (Anm. 7), S. 327ff.; Tony Judt, Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006; Anselm Doering-Manteuffel (Hg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, bes. die Einleitung. Auch Ulrich Herberts Liberalisierungskonzept geht davon aus, dass dieser Prozess mit den 1970er-Jahren abgeschlossen war.
15 Hans-Peter Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 5-28.
16 Harold James, International Monetary Cooperation since Bretton Woods, New York 1996; Jens Hohensee, Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996.
17 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (Anm. 4). Vgl. auch Joachim Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a.M. 1983; Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a.M. 2000.
18 Vgl. jüngst Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hg.), Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies, 1960-1980, Oxford 2006.
19 Vgl. etwa Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich, Frankfurt a.M. 1994.
20 Hannes Siegrist (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums, Frankfurt a.M. 1997; Annette Kaminsky, Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001.
21 Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2006.
22 Werner Faulstich, Gesellschaft und Kultur der siebziger Jahre: Einführung und Überblick, in: ders. (Hg.), Die Kultur der 70er Jahre, München 2004, S. 7-18, hier S. 7. Faulstichs „Schwierigkeiten“ hängen indes auch mit dem Schematismus seiner Dekadeneinteilung und dem Fehlen problemorientierter Fragestellungen zusammen.
23 Rödder, Bundesrepublik (Anm. 7); Wolfrum, Die geglückte Demokratie (Anm. 7), S. 327ff.
24 Vgl. Heinz-Gunter Vester, Soziologie der Postmoderne, München 1993.
25 Paul Pierson, Post-Industrial Pressures on the Mature Welfare States, in: ders. (Hg.), The New Politics of the Welfare State, Oxford 2001, S. 80-106; Ulrich Brand/Werner Raza (Hg.), Fit für den Postfordismus? Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes, Münster 2003.
26 Dazu jetzt Andreas Rödder, Das „Modell Deutschland“ zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 345-363, hier S. 359ff.; ders./Thomas Hertfelder (Hg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007; Volker R. Berghahn/Sigurt Vitols (Hg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. 2006; Wirsching, Abschied vom Provisorium (Anm. 13), S. 223ff.
27 Wolfgang Merkel u.a., Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa, Wiesbaden 2006; Jeremy Rifkin, The European Dream: How Europe’s Vision of the Future is Quietly Eclipsing the American Dream, New York 2004.