Pathos der Ernüchterung

Zeitdiagnostische »Stichworte« vor 25 Jahren

Anmerkungen

Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit’. 1. Band: Nation und Republik. 2. Band: Politik und Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979 (edition suhrkamp 1000).

Buchcover: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit’. 1. Band: Nation und Republik. 2. Band: Politik und Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979

Es war eine reizvolle Aufgabe, die Jürgen Habermas (im Zusammenspiel mit Günther Busch und Siegfried Unseld vom Suhrkamp-Verlag) Mitte 1978 Freunden und Kollegen stellte: Wolle man nicht, fragte er an, das bevorstehende Erscheinen des 1000. Bandes der edition suhrkamp (es) zum Anlass nehmen und eine Zeitdiagnose aus linksintellektueller Sicht wagen? 32 Autoren - Wissenschaftler, Publizisten, Schriftsteller - folgten seinem Aufruf und sandten ihre Beiträge ein, so dass aus der ‚es 1000’ sogar zwei Bände mit insgesamt 861 Seiten wurden. Das Projekt war ambitioniert, obgleich Habermas um einen moderaten Grundton bemüht war. Als Vorbild fungierte der 1000. Band der Sammlung Göschen, „Die geistige Situation der Zeit“ von Karl Jaspers, 1931 erschienen. Jaspers’ Schrift war ganz dem kulturkritischen Duktus seiner Zeit verhaftet gewesen, hatte er doch die fortschreitende Rationalisierung und Technisierung der Welt als Ursachen einer allgemeinen menschlichen Sinnkrise gedeutet, die nicht mehr innerweltlich zu lösen sei, sondern nur durch den Sprung des Einzelnen in die Transzendenz.

Mehr als das Stichwort vermochte Habermas solcher Philosophie nicht abzugewinnen. Ihm galten sowohl Jaspers’ „Pathos eines Lehrers der Nation“ als auch sein Anspruch auf umfassende Gesamtdeutung längst als „obsolet“. „Nicht obsolet“ sei hingegen „die Aufgabe von Intellektuellen, auf Sprünge, Entwicklungstendenzen, Gefahren, auf kritische Augenblicke mit Parteinahme und Sachlichkeit, mit Sensibilität und Unbestechlichkeit zu reagieren“ (S. 9). Wie eng man auf Jaspers Bezug nehmen wolle, stellte Habermas seinen Koautoren daher frei, und tatsächlich nahmen die wenigsten Beiträge diesen Faden auf. Allein Peter Glotz fragte, ob es nicht „Zynismus“ sei, dass sich „die deutsche Linke [...] im Jahr 1979 um Karl Jaspers [versammelt], wenn sie sich über die ‚geistige Situation der Zeit’ verständigen will“ (S. 474): „Müssen wir zurück ins Jahr 1931, um Begriffe zu finden für die historische Konstellation, in der wir leben?“

Die Perspektiven, aus denen die „geistige Situation der Zeit“ beleuchtet wurde, konnten unterschiedlicher kaum sein. Grob gegliedert durch die Bandaufteilungen in „Nation und Republik“ sowie „Politik und Kultur“ reicht die thematische Bandbreite von der deutschen Frage und dem Selbstverständnis der Deutschen über die aktuellen politischen und ökonomischen Krisen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten bis hin zu Kunst, Literatur, Architektur und den Geisteswissenschaften. Unter den Autoren finden wir Horst Ehmke neben Martin Walser, Dorothee Sölle neben Fritz J. Raddatz, Urs Jaeggi neben Wolf-Dieter Narr. Gleichwohl: Die Beiträge hält mehr zusammen als bloß buchbinderische Leistung; man kann, man muss sie als Gesamttext lesen.

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Bereits die Auswahl der Autoren war nicht zufällig, sondern an zwei festen Kriterien orientiert. Zum einen sollten sie „für jene Traditionen einstehen, gegen die 1933 ein deutsches Regime angetreten ist“, wofür Habermas, in einem aus ideengeschichtlicher Perspektive kühnen Griff, die edition suhrkamp als „Testinstrument“ aufbot. Sie repräsentiere den Anschluss der Bundesrepublik an „Aufklärung, Humanismus, bürgerlich radikales Denken, an die Avantgarden des 19. Jahrhunderts“ (S. 7f.), also in vielem an das, was die zeithistorische Forschung in den vergangenen Jahren als „Westlichkeit“ interpretiert hat. Diese intellektuelle Entwicklung sollten die Autoren mit beeinflusst haben. Zum anderen und vor allem sollten sie ihre eigene Identität erst nach 1945 ausgeprägt haben. Unter den Autoren dominieren folgerichtig die Geburtsjahrgänge der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre. Der älteste, Iring Fetscher, wurde 1922 geboren, die beiden jüngsten, Claus Offe und Dieter Senghaas, 1940. Von den „68ern“, also jenen, die die Revolte vorantrieben und nicht nur auf sie reagierten, war niemand beteiligt.

Die „Stichworte“ sind demnach zuerst als das Projekt einer Generation zu lesen, deren Angehörige in der jüngsten Forschung als „45er“ charakterisiert werden.1 Das Kriegsende 1945 begriffen sie „als Ausgangspunkt für eine freie demokratische Gesellschaft“ (Dieter Wellershoff, S. 105). Nüchtern und aus sicherer Distanz zu Ideologien jeder Couleur machten sie sich an Reformen, die „interessiert-zustimmende Öffnung gegenüber der westeuropäisch-amerikanischen Welt galt [ihnen] als ebenso selbstverständlich wie eine liberaldemokratische politische Auffassung“ (Hans-Ulrich Wehler, S. 724). Die „45er“ trugen den reformerischen Impetus der 1960er-Jahre, setzten dabei auf evolutionäre Veränderungen des bestehenden parlamentarischen Systems, nicht auf dessen Überwindung. Das war erst das Thema der darauffolgenden Generation, der „68er“, für die die Reformer kaum Verständnis aufbrachten: Ihnen fiel es schwer, „die selbstsichere Emotionalität der Jungen zu begreifen“ (Iring Fetscher, S. 116).

Die reformistisch orientierte Linke nahm „1968“ und erst recht dessen Ausläufer als Bedrohung ihres eigenen Reformprojektes wahr. Die Lebensreformbewegungen der 1970er-Jahre, die sich in Kommunenexperimenten und alternativem Aussteigertum äußerten, waren den Reformern suspekt. Sie sahen darin, wie Hans Mommsen in seinem Beiträg schrieb, ein „Wiederauftauchen einer grundsätzlichen Zivilisationskritik“, die, „richtungspolitisch ambivalent“, auf eine „breite ideologische Strömung der Weimarer Republik“ zurückgreife (S. 170f.). Gewiss, man dürfe die Weimarer Verhältnisse nicht mit denen der Bundesrepublik gleichsetzen, aber solche Erscheinungen wollte Mommsen doch als „Symptome für eine tiefgreifende Legitimationskrise“ verstanden wissen (S. 171). Es ging daher nicht allein um Fragen des Lebensstils, des Zusammenlebens - das längst auf autoerotische Züge und beziehungslose Distanz reduziert sei (Fritz J. Raddatz) -, sondern es standen auch und vor allem die Berechtigung und Zukunft linker Entwürfe auf dem Spiel. Die sozialistischen Entwürfe der linken Sekten hätten „ins Abseits geführt“ (Habermas, S. 15); oder sie seien diskreditiert worden durch die historischen Erfahrungen des Gulag, durch die Erfahrungen in Chile und in der SSR, den „gewöhnlich-schmutzigen Krieg zwischen China und Vietnam. Wer da immer noch unbeirrt Parolen ausgibt, hat eine beneidenswerte geistige Konstitution“ (Glotz, S. 477). Wie sehr der Linksterrorismus in der Bundesrepublik nicht nur die radikale, sondern auch die reformerische Linke in die Defensive drängte, zeigt sich drastisch in einem geradezu verzweifelt anmutenden Versuch, linke Positionen scharf vom RAF-Terrorismus abzugrenzen und dadurch zu „retten“ (Albrecht Wellmer).

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Der reformerische Impetus der 1960er-Jahre war erlahmt, war zerrieben worden zwischen radikalen Entwürfen von links und der „Tendenzwende“ von rechts. Reformpolitik hatte zudem ihr ökonomisches Fundament eingebüßt, wie Wolfgang J. Mommsen konstatierte (S. 206): „Es erwies sich, dass aller strukturverändernden Politik durch die realen ökonomischen Gegebenheiten drastische Grenzen gezogen und dass die Möglichkeiten, auf kurze Frist tiefgreifende Reformen der Gesellschaft durchzusetzen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren, überschätzt worden waren. Was eben noch als Aufbruch in eine neue Periode fortschrittlicher Politik bejubelt worden war, stellte sich nun dem breiten Publikum als teilweise wirklichkeitsfremde Fehlrechnung dar. Politik erschien nun wieder, mehr denn je zuvor, als ‚Kunst des Möglichen’ innerhalb eines Rahmenwerks von zunehmend unbeeinflussbaren Randbedingungen.“

Das war eine nüchterne Anerkennung tiefgreifender sozialer und politischer Veränderungen, die die Politik von den 1970er-Jahren bis auf den heutigen Tag bestimmen. Von konservativer Seite wurde diese neue Konstellation seinerzeit als Problem der „Unregierbarkeit“ diskutiert, als Gefahr akuten Staatsversagens, herbeigeführt durch die wachsende Diskrepanz zwischen staatlichem Leistungsvermögen und Ansprüchen der Bürger.2 Als Gegenstrategie setzten die Konservativen weniger auf einen forcierten Marktliberalismus, wie ihn etwa die monetaristische Wende à la Milton Friedman zur selben Zeit herbeiführen wollte, sondern auf eine Rückbesinnung auf „nicht-politische Ordnungsprinzipien“ wie „Familie, Eigentum, Leistung, Wissenschaft“ (Claus Offe, S. 311). Demgegenüber plädierte Offe dafür, „Unregierbarkeit“ nicht als Ausnahme-, sondern als Normalzustand komplexer Gesellschaften zu betrachten und politisch entsprechend zu handeln, jedenfalls nicht das Ziel „politischer Modernisierung“ aufzugeben (ebd.).

Die „neue Unübersichtlichkeit“3 manifestierte sich allerorten - sei es im „punktuellen Gewimmel“ der unüberschaubaren alternativen Szene (Urs Jaeggi, S. 466), sei es in der neuen Flut von Daten und Informationen, neuen Formen der Kommunikation, „die die soziale Ortlosigkeit beschleunigen“ (Wolf-Dieter Narr, S. 501). Große Entwürfe, die strukturierend wirken mochten, konnte es da nicht mehr geben; das zeigte sich selbst in der Kunst, der die Avantgarde verloren gegangen war (Karl Heinz Bohrer). Man konnte in dieser Situation, wie Martin Walser, sich „neuen“ Themen wie der deutschen Frage zuwenden („Händedruck mit Gespenstern“); man konnte versuchen, neue Anknüpfungspunkte für politische Reformen zu finden, wie etwa Jürgen Seifert und Ulrich K. Preuß mit Blick auf Verfassungsdenken und Politikkonzepte.

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Nimmt man die beiden Bände der edition suhrkamp 1000 heute wieder zur Hand, lesen sie sich wie Dokumentationen einer historischen Übergangszeit. Auf das Ende der sozialliberalen Reformepoche reagierten die Autoren mit dem Pathos der Ernüchterung: Ihre Meinungen und sie selbst „sind einander ein bisschen fremder geworden“ (Martin Walser, S. 40). Ihnen Resignation zu attestieren wäre indessen falsch, ging es doch noch immer darum, das Projekt ihrer Generation, eine offene, pluralistische, freie Gesellschaft zu schaffen, in widrigeren Umständen zu verwirklichen. Dabei waren nicht mehr allein die überkommenen Widerstände gegen modernisierende Reformen zu überwinden, sondern es waren neue Problemlagen hinzugetreten, die bearbeitet werden mussten - Problemlagen, die die Moderne selbst erzeugte: „Fragen der Nebenfolgen [von Modernisierung, G.M.] und Dysökonomien; Fragen des Missverhältnisses von Erwartungen und Möglichkeiten (Inflation); Fragen der Ungleichheit im Weltmaßstab; Fragen der Aufhebung der Arbeit durch die Arbeit selbst“ (Ralf Dahrendorf, S. 220). Vielfach scheinen in den Beiträgen Krisendeutungen und Gegenwartsdiagnosen durch, die wenige Jahre später in den Begriff der „Risikogesellschaft“ eingingen.4 Hier warteten die Autoren „mit redlichen Erwägungen, Unpoliertem, Ungeschütztem“ auf, mit einer gemeinsamen Absicht (Habermas, S. 12): „So geht man nicht in eine Arena, so trifft man sich allenfalls, um sich untereinander zu beraten.“ Die Beiträge ziehen das wehmütige Resümee einer vergangenen Aufbruchzeit und wenden sich zugleich tastend einer mehr denn je unsicheren Zukunft zu. Wenn dereinst die Geschichte der „Risikogesellschaft“ und ihres Bewusstseins von sich selbst geschrieben wird, werden die „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit’“ darin einen zentralen Rang einnehmen.

Anmerkungen:

1 Dirk Moses, Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 211-233.

2 Die zeitgenössische Diskussion in der Bundesrepublik ist dokumentiert in: Wilhelm Hennis u.a. (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, 2 Bde., Stuttgart 1977/79.

3 Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985.

4 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986.

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