Gemeinsamer Weg im nationalen Alleingang?

Ein europäisches Projekt zu Erinnerungsorten des 20. Jahrhunderts

Anmerkung

Wege der Erinnerung (http://www.wege-der-erinnerung.de)
(Anm. der Red.: Die Website ist inzwischen nicht mehr verfügbar.)
 

Startseite „Wege der Erinnerung“ (August 2004)

Startseite „Wege der Erinnerung“ (August 2004)

Die Website dokumentiert ein überaus ambitioniertes und in dieser Form konkurrenzloses Projekt gleichen Namens, das von sechs Museen bzw. Forschungseinrichtungen aus ebenso vielen Ländern betrieben wird.1 Es verzeichnet Erinnerungsorte in Europa, die die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie des Spanischen Bürgerkrieges zum Gegenstand haben bzw. von diesen historischen Ereignissen selbst nachhaltig beeinflusst und geprägt wurden. Das Projekt wurde laut Auskunft eines deutschen Mitarbeiters in nur einem Jahr auf die Beine gestellt - diese Information findet sich jedoch nicht in dem überaus knappen Einführungstext. Daraus ergibt sich bereits ein zentraler Kritikpunkt: Wenn der Besucher der Website etwas mehr Informationen zum Projekt und zur Zielgruppe erhielte, ließen sich etliche Fragen und Unzufriedenheiten vermeiden. Eine Website sollte ohne zusätzliche Informationen verständlich und nutzbar sein.

„Wege der Erinnerung“ ist in erster Linie für Schüler und Studierende gedacht, die sich - sei es auf Reisen oder auf Streifzügen vor der eigenen Haustür - auf die Spur von historischen Ereignissen begeben oder entdecken wollen, welche Zeichen der Vergangenheit sie bislang nicht sehen und erkennen konnten. Deshalb sind die einführenden historischen Texte in lexikalischer Kürze und ohne weiterführende Literaturhinweise gehalten, um die Nutzer nicht abzuschrecken.

Zum Inhalt des Projekts: Die sechs Jahrzehnte, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen sind, haben zu einer Entemotionalisierung der Geschichtsschreibung und der nationalen Erinnerungen an diese Kriege geführt - so zumindest die etwas voreilige These der Projektteilnehmer. Die vorgestellten rund 700 Orte sollen den Besuchern aus dem eigenen Land, aber auch aus anderen Staaten vor Augen führen, welche Orte für die Identität und das kollektive Erinnern der Bürger in den jeweiligen Ländern eine Rolle spielen. Ziel dieser Pionierarbeit sei es darüber hinaus, heißt es im Vorwort, über die Erinnerungsorte „in Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken“ sowie „gegensätzliche Sichtweisen zu reflektieren“, um auf diesem Weg das gemeinsame europäische Haus weiter auszubauen.

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Die Gestaltung der Website spiegelt den Ansatz wider, sowohl bekannte als auch weniger berühmte Erinnerungsorte aufzulisten und zu beschreiben; der zentrale Zugriff erfolgt entweder über ein alphabetisches Ortsverzeichnis oder über Karten. Zu den einzelnen Orten findet der Besucher zunächst einen kurzen, in die historischen Ereignisse einführenden Text und danach Hinweise zu den „Sehenswürdigkeiten“ sowie - zumindest bei den deutschen Orten - Links zu den Websites von regionalen und lokalen Museen, Touristenbüros etc. (Ein Teil dieser Links ist inzwischen leider nicht mehr aktuell.) Der Besucher der Website kann sich über Karten virtuell auf den Weg machen und Regionen und Orte anklicken, um so zu erfahren, was es dort zu sehen gibt. Er wählt - je nach Land - zwischen thematischen Zugängen wie zum Beispiel „Kriegsverlauf“, „Heimatfront“ oder „Befreiung“. Die Tatsache, dass die Website in sechs Sprachen ausgeführt ist (Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Flämisch), ermöglicht es nahezu jedem, sie intensiv zu nutzen.

Jede der an dem Projekt beteiligten Institutionen hat die nationalen Erinnerungsorte in eigener Regie ausgewählt und beschrieben. Das Bonner Haus der Geschichte zum Beispiel war bei der Auswahl von dem Ziel geleitet, rund 100 repräsentative deutsche Orte vorzustellen, mit denen alle bedeutenden Aspekte der Kriegführung behandelt werden könnten und darüber hinaus jedes Bundesland in etwa gleichem Maße vertreten sei. Die von den Museen verfassten Texte wurden dann lediglich in die anderen fünf Sprachen übersetzt - dazu später mehr. Der Anspruch, mit der Präsentation der Erinnerungsorte auch „gegensätzliche Sichtweisen zu reflektieren“, wird also nicht eingelöst; trotz europäischem Wollen dominiert letztlich ein enger nationaler Blickwinkel. Anhand von drei Orten soll diese Kritik exemplarisch erläutert werden.

Verdun

Kaum ein anderer Erinnerungsort in Frankreich ist so bekannt und einflussreich wie Verdun: Dieser Ort repräsentiert die französischen Kriegsanstrengungen und den Erfolg, die deutschen Besatzer zurückgedrängt zu haben. Allerdings macht das Beispiel deutlich, wie verkürzend eine Erinnerung sein kann, die in erster Linie die französische Gesellschaft zusammenschließen und die großen Verluste mit einem - scheinbar allein errungenen Sieg - rechtfertigen sollte. Auf der Website findet sich leider keine Reflexion über die Etappen der Erinnerung in und an Verdun - obwohl es an Beispielen und eindrucksvollen Bildern nicht mangelt. In Verdun standen sich deutsche und französische Truppen gegenüber, und diese Gemeinsamkeit des Kriegserlebnisses führte in der Zwischenkriegszeit zu gemeinsamen Gedenkfeiern mit dem Ziel der Versöhnung. Deshalb wählten Helmut Kohl und François Mitterrand im September 1984 den französischen Soldatenfriedhof vor dem Beinhaus von Douaumont nahe Verdun als Ort für den symbolträchtigen Händedruck, der die deutsch-französische Freundschaft besiegeln sollte. Verdun ist viel mehr als nur ein französischer Erinnerungsort, und das Projekt würde generell davon profitieren, wenn auch der Blick der Nachbarn auf die nationalen Erinnerungsorte dokumentiert würde - nicht zuletzt, um deutlich zu machen, dass Erinnerung immer Konstruktion mit Bezug zur jeweiligen Gegenwart der sich erinnernden Gruppe und bei weitem nicht so „entemotionalisiert“ ist, wie im Vorwort behauptet wird.

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Auch die Angaben zu den Museen in Verdun und zu den Denkmälern hätte ich mir ausführlicher gewünscht. Adressangaben und Kurzinformationen zu den jeweiligen Museen sind eine wichtige Orientierungshilfe für Besucher einer Website und des Ortes Verdun, doch sie fehlen hier. In der bestehenden Form helfen die Informationen einem Besucher, der sich erstmals in dieser an Denkmälern und Sehenswürdigkeiten reichen Region aufhält, ganz sicher nicht weiter. Wichtig wäre es, überall Adressen zu verzeichnen und darüber hinaus eine gewisse Orientierung zu ermöglichen: In welchem Museum erwartet den Besucher was? Welches Museum kann empfohlen werden? Positiv ist hervorzuheben, dass neben dem Ortsnamen jeweils eine kleine Karte erscheint, die alle wichtigen Orte der Umgebung nennt.

Seelower Höhen

Der historische Abriss ist knapp und zufriedenstellend. Die Besucherinformation bietet aber keine Angaben zum Museum Seelower Höhen, das auch deshalb von Bedeutung ist, weil es - zu DDR-Zeiten gegründet - noch heute dokumentiert, wie die Erinnerung an die Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee jahrzehntelang zum Repertoire öffentlichen Gedenkens der SED gehörte. Die nach 1989 überarbeitete Ausstellung thematisiert die Instrumentalisierung der Erinnerung und verdiente es, ausführlicher erwähnt zu werden - nicht zuletzt, um den Anspruch der Projektverantwortlichen einzulösen, den Besuchern Impulse zum Nachdenken über die Erinnerungsorte sowie deren Instrumentalisierung geben zu können.

Utah/Omaha

Auch die Landungsstrände des D-Day sowie viele wichtige Schauplätze der Invasion werden als Erinnerungsorte verzeichnet, allerdings vor allem aus französischer Sicht. Dabei ist während der diesjährigen Gedenkfeiern zum D-Day wohl deutlich geworden, wie international dieser Erinnerungsort ist und wie sehr er in aktuelle Politik und deren Legitimation einbezogen wird. An diesem Beispiel zeigt sich auch, wie emotional die Erinnerung bis heute ist, denn die am 6. Juni 1944 begonnene alliierte Landung wird unter dem Titel „Befreiung“ dargestellt, die Rubrik „Kriegsverlauf“ bleibt leer. Hier widerlegen die Projektverantwortlichen ihre eigene These von der Entemotionalisierung des Erinnerns.

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Statt das Projekt demnächst noch auf Orte außerhalb der gegenwärtig beteiligten sechs Staaten auszudehnen (wie es im Vorwort heißt), wäre erst einmal der Anspruch einzulösen, die gegensätzlichen Sichtweisen zu reflektieren - einschließlich des vorausgehenden Schrittes, den anderen Projektteilnehmern zu ermöglichen, einen Erinnerungsort zu kommentieren, der zwar nicht auf dem eigenen Territorium liegt, aber relevant für das kollektive Erinnern der eigenen Gesellschaft ist. Das Projekt wäre überzeugender, wenn es nicht nur als ein europäisches Gesamtprojekt auftreten, sondern eine multinationale Sichtweise tatsächlich umsetzen würde. Dem bekannten Museum des Ersten Weltkrieges in Péronne an der Somme ist genau das gelungen: nicht etwa nationale Geschichte durch eine neue europäisch-nationale zu ersetzen, sondern eine Vielfalt von Interpretationen nebeneinander bestehen zu lassen.

Wie mir Thomas Wagner, der deutsche Projektmitarbeiter von „Wege der Erinnerung“, berichtete, hätten die sechs gemeinsamen Arbeitstreffen (jeweils einmal am Ort der sechs Teilnehmer) verdeutlicht, wie groß zwar das Engagement für Europa sei, wie hart aber im Detail um jeden Satz gerungen werden musste. Wagner empfiehlt dem Besucher der Website, die übersetzten Texte mit dem Ursprungstext zu vergleichen: Hier blitze an mancher Stelle die Inkompatibilität der jeweils gefühlvollen nationalen Sichtweise auf. Die Stadt Gernika wird im spanischen Text als „heilige Stadt“ bezeichnet; die deutsche Übersetzung versucht zumindest abzumildern und formuliert: „die den Basken heilige Stadt“. Ich hätte mir einen offenen Erfahrungsbericht auf der Website gewünscht, in dem von dem Bemühen, aber auch von den Schwierigkeiten berichtet worden wäre, nationale Geschichte international zu reflektieren. Das führt zu einem weiteren Kritikpunkt: Selbst ein zeitlich befristetes Projekt sollte seine Mitarbeiter vorstellen und nicht nur knapp namentlich nennen. Das stört vor allem bei den erwähnten historischen Texten und Informationen zu den Orten. Es wäre hilfreich, wenn Namensangaben erkennen ließen, wer für den jeweiligen Text verantwortlich zeichnet.

Man darf gespannt sein, ob und wie sich diese Website weiterentwickeln wird. Nach Informationen von Thomas Wagner ist eine Ausweitung des Projektes nach Osteuropa geplant. Insgesamt sind Projekt und Website nützlich, informativ und anregend, wenn man den Zuschnitt auf die genannte Zielgruppe berücksichtigt. Die Website lässt sich ganz sicher auch von der nicht primär anvisierten Zielgruppe der Fachleute einsetzen - als Medium für den Unterricht, als erste Orientierung für diejenigen Orte, die selbst der Fachmann als Neuling bereist, sowie schließlich als Quelle für eine bis heute emotionsgeladene nationale Erinnerung in der Europäischen Union.
 

Anmerkung:

1 Le Mémorial de Caen (Frankreich); Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; D-Day Museum, Portsmouth (Großbritannien); Centre Guerre et Société contemporaines, Brüssel (Belgien); Museo de la Paz, Guernika (Spanien); Istituto per i Beni Culturali, Regione Emilia-Romagna, Bologna (Italien).

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