Die 1950er-Jahre sind lange als eine Phase gesellschaftspolitischer »Restauration« in der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen worden. Fokussiert wurde auf die Aktivitäten religiöser Sittlichkeitsvereine wie des Volkswartbundes, die das gesellschaftliche Klima der Zeit bestimmt und die Politik vor sich hergetrieben hätten: Neue Gesetze wie dasjenige »über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften« (1953) beschränkten demnach die Kunst- und Meinungsfreiheit, alte Gesetze wie die Verbote von Kuppelei, Ehebruch und Homosexualität verhinderten eine freie und selbstbestimmte Entwicklung der Sexualität. So kam Dagmar Herzog in ihrer Studie über die »Politisierung der Lust« 2005 zu dem Ergebnis, dass nach »bemerkenswert freizügig-debattierfreudigen ersten Nachkriegsjahren« in »der ersten Hälfte der fünfziger Jahre ein abrupter Schwenk hin zu konservativen Vorstellungen von Sexualität« erfolgt sei. Fortan hätten »konservativ eingestellte Politiker, Kirchenvertreter, Journalisten, Juristen und Mediziner« die Debatte beherrscht. Zu einem Wandel sei es erst infolge der »sexuellen Revolution« ab Mitte der 1960er-Jahre gekommen.1 Andere Forscher sehen die Entwicklung etwas differenzierter: So verweist Franz X. Eder darauf, dass es sich bei den »Veränderungen in der westdeutschen Sexualkultur« um einen »längerfristigen Prozess« gehandelt habe, der schon »in den späten 1940er Jahren und frühen 1950er Jahren erkennbar« gewesen sei.2 Und Sybille Steinbacher argumentiert, dass für die 1950er-Jahre weniger Begriffe wie »Restauration« und »Rückständigkeit« passend seien als vielmehr ein »Nebeneinander von Sittlichkeitskampf und Erotik-Boom, von rechtlicher Repression und liberalisierter Rechtspraxis, von Fortschrittskritik und Fortschrittsdenken, von Modernitätsängsten und Modernisierungshoffnungen«. Das Jahrzehnt sei eine »Hoch-Zeit des Konflikts um Sexualität« gewesen. Das »Sittlichkeitsparadigma«, so Steinbacher, habe dabei einen »raschen Bedeutungsverlust« erlitten und schon »Anfang der fünfziger Jahre erheblich an Einfluss verloren«.3
Die Zukunft des § 175, der homosexuelle Handlungen unter Männern seit 1871 mit Gefängnis bedrohte, war eines der wesentlichen Kampffelder in diesem Konflikt und stand schließlich sogar im »Vordergrund der Diskussion über eine Reform des Sexualrechts«, wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1963 notierte.4 Bislang fand dieser Aspekt in der Geschichtsschreibung nur wenig Aufmerksamkeit, dominiert hier doch die Perspektive, die 1950er-Jahre seien für Homosexuelle eine Phase neuerlicher Repression und Verfolgung gewesen. So konstatierte Dagmar Herzog, es sei zu einer »Wiederbelebung der Homophobie unter demokratischen und christlichen Auspizien« gekommen – diese sei »rasch wieder salonfähig« geworden. Auch »die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung und Bestrafung homosexueller Handlungen« seien bald erneut »verschärft« worden. Kaum besser sei es in den 1960er-Jahren zugegangen: Der Historiker Hans-Joachim Schoeps habe treffend bemerkt, das »Dritte Reich habe für Homosexuelle eigentlich erst 1969 aufgehört«.5
Schoepsʼ Kritik, die er (allerdings schon 1963) in einem Aufsatz veröffentlicht hatte, mit dem er sich gegen den § 175 wandte, ist oft zitiert worden und gilt auch unter Historikern als adäquate Beschreibung der Lage vor der Strafrechtsreform von 1969.6 So urteilte Stefan Micheler 2010, Schoeps habe »die Situation für gleichgeschlechtlich begehrende Männer in der frühen BRD treffend« beschrieben.7 Beachtlich ist diese Einschätzung auch deswegen, weil es zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer in den 1950er- und 1960er-Jahren bislang kaum Untersuchungen gibt. Die meisten vorliegenden Studien widmen sich der Homophilenbewegung und den Bemühungen um eine Reform des § 175, den die Nationalsozialisten 1935 erheblich verschärft hatten und den das Bundesverfassungsgericht 1957 schließlich für grundgesetzkonform erklärte. Wie der Paragraph von Polizei und Justiz angewandt wurde, ist dagegen nur in Ansätzen erforscht.8 Bekannt ist zwar das quantitative Ausmaß der Verfolgung: So haben Auswertungen der Kriminalstatistiken ergeben, dass es in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1969 zu rund 53.700 Verurteilungen kam. Unklar ist bislang aber, wie sich die Urteilspraxis im Hinblick auf die »einfache« Homosexualität nach § 175 und die »qualifizierten« Fälle von »Jugendverführung« und Prostitution nach § 175a unterschied:9 Weitgehend unerforscht sind insbesondere der Umfang von Einstellungen und Freisprüchen sowie die Entwicklung des Strafmaßes, die mögliche Liberalisierungsprozesse in der Justiz dokumentieren und vielleicht auch Indikatoren für Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas sein können.
Im Folgenden wird am Beispiel der Situation in Frankfurt am Main untersucht, ob die bislang vorherrschende Perspektive tragfähig ist oder ob Sybille Steinbachers These, es habe ein »Nebeneinander« von »rechtlicher Repression und liberalisierter Rechtspraxis« gegeben, die Lage nicht besser beschreibt. Im Fokus steht die Frage, inwieweit sich die Strafverfolgung männlicher Homosexualität nach den §§ 175 und 175a veränderte und im Kontext der Debatten um eine Reform des Sexualstrafrechts, zu der es dann 1969 kam, »liberalisierte«.10 Vorgestellt werden dazu neuere Forschungsergebnisse, die im Rahmen einer Studie zu den Lebensumständen Homo-, Trans- und Intersexueller in Frankfurt am Main (1933–1994) gewonnen wurden.11 Beleuchtet wird die erste große Prozesswelle von 1950/51, die in der Forschung als »Wiederbeginn« der Homosexuellenverfolgung gilt.12 Untersucht werden das Wechselspiel zwischen Politik, Justiz, Presse und der entstehenden Homophilenbewegung sowie die Effekte für die weitere Strafverfolgung in den 1950er- und 1960er-Jahren. Im Fokus stehen dabei der Umgang mit der »einfachen« Homosexualität, also mit Sexualkontakten erwachsener Männer, sowie die Frage, in welchem Maße bei der Verfolgungspraxis und Urteilsfindung Liberalisierungstendenzen zutage traten, die die weitgehende Entkriminalisierung im Jahr 1969 ankündigten.
Die Untersuchung stützt sich zum Teil auf statistische Daten zu Urteilssammlungen, die Matthias Gemählich 2022 im »Jahrbuch Sexualitäten« vorgestellt und mir dankenswerterweise zur vertiefenden Auswertung überlassen hat.13 Die im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden überlieferten Sammlungen enthalten 1.526 Urteile nach den §§ 175 und 175a, die Frankfurter Gerichte in den Jahren 1946 bis 1965 fällten – ein nach bisheriger Kenntnis außergewöhnlicher Quellenbestand, der für diesen Zeitraum das Gros der Strafverfolgung Homosexueller in der Mainmetropole dokumentiert. Für den vorliegenden Beitrag wurden die Urteile im Hinblick auf die verfolgten Straftatbestände und das Strafmaß ausgewertet. Überdies wurden 60 Urteile aus dem Jahr 1959 einer vertiefenden Analyse unterzogen – mit teilweise überraschenden Befunden: Zum einen ging die Zahl der Strafverfahren wegen »einfacher« Homosexualität nach der ersten Verfolgungswelle von 1950/51 deutlich zurück, nachdem es der Homophilenbewegung im Verbund mit einflussreichen Zeitungen gelungen war, die Prozesse zu skandalisieren. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre kam es dann wieder zu einem Anstieg der Strafverfahren. Diese konzentrierten sich nun aber auf Sexualkontakte zu Jugendlichen und Prostituierten sowie auf solche, die an öffentlichen Orten vollzogen wurden. Was erwachsene Männer »in ihrem Schlafzimmer« machten, war nur selten Gegenstand der Verfahren, und wenn solche Fälle doch vor Gericht landeten, kam es häufig zu Einstellungen, Freisprüchen oder zur Verhängung von Geld- statt Gefängnisstrafen.
1. Die Frankfurter Prozesse 1950/51
Die Frankfurter »Homosexuellenprozesse« der Jahre 1950 und 1951 gelten als eine Zäsur. In der Regel betrachtet man sie als eine »Aktion«, die sich explizit gegen homosexuelle Männer gerichtet und eine neue Welle der Strafverfolgung eingeleitet habe.14 Tatsächlich waren sie vor allem für die Debatte um eine Reform des § 175 von Bedeutung: In der Öffentlichkeit erregte die Verfolgungswelle große Aufmerksamkeit. Besonders schwer wogen die Parallelen zur NS-Zeit, die in Teilen der Presse gezogen wurden und die Sybille Steinbachers Befund untermauern, dass dieser Vorwurf »schon Anfang fünfziger Jahre« zum Repertoire der Sexualreformer gehörte.15 Die zuständigen Staatsanwälte und Richter wurden zur Zielscheibe der öffentlichen Kritik, und das hessische Justizministerium hatte Mühe, die Wogen wieder zu glätten.
Am 16. Juli 1950 war in Frankfurt, vermutlich in der Taunusanlage, der 17-jährige Otto Blankenstein verhaftet worden, weil man ihn der männlichen Prostitution beschuldigte. Im Zuge der Ermittlungen traf Blankenstein, der in späteren Gutachten als ein »außerordentlich intelligenter Mensch« beschrieben wurde, den ein »starkes Geltungsstreben« und eine »Neigung zu Hochstapeleien« antreibe,16 auf den 38-jährigen Jugendstaatsanwalt Fritz Thiede, der von seinen Vorgesetzten für seine »besondere Kontaktfähigkeit«, sein »psychologisches Verständnis« und seine »Einfühlungsgabe« gelobt wurde.17 Thiede erkannte schnell, dass er mit dem »ungewöhnlich zugewandt, sehr willfährig, liebedienerisch, fast unterwürfig« agierenden Blankenstein einen Zeugen gefunden hatte, der seine Sexualpartner ohne Skrupel benannte.18 In den folgenden Wochen wurde Blankenstein, wie die »Frankfurter Rundschau« später berichtete, »zum wichtigsten und eifrigsten Helfer des Staatsanwaltes«, der die Ermittlungen bald selbst leitete und zu diesem Zweck zeitweilig sogar »ein Zimmer im Polizeipräsidium« bezogen haben soll – ein Umstand, der an eine groß angelegte Gestapo-Aktion gegen Frankfurter Homosexuelle in den Jahren 1938/39 erinnern musste.19 Auch andere Methoden wirkten wie aus der NS-Zeit: So sollen Polizeibeamte mit Blankenstein im Auto durch Frankfurt gefahren sein, und dieser »jagte nun in den Straßen nach Männern, die mit ihm und anderen angeblich in Verkehr gestanden hatten«.20 Insgesamt soll er 200 Sexualkontakte mit 70 Männern zugegeben haben.
Entsprechend entwickelte sich die Zahl der Ermittlungsverfahren. Hunderte Männer sollen von der Polizei zu Vernehmungen vorgeladen worden sein, wobei sie erkennungsdienstlich behandelt und ihre Fotos dem »Homosexuellenalbum« der Polizei hinzugefügt wurden.21 Ende September hatte die Staatsanwaltschaft bereits 150 Verfahren gegen 200 Beschuldigte eingeleitet. Am Amtsgericht wurde daraufhin die übliche Verteilung der Verfahren nach Buchstaben außer Kraft gesetzt. Stattdessen wurde ein Sonderdezernat eingerichtet, das alle anstehenden Verfahren nach den §§ 175 und 175a aburteilen sollte – eine weitere Parallele zum Vorgehen in der NS-Zeit. Als problematisch erwies sich schließlich auch, dass mit der Aburteilung der Angeklagten ausgerechnet Amtsgerichtsrat Kurt Ronimi betraut wurde, der 1938 bereits dem Homosexuellendezernat der Frankfurter Staatsanwaltschaft angehört und die damalige Verfolgungswelle »mit klarem Blick und großem Eifer« vorangetrieben hatte.22 Dies musste den Eindruck verstärken, dass es sich um eine von langer Hand geplante »Aktion« gegen Homosexuelle handele, bei der die im »Dritten Reich« erprobten Methoden nun auch in der jungen Bundesrepublik salonfähig gemacht werden sollten.
Ganz so einfach lagen die Dinge allerdings nicht, denn die neue Verfolgungswelle war eingebettet in einen größeren Kontext. Das Ziel lautete, Jugendliche vor sexuellen Übergriffen und »sittlicher Verwahrlosung« zu bewahren. Angetrieben von Sittlichkeitsvereinen wie dem katholischen Volkswartbund wurde der »Jugendschutz« Anfang der 1950er-Jahre zu einem Thema, das nicht nur von klerikal-konservativen, sondern auch von solchen Politikern aufgegriffen wurde, die sich als »fortschrittlich« verstanden23 – etwa vom hessischen Justizminister Georg-August Zinn (SPD). Angeregt durch einen Bericht des Oberstaatsanwalts von Münster hatte sich die hessische Justiz schon länger damit beschäftigt, wie der Jugendschutz verbessert werden könnte.24 Anfang Februar 1950 war die »Frage der Zunahme von Sittlichkeitsverbrechen gegenüber Jugendlichen« bei einer Besprechung der hessischen Staatsanwälte erörtert worden. In den folgenden Wochen wurden Erhebungen angestellt, die einen kontinuierlichen Anstieg entsprechender Strafverfahren seit 1946 zutage förderten. Dieses aufgrund der Nachkriegswirren erwartbare, hinsichtlich der tatsächlichen Zahl der Übergriffe aber wenig aussagekräftige Ergebnis wurde schließlich zur Grundlage politischer Maßnahmen gemacht. Nicht ohne auch die Presse zu informieren, gab Justizminister Zinn einen Erlass zu »Sittlichkeitsverbrechen an Jugendlichen« heraus. Darin hieß es, diese seien in »erschreckendem Umfang« angestiegen. Die Justiz habe daher »die Aufgabe, mit allen ihr zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln dieser die Jugend aufs Schwerste gefährdende[n] Kriminalität entgegenzutreten«. Dabei sei »auf strenge und abschreckende Strafen hinzuwirken«.25
Auf Fritz Thiede, der sein Amt als Frankfurter Jugendstaatsanwalt erst im Februar 1950 angetreten hatte, musste dieser Erlass wie ein Appell wirken, sich beruflich zu beweisen. Das »Dirnenunwesen«, zu dessen Bekämpfung bereits »alles Erdenkliche unternommen« worden war, beschäftigte die Frankfurter Justiz schon seit dem Frühjahr.26 Neben der weiblichen Prostitution in der Bahnhofsgegend geriet der homosexuelle Strich an der Taunusanlage ins Visier der Ermittler. Auch in der Frankfurter Öffentlichkeit wuchs die Sensibilität für das Thema: Neben Anzeigen gegen angebliche »Jugendverführer« kam es zu wiederholten Beschwerden über »gewisse Zustände in der Taunusanlage«,27 wo nach Angaben des Gerichtsmediziners Reinhard Redhardt in dieser Zeit der »Hochblüte des Strichjungenunwesens« oft »bis zu 40 Jungen nebeneinander standen oder, ihre Erlebnisse und Erfahrungen austauschend, auf Bänken herumlungerten«.28 Die Beschwerden führten dazu, dass die Polizei Mitte Juni zehn Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren verhaftete, die sie der Prostitution verdächtigte. Durch ihre Vernehmung wurde schließlich, wie Oberstaatsanwalt Hans-Krafft Kosterlitz Ende September berichtete, »ein größerer Kreis von weiteren ›Strichjungen‹ und Homosexuellen, die mit diesen ›Strichjungen‹ gleichgeschlechtliche Beziehungen unterhalten haben, namhaft gemacht«. Dass das Verfahren dann »einen solchen Umfang« annahm, dass es »in Einzelverfahren und kleinere Gruppenverfahren aufgelöst werden mußte«, war aber im Wesentlichen der Verhaftung Otto Blankensteins geschuldet.29
Der ursprüngliche Anlass der Frankfurter Verfolgungen dürften also die durch Zinns Erlass ausgelösten Bemühungen um einen besseren »Jugendschutz« gewesen sein. Durch die Verhaftung Blankensteins und den Ehrgeiz Thiedes lief das Vorgehen gegen »Jugendverderber« und »Strichjungen« allerdings schnell aus dem Ruder und wuchs sich zu einer Verfolgungswelle aus, die von der Presse immer kritischer begleitet wurde. So wurde die Behauptung, die Staatsanwaltschaft sei »vor allem auf den Schutz der heranwachsenden Jugend vor Verführung bedacht«, zunehmend skeptisch betrachtet.30 Zu dem Misstrauen trug bei, dass die ersten Prozesse, die im Oktober 1950 vor Ronimis Sonderkammer stattfanden, nicht dazu geeignet waren, das Bild einer ausschließlich auf Prostituierte und »Jugendverderber« gerichteten Strafverfolgung zu untermauern. Zwar wurden die »Strichjungen« mitunter zu härteren Strafen verurteilt als ihre Freier, doch auch diese erhielten meist mehrmonatige Gefängnisstrafen. Für Unruhe sorgte überdies, dass auch Männer angeklagt wurden, die bereits in der NS-Zeit wegen homosexueller Handlungen verurteilt worden waren. Ob tatsächlich »dieselben Angeklagten vor ihrem ehemaligen Staatsanwalt« standen, wie der »Spiegel« im November behauptete, ist zwar unklar.31 Doch schon der Umstand, dass in einem Prozess ein Mann vor Gericht stand, der nach zwei Verurteilungen im »Dritten Reich« auf »dreiundeinhalb Jahre« in »ein Konzentrationslager verbracht worden war«, musste für Irritationen sorgen. Auch in seinem Fall ließ Ronimi keine Milde walten, vielmehr verurteilte er den Mann zu fünfzehn Monaten Gefängnis. Der 19-jährige Mitangeklagte, offenbar ein Prostituierter, der sich »arbeitslos in der Gegend der Taunusanlagen« aufgehalten hatte, erhielt eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten.32
Schon die ersten Prozesse wurden von der »Frankfurter Rundschau« und der »Frankfurter Neuen Presse« sehr kritisch begleitet. So äußerte sich Rudolf Eims, ein Redakteur der »Frankfurter Rundschau«, der in der NS-Zeit als Sozialdemokrat selbst in einem KZ inhaftiert gewesen war, zum § 175 höchst skeptisch.33 Der Rechtsanwalt Alf Block, der in den Prozessen verschiedene Angeklagte vertrat, nahm dies auf. In einem Brief an Eims begrüßte er die »Tendenz Ihrer Berichterstattung« und lieferte weitere Argumente: So sei der Paragraph »nicht mehr mit dem Bonner Grundgesetz zu vereinbaren«. Außerdem habe es in Zusammenhang mit den Verfahren »bereits 4 Selbstmorde« gegeben.34 In den folgenden Wochen betrieben Block und andere Rechtsanwälte regelrechte Lobbyarbeit. Dabei kooperierten sie mit der 1949 gegründeten Frankfurter Homosexuellengruppe »Verein für humanitäre Lebensgestaltung« (VhL), deren Ehrenpräsident Hermann Weber die Presse seinerseits in diversen Briefen zu instruieren versuchte. Gegenüber der »Frankfurter Neuen Presse« monierte er etwa, diese habe anfangs nicht klar zwischen »Verbrechern« und Homosexuellen unterschieden. Daraufhin habe ihm die Zeitung sehr höflich geantwortet »und nun eine verhältnismäßig anständige Linie« eingehalten. Tatsächlich drehte sich der Wind recht schnell, sodass Weber nicht zu Unrecht konstatierte, dass »im gesamten keine schlechte Presse« für »uns ist«.35
Den endgültigen Stimmungsumschwung brachte dann der bereits zitierte »Spiegel«-Artikel vom 29. November. Auch hier hatten VhL und Rechtsanwälte gründliche Vorarbeit geleistet. So hatten sich Rechtsanwalt Block und die VhL-Männer Hermann Weber und Heinz Meininger am 15. November mit dem Frankfurter »Spiegel«-Redakteur Mario de Brentani zu einer dreistündigen Besprechung zusammengesetzt, wobei dieser offenbar schon signalisierte, dass er in seinem Artikel zu einem »heftigen Angriff auf die amtierenden Richter« ausholen werde.36 Tatsächlich fiel Brentanis Text äußerst kritisch aus. Einerseits warb er um Verständnis für »etwa eine Million eindeutig gleichgeschlechtlich veranlagter Männer«, die »der ständigen Jagd durch Polizei und Behörden« ausgesetzt seien und »von Verbrechern ausgeraubt und erpreßt« würden. Andererseits griff er Amtsgerichtsrat Ronimi und Oberstaatsanwalt Kosterlitz für ihr Vorgehen scharf an: »Vor Ronimis Sonderkammer stehen jetzt bisher unbescholtene Durchschnittsbürger, die mit hohen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen belegt werden, während die inhaftierten Strichjungen als glaubwürdige Zeugen das entsprechende Material liefern.«37
Kosterlitz und Ronimi wirkten in dem Artikel wie rückwärtsgewandte Figuren, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätten. Besonders schlecht kam Ronimi weg: Brentani, der als Schriftsteller selbst zu den Unterstützern der NS-Bewegung gehört hatte,38 scheute nicht davor zurück, Ronimi vorzuhalten, dass er schon »zu Großdeutschlands Zeiten als Frankfurter Staatsanwalt auch häufig Unzuchtsachen« bearbeitet habe. In seinem Artikel erschien die Prozessserie dadurch wie eine Fortsetzung der NS-Verfolgung, als Homosexuellen »der Weg ins Konzentrationslager (rosa Dreieck auf der Brust) und irgendwann einmal die Kastration sicher« gewesen sei. Wie sehr die Justiz in die Defensive geraten war, dokumentierte Ronimis Rechtfertigungsversuch, er wende sich »ja nur gegen die gewerbliche Unzucht, die Verführung Jugendlicher und gegen die Erpressung«. Letztlich stellte der Amtsrichter sogar den Tatbestand des § 175 infrage, indem er erklärte, »soweit es die öffentliche Ordnung nicht störe«, habe er »nichts dagegen, wenn sich gleichgesinnte Partner in ihren Wohnungen geschlechtlich verbinden«.39
Die kritische Presse wurde im hessischen Justizministerium aufmerksam verfolgt. Von der Staatsanwaltschaft forderte man immer wieder Berichte an. Wie beunruhigt man im Ministerium war, lässt sich anhand einer Akte zum Thema »Unzucht« gut nachvollziehen.40 Welche Konsequenzen man zog, ist hier allerdings nicht genau dokumentiert. So bleibt auch im Dunkeln, wie es zur Versetzung Ronimis an das Hanauer Landgericht kam. Dass dieser zum 1. Dezember 1950 zum Landgerichtsdirektor befördert wurde, ging zwar, wie Marcus Velke zu Recht bemerkt hat, auf eine Bewerbung vom Juni 1950 zurück.41 Die kurzfristige Entscheidung vom 17. November, die zunächst sogar vorsah, Ronimi schon rückwirkend zum 1. November nach Hanau zu versetzen, könnte aber auch mit der scharfen Kritik der Presse zu tun gehabt haben.42 Es erscheint jedenfalls wenig plausibel, dass man einen Richter, dem gerade erst die Sonderzuständigkeit für etwa 100 Strafverfahren übertragen worden war, so plötzlich an anderer Stelle benötigte. Möglicherweise sah das Ministerium in Ronimis Bewerbung eine günstige Gelegenheit, diesen – und mit ihm auch die hessische Justiz – aus der Schusslinie zu nehmen.43
Der weitere Verlauf der Ereignisse spricht ebenfalls dafür, dass dem Ministerium und der Generalstaatsanwaltschaft daran gelegen war, die Prozesswelle zügig und dennoch gesichtswahrend zu beenden. So wurde die »Sonderkammer« mit dem neuen Geschäftsverteilungsplan zum 31. Dezember 1950 aufgelöst, und die Angeklagten bekamen nun »wieder den ihnen nach dem Gesetz zustehenden Richter« zugewiesen. Doch die Presse kommentierte die Ereignisse weiterhin kritisch, wobei Rudolf Eimsʼ Beiträge in der »Frankfurter Rundschau« besonders scharf ausfielen. In einem Artikel unter dem Titel »Frankfurter Staatsanwaltschaft auf Menschenjagd« verwies er zum Beispiel auf die »Beunruhigung« angesehener Juristen, die sich »wieder an die Jahre des ›Dritten Reiches‹ erinnert« fühlten.44 Dass man in Justizkreisen tatsächlich beunruhigt war, dokumentiert eine Anfrage des Bundesjustizministers bei seinem hessischen Amtskollegen, was es mit den vielen »Presseäußerungen« zu den Prozessen auf sich habe.45 Im hessischen Justizministerium erhöhte man den Druck währenddessen weiter: Bei einer Besprechung mit dem hessischen Generalstaatsanwalt wurde am 19. Januar 1951 vereinbart, »die noch anhängigen Verfahren mit möglichster Beschleunigung zum Abschluss zu bringen« – kurz darauf erging eine entsprechende Anweisung an Kosterlitz.46 Überdies wurde für den 29. Januar eine Erklärung der Staatsanwaltschaft angekündigt, die dann allerdings wegen »technischer Probleme« verschoben und wohl nie nachgeholt wurde.47
Die Botschaft der Landesregierung, das Thema möglichst schnell abräumen zu wollen, scheint bei der Frankfurter Justiz dennoch angekommen zu sein. Auch der Druck der Presse trug dazu bei, dass die Prozesse spätestens seit Februar 1951 durch einen anderen Geist geprägt waren.48 Dies zeigte sich nicht zuletzt beim Strafmaß: Hatten bei den 46 Urteilen, die die Sonderkammer zwischen Oktober und Dezember 1950 verhängte, noch Gefängnisstrafen zwischen drei und zwölf Monaten dominiert, so urteilten die Richter bei den folgenden Verfahren milder. 1951 kam es bei 105 Prozessen zu 29 Freisprüchen oder Verfahrenseinstellungen, und in 10 weiteren Fällen wurden Geldstrafen verhängt. Milde Urteile gab es vor allem bei den 58 Fällen, in denen es um »einfache« Homosexualität ging (vgl. Grafik unten, Kap. 4).49
Die meisten »gewöhnlichen« Homosexuellen, bei denen es sich oft um von »Strichjungen« belastete Freier handelte, kamen nun zwar relativ »glimpflich« davon, was man durchaus als eine Reaktion auf den in der Presse erhobenen Vorwurf verstehen konnte, »ehrsame Bürger« sollten nicht »mit dem Makel der Strafe behaftet« werden.50 Andererseits ist aber auch deutlich erkennbar, dass es kein »Frankfurter Modell« gab, das sich an dem Hamburger »Drei-Mark-Urteil« orientiert und die Strafwürdigkeit der Homosexualität grundsätzlich infrage gestellt hätte.51 Das im Juni 1951 vom Hamburger Landgericht gefällte Berufungsurteil hatte die »Problematik der Bestrafung aus § 175« thematisiert und den »Unrechtsgehalt« einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen für gering befunden, da »von einer erheblichen Rechtsgutverletzung, sei es in der öffentlichen, sei es in der privaten Sphäre, nicht gesprochen werden« könne.52 Demgegenüber stellten die Frankfurter Gerichte die Strafwürdigkeit der einvernehmlichen Homosexualität nicht infrage. Dennoch kann man die vielen Freisprüche und Geldstrafen als erste Anzeichen einer allmählichen Liberalisierung der Justizpraxis interpretieren: Auch wenn sie es in ihren Urteilen nicht offen thematisierten, zweifelten nun wohl einige Frankfurter Richter am Sinn der Rechtsnorm. Zu diesem Trend dürfte die kritische Berichterstattung maßgeblich beigetragen haben. Zu bedenken ist überdies, dass der § 175 schon lange umstritten war. 1929 hatte es bei einer Abstimmung im Reichstag sogar eine knappe Mehrheit dafür gegeben, die »einfache« Homosexualität in einem neuen Strafgesetzbuch, das man damals plante, zu entkriminalisieren. Und selbst zur NS-Zeit war »die Notwendigkeit der Strafverfolgung« Homosexueller nicht nur unter den Freunden und Angehörigen der Beschuldigten, sondern auch »in Juristenkreisen« in Zweifel gezogen worden, wie der zuständige Frankfurter Staatsanwalt 1939 beklagt hatte.53
2. Rückenwind für die Homophilenbewegung
Letztlich erwiesen sich die Frankfurter Prozesse für Polizei und Justiz als ein mediales Fiasko. Der Homophilenbewegung gaben sie dagegen ebenso Auftrieb wie den Debatten über § 175. Bundesweit wurde die Prozessserie – zumindest in denjenigen Kreisen, die sich als fortschrittlich verstanden – als ein Fanal wahrgenommen: nicht nur als »Wiederbeginn« der Homosexuellenverfolgung, sondern als Zeichen einer gesellschaftlichen Restauration, zu deren Symptomen auch die drohende Wiederbewaffnung und die mangelhafte Entnazifizierung von Justiz und Verwaltung gezählt wurden. Für eine differenzierte Perspektive war dabei nur wenig Platz. Dass die Prozessserie keine gezielte »Aktion gegen Homosexuelle« war, sondern die eher zufällige Folge eines verstärkten Vorgehens gegen Prostituierte und »Jugendverderber«, wurde der Frankfurter Justiz nicht abgenommen. Eher waren es Übertreibungen, die die Reaktionen prägten. In der Homosexuellenzeitschrift »Die Freundschaft« wurde die Prozessserie zum Beispiel mit der mittelalterlichen Hexenverfolgung gleichgesetzt und mit dem Bild einer an Särgen trauernden Mutter illustriert.
Illustration zu den Frankfurter Prozessen
(aus: Die Freundschaft. Monatsschrift für Sexualprobleme 2 [1951] H. 3, S. 17)
Eine ähnliche Botschaft transportierte ein Theaterstück von Rolf Italiaander, das am 2. April 1952 Premiere hatte – allerdings nicht in Frankfurt, sondern in den Hamburger Kammerspielen. Das Stück unter dem programmatischen Titel »Das Recht auf sich selbst« sorgte auch deswegen für Aufmerksamkeit, weil es nach der NS-Zeit das erste Mal war, dass Homosexualität auf einer deutschen Bühne thematisiert wurde. Auch Italiaander versuchte, Mitleid mit den Verfolgten zu wecken: indem er vom Schicksal einer Mutter erzählte, deren homosexueller Sohn durch die Frankfurter Prozesse »in den Tod getrieben« wurde. Dass diese tragische Geschichte auf einem realen Fall beruhte, verlieh ihr besondere Glaubwürdigkeit – auch wenn sie wenig repräsentativ war für die Reaktionen auf die Verfolgungswelle.54
Die öffentliche Skandalisierung der Prozesse führte schließlich dazu, dass die Frage nach der Zukunft des § 175 an politischer Bedeutung gewann. Die Homophilenbewegung, insbesondere der Frankfurter VhL, bemühte sich verstärkt darum, Politik und Gesellschaft für eine Strafrechtsreform zu gewinnen. Bereits im Herbst 1950 hatte sich der Frankfurter Sexualforscher Hans Giese mit einer Eingabe an die »gesetzgebenden Organe in Bonn« gewandt, die auch im hessischen Justizministerium zur Kenntnis genommen wurde.55 Im Sommer 1951 legte die Frankfurter Gesellschaft für Bürgerrechte nach, in der sich die Homosexuellen-Anwälte Erich Schmidt-Leichner, Horst Pommerening und Alf Block engagierten. In einem Kurzmemorandum, das man dem hessischen Ministerpräsidenten überreichte, plädierte die Gruppe für eine Reform des Paragraphen und ein Ende einschlägiger Verfahren.56
Weiteren Druck versuchte der VhL aufzubauen, indem er im Sommer 1952 den zweiten Kongress der Dachorganisation »International Committee for Sexual Equality« nach Frankfurt holte.57 Das Veranstaltungsplakat präsentierte einen halbnackten Mann in Ketten, eine Anspielung auf den § 175 und die Frankfurter Prozessserie. In einer Entschließung forderte der Kongress Bundestag und Bundesregierung zur Abschaffung des Paragraphen auf.58 Im Herbst 1952 engagierte sich der VhL in einem Schreiben an die Justizminister von Bund und Ländern dann nochmals dafür, »Strafvollstreckungen aus § 175 StGB zumindest bis zur endgültigen Entscheidung durch das höchste deutsche Gericht« auszusetzen.59
(aus: Schwules Museum Berlin, Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Eine Ausstellung des Schwulen Museums und der Akademie der Künste, Berlin 1997, S. 194; Plakat aus dem Besitz von Karen-Christine Friele)
All diese Aktivitäten blieben nicht ohne Wirkung. Ein deutliches Zeichen dafür, welche Relevanz dem Thema inzwischen beigemessen wurde, war ein Beschluss des Deutschen Juristentages vom September 1951: Mit knapper Mehrheit empfahl dieser, die einvernehmliche Homosexualität »straflos zu stellen«.60 Dass es gerade die Frankfurter Prozesse waren, die Bewegung in die Debatte brachten, zeigte auch die Reaktion des hessischen Justizministers und Ministerpräsidenten Zinn auf das Kurzmemorandum der Gesellschaft für Bürgerrechte. Als ihm dies im Juli 1951 überreicht wurde, sagte Zinn nicht nur eine »wohlwollende Prüfung« zu. Er versprach angeblich auch, »die Staatsanwaltschaften anzuweisen, in allen derartigen Fällen vorsichtiger vorzugehen«.61 Der VhL-Aktivist Weber meinte gar, Zinn habe signalisiert, »daß bis zur endgültigen Entscheidung durch den Bundestag keine Strafverfolgung wegen § 175 mehr vorgenommen werden soll, sofern d. Handlung von Erwachsenen ohne öffentliches Ärgernis zu erregen vorgenommen wurde«.62 Wie sich Zinn exakt äußerte, ist allerdings ebenso unklar wie die Frage, ob er eine entsprechende Anweisung erteilte. Der überlieferte Schriftverkehr des hessischen Justizministeriums deutet eher darauf hin, dass man sich dort weiterhin schwertat, eine klare Linie zu finden. So wurden in einer Stellungnahme zu den Frankfurter Prozessen, die das Bundesjustizministerium angefordert hatte, verschiedene Einschätzungen der an den Prozessen beteiligten Staatsanwälte und Richter übermittelt, in denen die Strafwürdigkeit homosexueller Prostitution und sexueller Kontakte zu Minderjährigen betont wurde. Zur Strafbarkeit der »einfachen« Homosexualität unter Erwachsenen positionierte sich das Ministerium dagegen nicht.63
Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) lehnte eine Entkriminalisierung klar ab, wie er in zwei Stellungnahmen zu den vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Beschwerden gegen den § 175 darlegte.64 Mit der Gründung der Großen Strafrechtskommission stieß sein Nachfolger Fritz Neumayer (FDP) 1954 aber eine Reformdebatte an, die in eine ganz andere Richtung lief und bei der die §§ 175 und 175a »zu den meistdiskutierten Straftatbeständen« gehörten. Zuvor waren bereits juristische und medizinische Gutachten in Auftrag gegeben worden. Diese fielen zwar sehr unterschiedlich aus, doch von den »meisten Gutachtern« wurde dem § 175 »seine Legitimation abgesprochen«.65
Vor diesem Hintergrund erschien das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die NS-Fassung der §§ 175 und 175a im Mai 1957 für grundgesetzkonform erklärte, einigen wie ein Rückschlag. Nicht nur in der Homophilenbewegung sah man das so. Auch der »Spiegel«, der den § 175 schon lange als »eines der reformbedürftigsten Strafgesetze« betrachtete, wertete das Urteil als ein Problem für die Strafrechtskommission. Denn diese sei sich schon »weitgehend einig« gewesen, »die ›einfache‹ Unzucht nach Paragraph 175« künftig »nicht mehr unter Strafe« zu stellen.66 Das Bundesverfassungsgericht sah durch die Kriminalisierung der männlichen Homosexualität indes weder die von Artikel 3 des Grundgesetzes garantierte Gleichheit der Geschlechter verletzt noch das in Artikel 2 verbriefte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Da Letzteres unter dem Vorbehalt des Sittengesetzes stehe, aber »auch heute noch das sittliche Empfinden die Homosexualität verurteilt«, liege kein Verstoß gegen das Grundgesetz vor. Wenig öffentliche Beachtung fand der Hinweis des Gerichts, dass »eine Änderung der sittlichen Anschauungen möglich« sei. Bislang hätten entsprechende »Äußerungen, vorwiegend aus interessierten Kreisen«, eine »Änderung des allgemeinen sittlichen Urteils« aber noch »nicht durchsetzen können«.67 Indem sie die »Wandelbarkeit« der Einstellungen zur Homosexualität ins »Zentrum des Urteilsspruchs« stellten, bereiteten die Richter die spätere Entkriminalisierung mit vor.68
Tatsächlich sah die Große Strafrechtskommission in dem Urteil kein Hindernis, als sie sich 1958 mit einer knappen Mehrheit von 9 zu 8 Stimmen für die Straflosigkeit der »einfachen« Homosexualität aussprach. Die Bundesregierung folgte dem allerdings nicht: In den 1960 und 1962 vorgelegten Entwürfen für eine Strafrechtsreform hielt sie an der Kriminalisierung homosexueller Kontakte unter Erwachsenen fest. Letztlich stand sie damit aber auf verlorenem Posten. Denn die Entwürfe mobilisierten vor allem die Anhänger eines liberalen Sexualstrafrechts – so zum Beispiel Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der sich schon früh für eine Abschaffung des § 175 eingesetzt hatte. Gemeinsam mit renommierten Wissenschaftlern veröffentlichte er 1963 den breit rezipierten Band »Sexualität und Verbrechen«, der den Entwurf von 1962 zerpflückte und die Reformbestrebungen weiter forcierte. Sechs Jahre später kam es schließlich zu einer ersten Novellierung des Sexualstrafrechts, und die Strafbarkeit der »einfachen« Homosexualität entfiel.
3. Die allmähliche Liberalisierung der Strafverfolgung
in Frankfurt
Welche Effekte hatten die Debatten über die Legitimität des § 175 für die Strafverfolgung in Frankfurt am Main? Betrachtet man die Anzahl der Verurteilungen nach den §§ 175 und 175a, dann zeigt sich zunächst, dass die Verfolgung nach einem kurzen Absinken der Zahlen 1952/53 bis 1958 wieder deutlich anstieg, bevor sie in den 1960er-Jahren langsam zurückging. Während es 1953 nur zu 62 Verurteilungen kam, wurde 1958 mit 183 Urteilen der Höhepunkt der Verfolgung erreicht, und 1962 bis 1964 pendelte sich die Zahl dann um die 80 ein.69
Diese Zahlen vermitteln zunächst den Eindruck, als habe sich die Strafverfolgung in den 1950er-Jahren massiv verschärft – ein Ergebnis, zu dem auch Matthias Gemählich kam, der resümierte, die Justiz habe sich in Frankfurt »ganz in den Bahnen der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung« bewegt.70 Betrachtet man die verfolgten Straftatbestände, das Strafmaß und die Konstellationen, die zu Verurteilungen führten, im Einzelnen, so ergibt sich ein differenzierteres Bild. Interessant ist hier zunächst die geringere Verfolgungstätigkeit in den Jahren 1952/53, die durchaus eine Folge der Reformdebatten von 1951/52 gewesen sein könnte. Denn der deutliche Rückgang der Strafverfolgung zeigte sich vor allem bei der »einfachen« Homosexualität, also bei einvernehmlichen Sexualkontakten erwachsener Männer, deren Entkriminalisierung diskutiert wurde: Anders als die bundesdeutsche Gesamtzahl71 sank die Zahl der Strafverfahren nach § 175 in Frankfurt am Main in diesen Jahren deutlich. Demgegenüber waren bei der Verfolgung der »qualifizierten« Delikte, also bei der »Verführung« Jugendlicher und Heranwachsender unter 21 Jahren (§ 175a, Ziffer 3) und bei der männlichen Prostitution (§ 175a, Ziffer 4), deren Entkriminalisierung auch Reformer nicht ernsthaft in Betracht zogen, keine großen Schwankungen der Strafverfolgung zu verzeichnen. Gleiches gilt für homosexuelle Handlungen, die nach den §§ 174 (Kontakte zu Schutzbefohlenen) und 176 (»unzüchtige Handlungen« mit Personen unter 14 Jahren) verfolgt wurden.
Umgekehrt ging der neuerliche Anstieg der Verfolgung seit 1954 im Wesentlichen auf eine Zunahme von Verfahren wegen »einfacher« Homosexualität zurück. Auch dies scheint zunächst für eine sich wieder verschärfende Verfolgungspolitik zu sprechen. Ohne Frage dürften sich hier auch »restaurative« Tendenzen niedergeschlagen haben, die mit dem 1953 in Kraft getretenen Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1957 verbunden waren. So ist auffällig, dass die Frankfurter Polizei ausgerechnet im Sommer 1957 verstärkt gegen öffentliche Treffpunkte Homosexueller in Toiletten und Parkanlagen vorging. Hierfür bildete sie, wie es in einem Urteil hieß, wieder »Sonderkommandos« – eine Praxis, die sich zumindest terminologisch an die Gestapo-Aktivitäten der NS-Zeit anlehnte.72 Dieses Vorgehen schlug sich 1957/58 in einem deutlichen Anstieg von Strafverfahren nach § 183 (Erregung öffentlichen Ärgernisses) nieder. Auch das zeigt, worum es bei der Verfolgung der »einfachen« Homosexualität in der Regel ging: Es waren Kontakte zu Prostituierten und solche, die in der Öffentlichkeit angebahnt oder vollzogen wurden, die die Polizei nun wieder stärker verfolgte, während homosexuelle Kontakte unter Erwachsenen, die sich in der Privatsphäre der eigenen vier Wände abspielten, selten zur Anzeige kamen. Dies macht die Auswertung von 60 Verurteilungen wegen »einfacher« Homosexualität im Jahr 1959 deutlich, die gleichzeitig auch die Faktoren vor Augen führt, die das Risiko einer Strafverfolgung erhöhten. Einbezogen wurden zu diesem Zweck die Orte, an denen es zu sexuellen Handlungen kam, die Sexualpartner der Angeklagten und – soweit dies anhand der überlieferten Urteile nachvollziehbar ist – der Auslöser der Strafverfolgung.73
Betrachten wir zunächst die Orte der sexuellen Handlungen. Hier zeigt sich, dass es in rund der Hälfte der Fälle (32 von 60) öffentlich zugängliche Orte wie Bedürfnisanstalten, Parkanlagen oder Kinos waren, an denen die angeklagten Handlungen stattfanden oder zumindest angebahnt wurden. Demgegenüber waren sexuelle Kontakte in der eigenen Wohnung (12 Fälle), in Hotels (5 Fälle) oder an anderen abgeschlossenen Orten (4 Fälle) seltener Gegenstand der Strafverfolgung. Da die öffentlichen Treffpunkte der Polizei bekannt waren und regelmäßig kontrolliert wurden, gerieten homosexuelle Männer hier immer wieder ins Visier. Ein typisches Beispiel ist der Fall eines 37-jährigen Drogisten, der im Februar 1959 in der Kaiserstraße einen 17-jährigen Prostituierten kennenlernte, mit dem er dann in der Gallusanlage Sex hatte, wo die beiden »durch eine Polizeistreife gestellt« wurden.74 In anderen Fällen wurden Homosexuelle im Biegwald in ihrem PKW »von einer zufällig vorbeikommenden Polizeistreife überrascht«, im September 1958 etwa ein 30-jähriger Lagerarbeiter und ein 25-jähriger Kaufmann.75 Oft war bei Verhaftungen im öffentlichen Raum auch Alkohol im Spiel, so zum Beispiel, als ein 29-jähriger Schriftsetzer sich im Sommer 1958 mit einem Blutalkoholgehalt von 2,2 Promille in die Scala-Lichtspiele begab, wo er sich mit einem 21-jährigen Gärtner vergnügte. Ein hinter den beiden sitzender Polizeibeamter »beobachtete dieses schamlose Treiben, nahm daran auch Anstoß und veranlasste die Sistierung der beiden«.76
Ein weiterer Risikofaktor für eine Verhaftung und Strafverfolgung wegen »einfacher« Homosexualität lag in der Auswahl des Sexualpartners. So ist auffällig, dass es sich in der Hälfte der untersuchten Fälle um Sexualkontakte zu Minderjährigen (18 Fälle) und/oder zu Prostituierten (12 Fälle) handelte. Sechsmal hatten die Angeklagten Kontakt zu Männern gesucht, die sich dadurch belästigt fühlten; in drei Fällen hatten sie sich mit Erpressern und/oder Dieben eingelassen. Nur in einem Drittel der Fälle handelte es sich bei den Sexualpartnern um »gewöhnliche« Homosexuelle, die nicht minderjährig waren. Dass sexuell Belästigte häufig Anzeige erstatteten, liegt auf der Hand. Bei Kontakten mit Erpressern und/oder Dieben kam es dagegen oft zu Selbstanzeigen der betroffenen Männer. Ein hohes Risiko bargen überdies Kontakte zu Prostituierten und Minderjährigen, die die Angeklagten auch nach Hause oder in Hotels mitnahmen. Zum Beispiel hatte ein 50-jähriger Disponent im August 1958 im Felsenkeller einen 19-jährigen »Strichjungen« kennengelernt, mit dem er sich in den folgenden Monaten in diversen Hotels traf.77 Wenn Prostituierte in die Fänge der Polizei gerieten, erwiesen sie sich gegenüber ihren Kontaktpersonen oft als wenig loyal. Einige zeigten sich sogar sehr auskunftsfreudig, was dann viele Strafverfahren nach sich ziehen konnte. Doch auch minderjährige Homo- bzw. Bisexuelle, die sich auf einvernehmliche Sexualkontakte mit älteren Männern eingelassen hatten, waren ein Risikofaktor: Anders als Erwachsene wurden sie bei Polizeikontrollen in Homosexuellenlokalen häufig verhaftet und/oder vernommen. Dieser Konfrontation mit Polizei und Justiz waren sie jedoch nicht immer gewachsen, sodass sie ihre Sexualpartner oft belasteten. Überdies löste die gesellschaftliche Stigmatisierung der Homosexualität bei einigen Selbstzweifel aus, die sie mit einem Geständnis zu beseitigen hofften – so offenbar bei einem 18-Jährigen, der 1958 im Homosexuellenlokal Turmklause einen 23-jährigen Kellner kennengelernt und später nach Hause begleitet hatte. Nach seiner Verhaftung bekundete er gegenüber der Polizei, er wolle »von dem gleichgeschlechtlichen Tun loskommen«, und gab »in einem umfassenden Geständnis seine sämtlichen bisherigen Partner« preis.78
In aller Regel waren es also Sexualkontakte mit Prostituierten, Minderjährigen oder solche an öffentlich zugänglichen Orten, die eine Strafverfolgung nach sich zogen, während homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen, die in der eigenen Wohnung stattfanden, nur in Ausnahmefällen ins Visier der Polizeibehörden gerieten. Dass diese Entwicklung das Ergebnis bestimmter Vorgaben des Justizministeriums oder der Staatsanwaltschaft war, ist bislang nicht nachweisbar. Vermutlich war sie eher das Resultat der politischen und wissenschaftlichen Debatten, die die Legitimität des § 175 zunehmend infrage stellten. Jedenfalls spiegelte die Frankfurter Praxis ziemlich exakt den unter Reformern herrschenden Konsens, die »einfache« Homosexualität Erwachsener zu entkriminalisieren, »qualifizierte« Fälle und solche, die öffentlich Anstoß erregten, aber weiterhin für strafwürdig zu erachten. Diese Linie vertrat auch Fritz Bauer: In seinem Beitrag für den Band »Sexualität und Verbrechen« betonte er, dass die Strafbarkeit der »qualifizierten Fälle der Homosexualität«, so insbesondere der Missbrauch junger Menschen, »grundsätzlich außer Streit« stehe, wobei er nicht unerwähnt ließ, dass dies auch für die »entsprechenden Erscheinungsformen heterosexuellen Verhaltens« gelte.79 Einige seiner Mitautoren hielten sogar eine partielle »Verschärfung« der bestehenden Regelungen für akzeptabel – so der Hamburger Rechtsanwalt Heinrich Ackermann, der 1951 den Beschluss des Juristentages und später auch entsprechende Beschlüsse der Rechtsanwaltskammer initiiert hatte, Homosexualität unter Erwachsenen straflos zu stellen. Ackermann befürwortete neben einer Abschaffung des § 175 zugleich neue »strenge Gesetze«, die den »Schutz der Jugend und der Öffentlichkeit zum Ziele« haben.80 Dass die Frankfurter Polizeibehörden ihre Aktivitäten in den 1950er- und 1960er-Jahren auf Prostitution, »Jugendverführung« und öffentliche Treffpunkte konzentrierten, widersprach einer reformorientierten Linie also nicht.
4. Die Urteilspraxis der Frankfurter Gerichte
Dass die Frankfurter Verfolgungspraxis zunehmend von Liberalisierungstendenzen geprägt war, zeigen schließlich auch die überlieferten Urteile der Gerichte. So kam es zwischen 1950 und 1965 in 19,5 Prozent der Prozesse nach den §§ 175 und 175a zu Freisprüchen oder Verfahrenseinstellungen – das war deutlich häufiger als im bundesdeutschen Vergleich (11 Prozent).81 Und in den Fällen, in denen es zu einer Verurteilung kam, fielen die Strafen immer milder aus. Vor allem »einfache« homosexuelle Handlungen (inklusive der Erregung öffentlichen Ärgernisses nach § 183) hielt ein Teil der Richter nur noch für bedingt strafwürdig. Jedenfalls wurden in solchen Fällen zunehmend Geld- anstelle von Gefängnisstrafen verhängt: zwischen 1952 und 1957 bei 32 Prozent, von 1958 bis 1963 dann sogar bei 45 Prozent der Verurteilungen. Diese Urteilspraxis entsprach im Großen und Ganzen dem bundesdeutschen Durchschnitt: So lag der Anteil der Geldstrafen mit 31 Prozent (1952–1957) bzw. 41 Prozent (1958–1963) auch im Rest der Republik recht hoch. Wurden Haftstrafen verhängt, so geschah dies in Frankfurt fast nur bei Vorbestraften, und auch diese Strafen fielen teilweise recht milde aus. Bei knapp einem Viertel der Verurteilungen wegen »einfacher« Homosexualität betrugen sie maximal drei Monate. Bundesweit lag der Anteil geringer Gefängnisstrafen mit 37 Prozent sogar noch höher. Zudem setzten die Richter diese Strafen oft zur Bewährung aus, im bundesdeutschen Durchschnitt in 58 Prozent der Fälle.82
Dass die Richter mitunter gezielt darauf hinwirkten, die Prozesse mit Freisprüchen zu beenden, zeigte sich vor allem bei der Frage, welche Glaubwürdigkeit sie den Aussagen der Zeugen beimaßen. So ist in einigen Verfahren ein deutliches Bemühen erkennbar, belastende Aussagen als widersprüchlich und für eine Verurteilung unzureichend abzutun. Besonders die Aussagen von jugendlichen Prostituierten wurden in Zweifel gezogen, oftmals nicht ohne den fragwürdigen Charakter dieser Zeugen zu betonen. Dies war auch im Prozess gegen den Philosophiestudenten und späteren Theaterintendanten Ivan Nagel so, den zwei jugendliche »Herumtreiber« und Gelegenheitsprostituierte belastet hatten. Nagel hatte beide, nachdem er sie in Homosexuellenlokalen kennengelernt hatte, mit zu sich nach Hause genommen – deren Behauptung, es sei dort zu sexuellen Handlungen gekommen, bestritt er allerdings.83 Das Schöffengericht attestierte dem einen Belastungszeugen schließlich, er sei »zur Tatzeit erheblich verwahrlost« gewesen, ein Gutachter schätzte ihn überdies als »nicht verläßlich« ein, weil er in einem anderen Verfahren eine Aussage widerrufen hatte. Und auch die Glaubwürdigkeit des zweiten Zeugen, der für den angeblichen Sexualkontakt mit Nagel sogar schon verurteilt worden war, stellte das Gericht infrage: »Zwar ist K. zu Jugendstrafe verurteilt worden auch wegen der von ihm angegebenen Onanie mit dem Angeklagten. Doch lassen sich gewisse Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellung nicht ausräumen.« Da es keine anderen Zeugen gebe, fehle »der Nachweis einer Straftat«, weshalb ein Freispruch unausweichlich sei.84 Nagel schilderte den Verlauf des Prozesses später so, dass es »ein großes Aufatmen im Gericht« gegeben habe, als der erste Zeuge vom Gutachter für unzuverlässig erklärt wurde, »sogar der Staatsanwalt hat fast jubiliert«.85
Doch nicht nur die Glaubwürdigkeit von jungen männlichen Prostituierten wurde durch die Gerichte in Zweifel gezogen. Zu Freisprüchen kam es auch in einigen Fällen, in denen Polizisten als Zeugen auftraten – etwa in einem Fall, in dem ein Polizeimeister P. 1962 einen Mann auf einer öffentlichen Toilette bei sexuellen Handlungen beobachtet haben wollte. Das Gericht hielt es allerdings »nicht für ausgeschlossen«, dass P. »einer Täuschung zum Opfer gefallen« sei und »sich geirrt hat«. Begründet wurde dies auch damit, dass »der Zeuge seit Jahren amtlich dazu eingesetzt wird, das Treiben Homosexueller« zu bekämpfen. »Wenn er in der Erwartung die Bedürfnisanstalt« betrete, »es werde dort Unzucht« getrieben, könne daraus eine Wahrnehmung resultieren, die »nicht dem objektiven Geschehen« entspreche.86
Selbst wenn Geldstrafen verhängt wurden, ist oft erkennbar, dass die »einfache« Homosexualität von vielen Richtern nicht mehr für ein großes Vergehen gehalten wurde. So hieß es im Urteil gegen die bereits erwähnten zwei Männer, die im Biegwald in ihrem PKW von der Polizei überrascht worden waren, der »Unrechtsgehalt der Taten« sei »nicht erheblich«, weshalb anstelle von zehn Tagen Gefängnis auf Geldstrafe erkannt werden könne.87 Den Straftatbestand zogen die Frankfurter Richter offiziell allerdings nicht in Zweifel; vielmehr argumentierten die meisten, obgleich sie milde urteilten, durchaus affirmativ. So erklärte das Schöffengericht einen Angeklagten, den es zu 50 DM Geldstrafe verurteilte, zum eigentlichen Geschädigten: Zum einen sei er »das Opfer eines Strichjungen geworden«, zum anderen habe er »selbst schwer unter seiner widernatürlichen Veranlagung zu leiden«.88
Dass die Homosexualität eine Verirrung sei, die bestenfalls Mitleid verdiene, stand für viele Richter fest. Einige betonten in ihren Urteilen auch, dass die »unglückliche« Veranlagung überwunden werden müsse. Diese Perspektive kam nicht zuletzt bei jenen Angeklagten zum Tragen, die bereits einschlägig vorbestraft waren. In solchen Fällen zeigten die Richter grundsätzlich weniger Milde – meist verhängten sie Gefängnisstrafen, die teilweise zur Bewährung ausgesetzt wurden. Zur Begründung wurde oft darauf verwiesen, dass sich die Angeklagten die bisherigen Strafen nicht zu Herzen genommen hätten, so etwa bei einem Mann, der bereits vier Mal wegen homosexueller Handlungen verurteilt worden war, darunter zwei Mal zu Gefängnisstrafen. Das Gericht sah »in Anbetracht der vielfachen Vorstrafen eine Freiheitsstrafe am Platze, um in ihm die notwendigen Hemmungen gegen einen erneuten Rückfall zu erzeugen«. Zwar gestand das Gericht dem Mann zu, dass er »als echter Homosexueller aus erblicher Anlage anzusehen« sei. Gleichwohl erwartete man von ihm, »seiner perversen Triebrichtung Herr zu werden«. Dass er sich bereits seit drei Jahren in psychotherapeutischer Behandlung befand, also »aus eigener Initiative« bemüht sei, »Mittel und Wege zur Beherrschung seines perversen Triebes zu finden«, wurde ihm zwar zugutegehalten. Da ein Sachverständiger zu dem Ergebnis gekommen war, dass ein »Erfolg nur auf lange Sicht zu erwarten und die Gefahr eines Rückfalls z.Zt. immer noch möglich« sei, verurteilte das Schöffengericht den Mann aber zu drei Monaten Gefängnis, die zur Bewährung ausgesetzt wurden.89
Die Perspektive von Ivan Nagel, dass in den 1950er- und 1960er-Jahren in Frankfurt »auch bei den Gerichten eine freiere Atmosphäre« geherrscht habe, relativiert sich vor diesem Hintergrund.90 Selbst wenn die Gerichte in Fällen »einfacher« Homosexualität in der Tendenz immer milder urteilten, hatte die neue Liberalität doch ihre Grenzen. Diese waren überschritten, wenn schwule Männer rückfällig wurden und sich somit als »unverbesserliche« Homosexuelle erwiesen. Die in Politik und Gesellschaft vorherrschende Perspektive auf die Homosexualität als eine »Perversion«, die, wenn auch nicht unbedingt strafrechtlich, so doch fraglos medizinisch oder psychotherapeutisch zu bekämpfen sei, prägte das Klima bei den Frankfurter Verfolgungsbehörden. Insoweit entfaltete auch die vergleichsweise liberale Verfolgungspraxis eine normative Wirkung, die die Stigmatisierung Homosexueller perpetuierte – ein Umstand, den Theodor W. Adorno 1963 in seinem Aufsatz für den von Fritz Bauer herausgegebenen Band »Sexualität und Verbrechen« kritisierte: Das Argument, »die Homosexuellen blieben, solange sie nicht Minderjährige oder Abhängige mißbrauchten, in praxi doch weit unbehelligter als früher«, konterte Adorno mit dem Hinweis, es sei »widersinnig, daß ein Gesetz darum sich rechtfertige, weil es nicht, oder nur in geringem Maß, angewendet werde«. Dieser Zustand untergrabe nicht nur die »Rechtssicherheit«. Die »Atmosphäre fortdauernder legaler Diskriminierung« unterwerfe Homosexuelle auch »unablässigem Angstdruck«, was eine »Zerstörung geistiger Kräfte« zufolge habe und dazu führe, dass die Betroffenen »charakterologisch« deformiert würden.91
Die geschilderte Situation in Frankfurt am Main macht zweierlei deutlich: Zum einen erwies sich die Frage des Umgangs mit Homosexualität und mit dem § 175 schon zu Beginn der 1950er-Jahre als ein Kampffeld, auf dem die Homophilenbewegung mediale Unterstützung mobilisieren und kleinere Erfolge verbuchen konnte. Auch wenn es noch fast 20 Jahre dauerte, bis der Paragraph schließlich reformiert wurde (und gut 40 Jahre bis zu seiner kompletten Abschaffung),92 so erschien er Teilen der Bevölkerung doch so fragwürdig, dass seine Verfechter zunehmend in die Defensive gerieten. Dies blieb, und hier sind wir bei der zweiten Erkenntnis, nicht ohne Einfluss auf die Rechtspraxis, die sich im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre zunehmend liberalisierte. Denn auch an Polizei und Justiz gingen die gesellschaftlichen Debatten nicht spurlos vorbei. Unter Kriminalbeamten herrschte hinsichtlich der Verfolgung der »einfachen« Homosexualität keineswegs Konsens: So gab es manche, die (wie der Berliner Kripochef Sangmeister 1955 im »Tagesspiegel«) auch öffentlich bekundeten, dass das Verbot gleichgeschlechtlicher Beziehungen zwischen Erwachsenen »unangebracht« sei, und eine »Korrektur des Strafgesetzbuches« forderten.93 Dass sich die Frankfurter Polizeibehörden bei ihren Ermittlungen auf öffentliche Sexualkontakte und solche zu Jugendlichen und Prostituierten konzentrierten, erscheint vor diesem Hintergrund plausibel. Ähnlich stellte sich die Situation in »Juristenkreisen« dar, in denen einige Akteure schon während der NS-Zeit am Sinn der Strafverfolgung Homosexueller gezweifelt hatten. Der Umstand, dass der Deutsche Juristentag bereits 1951 – wenn auch nur mit knapper Mehrheit – für die Entkriminalisierung der »einfachen« Homosexualität plädierte, macht deutlich, dass das Thema in Teilen der Justiz durchaus kritisch betrachtet wurde. Als 1959 dann die Große Strafrechtskommission des Bundestages die Streichung des § 175 empfahl, dürfte sich, wie Ivan Nagel es formulierte, bei vielen Richtern und Staatsanwälten die Ansicht durchgesetzt haben, »irgendwann bald« werde »dieser Paragraph ja abgeschafft«.94
In der Urteilspraxis der Frankfurter Gerichte fand dies zumindest dort seinen Niederschlag, wo es um Sexualkontakte unter Erwachsenen ging und es sich nicht um »Wiederholungstäter« handelte. Hier zeigte sich ein klarer Bruch mit der NS-Zeit: Mit Einstellungen, Freisprüchen oder Geldstrafen, zu denen es in solchen Fällen nun häufig kam, war im »Dritten Reich« kaum ein Verfahren beendet worden. 1939 hatte die Durchschnittsstrafe vielmehr »bei ca. 10 Monaten Gefängnis« gelegen, und ein Drittel der Fälle war mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr geahndet worden.95 Auch der quantitative Verfolgungsdruck war nun geringer: Hatte das Homosexuellendezernat der Frankfurter Staatsanwaltschaft 1937 rund 130 und 1939 mehr als 350 Hauptverfahren bearbeitet, so lag der Höhepunkt der Verfolgung in der Nachkriegszeit bei 180 Verfahren im Jahr 1958. Zwar gab es auch in den 1950er-Jahren noch Verfolgungswellen, so insbesondere nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1957, das die Polizei möglicherweise zu einem schärferen Vorgehen motivierte. Von einer bruchlosen Fortsetzung der NS-Verfolgungspolitik kann aber keine Rede sein. Hans-Joachim Schoepsʼ Äußerung aus dem Jahr 1963, das »Dritte Reich« sei für die Homosexuellen »noch nicht zu Ende«, muss deswegen als eine polemische Zuspitzung im Kontext des Kampfes um den § 175 verstanden werden, nicht jedoch als eine präzise Beschreibung der damaligen Situation.96
Freilich ist die Frage berechtigt, welche Bedeutung solche Nuancen für den Alltag Homosexueller hatten. Schon zur NS-Zeit hatte die Verfolgung nur einen Bruchteil der mutmaßlichen Homosexuellen getroffen; verurteilt wurden schätzungsweise nicht mehr als zehn Prozent der homosexuellen Männer. Von größerer Bedeutung war die »generalpräventive Wirkung« des § 175. Und die psychologischen Auswirkungen der Repression sollten ebenfalls nicht unterschätzt werden: Viele Homosexuelle konnten die Stigmatisierung und Kriminalisierung nicht so einfach wegstecken, ließen sich in ein Doppelleben zwingen und erbrachten Anpassungsleistungen, die ihnen innerlich widerstrebten. Einige ließen sich auf Scheinehen ein, andere hofften, ihre Veranlagung wegtherapieren zu können. Mitunter kam es gar zu Selbstmorden.
Es gab aber auch diejenigen, die sich als erstaunlich resilient erwiesen und später berichteten, sie hätten sich durch Polizei und Justiz kaum bedroht gefühlt – so etwa der Zeitzeuge Werner Wenzel, der 1952 mit 21 Jahren nach Frankfurt gekommen war. Er wusste genau: »Justiziabel war nur das, wenn zwei Leute Geschlechtsverkehr hatten und ein Dritter konnte das bezeugen.« Wenn man dies beachtet habe, dann habe man »mit der Polizei eigentlich kein [Problem]« gehabt.97 Eine andere Sache sei aber das »bürgerliche Renommee« gewesen. Darauf habe man »achtgeben« und zum Beispiel sicherstellen müssen, dass »dort, wo man wohnte, die Leute nicht auf die Idee kamen, dass du schwul warst«: Fing erstmal einer »an zu tratschen, das konnte unangenehm werden«.98 Besonders aber für diejenigen, die ins Visier der Verfolgungsbehörden gerieten, erwiesen sich die Folgen oft als äußerst »unangenehm«: Denn neben Prozess und Strafe drohte die komplette soziale Diskreditierung – der Verlust von Wohnung, Arbeit und sozialem Umfeld. Schon die Erniedrigung, von der Polizei wie ein Verbrecher behandelt zu werden, von dem »Fingerabdrücke abgenommen« und »Kriminellenfotos« gemacht wurden, war für die meisten schwer zu verkraften. Ivan Nagel zum Beispiel war sich sicher, dass er »an zwei Jahren deutschem Knast« kaputtgegangen wäre, »das heißt ich wusste, es ist eine Frage von Leben und Tod«.99
Beachtlich ist, dass die in diesem Aufsatz beleuchtete Frankfurter Rechtsprechung einigermaßen repräsentativ war für die Verhältnisse in der Bundesrepublik – das zeigt der Vergleich mit der bundesdeutschen Kriminalstatistik: Vorreiter war die Mainmetropole allenfalls bei der Zahl der Verfahrenseinstellungen und Freisprüche nach den §§ 175 und 175a, die hier überdurchschnittlich war. Die zunehmend milde Bestrafung der »einfachen« Homosexualität war dagegen kein Frankfurter Alleinstellungsmerkmal: Der hohe Anteil von Geld- anstelle von Gefängnisstrafen war vielmehr ein bundesweites Phänomen, und bei den geringen Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten lag die Stadt sogar unter dem Durchschnitt. Was aus heutiger Perspektive überraschend wirkt, wurde damals durchaus wahrgenommen – nicht nur von Adorno: Auch der oben erwähnte Rechtsanwalt Heinrich Ackermann meinte 1963 eine »deutliche Tendenz« feststellen zu können, »die einfache Unzucht zwischen erwachsenen Männern wieder milde zu beurteilen, wenn nicht gar straflos zu lassen«.100
Offen bleibt einstweilen, inwieweit Fritz Bauer auf die Frankfurter Rechtsprechung Einfluss nahm. Ivan Nagel zumindest zeigte sich überzeugt davon, dass die von ihm beschriebene »freiere Atmosphäre« bei den Gerichten nur »unter der Ägide des großartigen, wunderbaren Generalstaatsanwalts Fritz Bauer« möglich gewesen sei.101 Bislang ließen sich zwar keine Belege dafür finden, dass der selbst homosexuell veranlagte Bauer in die Strafverfolgung nach § 175 eingegriffen hätte.102 Den Frankfurter Staatsanwälten wird aber bekannt gewesen sein, dass sich ihr Vorgesetzter für eine Reform des Homosexuellenparagraphen einsetzte. Für die Arbeit der Behörde dürfte das nicht bedeutungslos gewesen sein.
Eines zeigt die Frankfurter Rechtspraxis recht klar: Die Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre wurde keineswegs von konservativen Sittlichkeitsverfechtern dominiert. Denn auch die Reformer erhoben ihre Stimme und gewannen an Einfluss, während die Befürworter des § 175 zunehmend in die Defensive gerieten. Dies stützt die These von Sybille Steinbacher, die die Ambivalenz der damaligen Situation betont hat.103 Auch im Hinblick auf die Situation Homosexueller scheint es adäquater zu sein, von einem »Nebeneinander« aus »rechtlicher Repression und liberalisierter Rechtspraxis« zu sprechen als von »Restauration« und »Rückständigkeit«. Die Situation war komplex und widersprüchlich: Während sich die lokalen Polizeibehörden noch immer mit repressiven Maßnahmen hervortaten, zeigte sich in der Justiz eine allmählich liberalere Rechtsprechung. Doch waren mildere Strafen und die Entkriminalisierung im Jahr 1969 nicht gleichbedeutend mit einer »Befreiung« von Stigmatisierung und Diskriminierung. Insofern wäre es verfehlt, die beschriebenen Entwicklungen als eine lineare Fortschrittsgeschichte zu interpretieren.104 Zugleich sollte aber nicht unterschätzt werden, welch grundlegende Relevanz die hier skizzierten Liberalisierungsprozesse für die Lebenssituation der »gewöhnlichen Homosexuellen« hatten – wie auch für die gesellschaftliche Entstigmatisierung und Normalisierung der Homosexualität, die sich in den folgenden Jahrzehnten vollzog.
Anmerkungen:
1 Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer und Anne Emmert, München 2005, S. 128f.
2 Franz X. Eder, Die lange Geschichte der »Sexuellen Revolution« in Westdeutschland (1950er bis 1980er Jahre), in: Peter-Paul Bänziger u.a. (Hg.), Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 25-37, hier S. 25.
3 Sybille Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011, S. 347f.
4 Fritz Bauer, Sexualstrafrecht heute, in: ders. u.a. (Hg.), Sexualität und Verbrechen. Beiträge zur Strafrechtsreform, Frankfurt a.M. 1963, S. 11-26, hier S. 15.
5 Herzog, Politisierung der Lust (Anm. 1), S. 111, S. 117, S. 119, S. 127.
6 Hans-Joachim Schoeps, Überlegungen zum Problem der Homosexualität, in: Bruno Loets (Bearb.), Der homosexuelle Nächste. Symposionband in der Reihe der Stundenbücher, Hamburg 1963, S. 74-114, hier S. 86.
7 Stefan Micheler, » … und verbleibt weiter in Sicherungsverwahrung«. Kontinuitäten der Verfolgung Männer begehrender Männer in Hamburg 1945–1949, in: Andreas Pretzel/Volker Weiß (Hg.), Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik, Hamburg 2010, S. 62-90, hier S. 62.
8 Die wenigen bisherigen Studien, die die Nachkriegszeit in den Blick nehmen, untersuchen die Entwicklung von Urteilspraxis und Strafmaß nicht näher. Vgl. z.B. Christian Schäfer, »Widernatürliche Unzucht« (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, Berlin 2006; Julia Noah Munier, Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2021; Pretzel/Weiß, Ohnmacht und Aufbegehren (Anm. 7).
9 Vgl. Rainer Hoffschildt, Statistik der Kriminalisierung und Verfolgung homosexueller Handlungen unter Männern durch Justiz und Polizei in der Bundesrepublik Deutschland von der Nachkriegszeit bis 1994, Dezember 2016. Vgl. auch ders., 140.000 Verurteilungen nach »§ 175«, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 4 (2002), S. 140-149, hier S. 149. Ein Manko der von Hoffschildt vorgelegten Daten ist, dass nicht zwischen § 175 und § 175a differenziert wird, sodass es insbesondere beim Strafmaß zu Verzerrungseffekten kommt.
10 Als Liberalisierung wird in diesem Aufsatz eine allmähliche Lockerung der Strafverfolgungspraxis der Justiz verstanden, die der späteren Entkriminalisierung und Entstigmatisierung der Homosexualität den Weg ebnete. Davon zu unterscheiden ist die seit Ende der 1960er-Jahre von verschiedenen sozialen Bewegungen propagierte »sexuelle Befreiung«, die Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen versprach, ihrerseits aber neue Normen etablierte. Deren Auswirkungen auf die »gefühlshistorischen Dynamiken« Homosexueller waren, wie Benno Gammerl konstatiert, eher ambivalent und entsprachen oft nicht dem »Erfolgsnarrativ« der sie propagierenden Bewegungen. Benno Gammerl, anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021, S. 339f.
11 Alexander Zinn, Maintöchter. Schwule, Lesben, Trans- und Intersexuelle in Frankfurt am Main (1933–1994), Göttingen 2025.
12 Vgl. Dieter Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik Deutschland. Die Homosexuellen-Prozesse in Frankfurt am Main 1950/51, in: Zeitschrift für Sexualforschung 5 (1992), S. 59-73.
13 Matthias Gemählich, Homosexuellenverfolgung in der frühen Bundesrepublik. Urteilspraxis und Rechtsprechung nach § 175 StGB in Frankfurt am Main 1949–1964, in: Jan Feddersen/Marion Hulverscheidt/Rainer Nicolaysen (Hg.), Jahrbuch Sexualitäten 2022, Göttingen 2022, S. 56-81.
14 Zu den Frankfurter Prozessen vgl. neben Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung (Anm. 12), vor allem Daniel Speier, Die Frankfurter Homosexuellenprozesse zu Beginn der Ära Adenauer – eine chronologische Darstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 61/62 (2018), S. 47-72.
15 Steinbacher wendet sich damit implizit gegen die besonders von Dagmar Herzog vertretene These, Verbindungen »zwischen Sittlichkeitskampf und NS-Parteinahme« seien »erst im Zusammenhang mit der Jugendrevolte von 1968« hergestellt worden. Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam (Anm. 3), S. 85.
16 So die Charakterisierung Blankensteins durch den Gerichtsmediziner Reinhard Redhardt, Zur gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution, in: Beiträge zur Sexualforschung 3 (1954) H. 5: Studien zur männlichen Homosexualität, S. 22-72, hier S. 63.
17 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), 505/1794, undatierte Personal- und Befähigungsnachweisungen (vermutlich frühe 1960er-Jahre), Bl. 6R, 8R.
18 Redhardt, Zur gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution (Anm. 16), S. 63.
19 Vgl. Zinn, Maintöchter (Anm. 11), Kapitel 2.2.
20 Rudolf Eims, Frankfurter Staatsanwaltschaft auf Menschenjagd. Die ›Aktion‹ gegen die Homosexuellen und ihre Auswirkungen, in: Frankfurter Rundschau, 23.1.1951.
21 In Großstädten führten die Sitten- bzw. Homosexuellendezernate der Kriminalpolizei bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts spezielle Fahndungskarteien, in denen Homosexuelle registriert wurden. Vgl. Alexander Zinn, Von »Staatsfeinden« zu »Überbleibseln der kapitalistischen Ordnung«. Homosexuelle in Sachsen 1933–1968, Göttingen 2021, S. 88f.
22 HHStAW, 505/5152, Beurteilung vom 9.8.1939, Bl. V.
23 Vgl. Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam (Anm. 3), S. 21-133.
24 HHStAW, 505/2529, Schreiben vom 26.8.1949, Bl. 38-42.
25 Ebd., Runderlass vom 1.6.1950, Bl. 51f.
26 Ebd., Schreiben vom 20.2.1950, Bl. 48b.
27 OK., Eine Prozeßserie. Verfahren wegen Paragraph 175, in: Frankfurter Neue Presse, 4.10.1950; zit. nach Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung (Anm. 12), S. 62.
28 Redhardt, Zur gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution (Anm. 16), S. 24f.
29 HHStAW, 505/2529, Schreiben vom 30.9.1950, Bl. 65.
30 [Anon.,] Maßnahmen zum Schutze der Jugend, in: Frankfurter Rundschau, 4.10.1950; zit. nach Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung (Anm. 12), S. 62.
31 [Anon.,] Homosexuelle. Eine Million Delikte, in: Spiegel, 29.11.1950, S. 7-10, hier S. 8. Der Artikel stammte von Mario de Brentani.
32 OK., Hohe Gefängnisstrafen in den §-175-Verfahren, in: Frankfurter Neue Presse, 31.10.1950.
33 Rudolf Eims, Prozesse wegen Sittlichkeitsvergehen. Zwei Angeklagte vor dem Frankfurter Schöffengericht, in: Frankfurter Rundschau, 24.10.1950.
34 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M., S1/169, Nr. 80, Nachlass Rudolf Eims, Schreiben an Eims vom 24.10.1950, unpag.
35 Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft, Brief Webers vom 13.11.1950.
36 Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft, Brief Webers vom 15.11.1950.
37 Eine Million Delikte (Anm. 31), S. 10, S. 9.
38 Mario Heil de Brentani war bereits 1930 in die NSDAP eingetreten, aus dieser später aber wegen seiner »nichtarischen« Ehefrau wieder »entlassen« worden. Dennoch stand er »wegen seiner Verdienste in der Partei« unter dem Schutz von Goebbels und Hitler. Volker Koop, »Wer Jude ist, bestimme ich«. »Ehrenarier« im Nationalsozialismus, Köln 2014, S. 152.
39 Eine Million Delikte (Anm. 31), S. 7f.
40 HHStAW, 505/2529.
41 Schwules Museum*, Aufarbeitung von Verfolgung und Repression lesbischer und schwuler Lebensweisen in Hessen 1945–1985, Berlin 2018, S. 194.
42 HHStAW, 505/5153, Ernennungsurkunde vom 17.11.1950, Bl. 66f. Vgl. auch das Gesuch Ronimis vom 25.6.1950, Bl. 62.
43 Laut Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung (Anm. 12), S. 67, wurde Ronimi »hinwegbefördert«.
44 Eims, Frankfurter Staatsanwaltschaft auf Menschenjagd (Anm. 20).
45 HHStAW, 505/2529, Schreiben vom 31.1.1951, Bl. 83.
46 HHStAW, 631a/2171, Handakte, Bericht vom 25.1.1951, Bl. 12.
47 Speier, Frankfurter Homosexuellenprozesse (Anm. 14), S. 65f.
48 HHStAW, 631a/2171, Bericht vom 25.1.1951, Bl. 12.
49 Vgl. HHStAW, 461/29290, 461/29292, 461/29295, 461/29297, Register der Geschäftsstellen 4, 51, 52, 54 und 57 der Frankfurter Staatsanwaltschaft; Daten der von Matthias Gemählich und Daniel Speier ausgewerteten Urteilssammlungen (vgl. unten, Anm. 69).
50 Eims, Frankfurter Staatsanwaltschaft auf Menschenjagd (Anm. 20).
51 Vgl. Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung (Anm. 12), S. 67.
52 HHStAW, 505/2529, Sonderdruck der Zeitschrift Die Freunde, Bl. 116f.
53 HHStAW, 461/11109, Bd. 1, Lagebericht vom 24.1.1939, Bl. 236-240, hier Bl. 237.
54 Vgl. Elmar Kraushaar, Unzucht vor Gericht. Die »Frankfurter Prozesse« und die Kontinuität des § 175 in den fünfziger Jahren, in: ders. (Hg.), Hundert Jahre schwul. Eine Revue, Berlin 1997, S. 60-69, hier S. 64.
55 HHStAW, 505/2529, Schreiben vom 17.11.1950, Bl. 69f.
56 Ebd., Kurzmemorandum vom 2.7.1951, Bl. 106-115.
57 Zum Komitee siehe Leila J. Rupp, The European Origins of Transnational Organizing: The International Committee for Sexual Equality, in: Phillip M. Ayoub/David Paternotte (Hg.), LGBT Activism and the Making of Europe. A Rainbow Europe?, London 2014, S. 29-49. Der erste Kongress hatte 1951 in Amsterdam stattgefunden.
58 [Anon.,] Dem Bundestag und der Bundesregierung zugestellte Entschließung, in: Die Gefährten. Monatsschrift für Menschlichkeit, Wahrheit und Recht 1 (1952) H. 6, S. 7-8.
59 HHStAW, 505/2529, Schreiben vom 25.11.1952, Bl. 133f.
60 Schäfer, »Widernatürliche Unzucht« (Anm. 8), S. 188; Andreas Pretzel (Hg.), NS-Opfer unter Vorbehalt. Homosexuelle Männer in Berlin nach 1945, Münster 2002, S. 306.
61 [Anon.,] Recht und Freiheit, in: Die Gefährten 1 (1952) H. 1, S. 16.
62 Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft, Brief Webers vom 15.7.1951.
63 HHStAW, 505/2529, Schreiben vom 16.8.1951, Bl. 105.
64 Vgl. Nadine Drönner, Das »Homosexuellen-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts aus rechtshistorischer Perspektive, Tübingen 2020, S. 186f.
65 Schäfer, »Widernatürliche Unzucht« (Anm. 8), S. 135, S. 143.
66 [Anon.,] Strafrechtsreform. Die Eigenart des Mannes, in: Spiegel, 19.6.1957, S. 23-25, hier S. 23f.
67 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10.5.1957, 1 BvR 550/52, in: BVerfGE, Bd. 6, S. 433-436.
68 Drönner, »Homosexuellen-Urteil« (Anm. 64), S. 264.
69 Matthias Gemählich und Daniel Speier gebührt das Verdienst, die im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden im Bestand 461 überlieferten Urteilssammlungen der Frankfurter Gerichte aus den Jahren 1946 bis 1965 in mühevoller Arbeit ausgewertet zu haben. Meine Analyse stützt sich auf diese Daten und auf eigene Erhebungen in Registern der Hauptverfahren. Vgl. HHStAW, 461/29290, 461/29292, 461/29295, 461/29297, Register der Geschäftsstellen 4, 51, 52, 54 und 57 der Frankfurter Staatsanwaltschaft; Gemählich, Homosexuellenverfolgung in der frühen Bundesrepublik (Anm. 13), S. 73.
70 Vgl. Gemählich, Homosexuellenverfolgung in der frühen Bundesrepublik (Anm. 13), S. 81.
71 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Statistik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 110: Die Kriminalität in den Jahren 1950 und 1951, sowie Bd. 129: Die Kriminalität in den Jahren 1952 und 1953, beide Stuttgart 1955.
72 HHStAW, 461/36247, Urteil vom 27.11.1957, S. 6; zit. nach Gemählich, Homosexuellenverfolgung in der frühen Bundesrepublik (Anm. 13), S. 75.
73 Ausgewertet wurden die im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden im Bestand 461 überlieferten Urteile wegen einfacher Homosexualität (§§ 175, 183, 185), bei denen das Hauptverfahren im Jahr 1959 eröffnet wurde. Vgl. HHStAW, Bestand 461, Nr. 36408, 36416, 36417, 36418, 36419, 36432, 36435, 36441, 36443, 36444, 36445, 36447, 36448, 36453, 36457, 36461, 36462, 36463, 36464, 36465, 36466, 36467, 36468, 36469, 36471, 36472.
74 HHStAW, 461/36472, 43 Ms 33/59, Urteil vom 10.6.1959.
75 HHStAW, 461/36464, 17 Ms 7/59, Urteil vom 26.2.1959.
76 Ebd., 17 Ms 5/59, Urteil vom 29.9.1959.
77 HHStAW, 461/36465, 18 Ms 33/59, Urteil vom 9.7.1959.
78 HHStAW, 461/36461, 15 Ms 104/59, Urteil vom 22.4.1960.
79 Bauer, Sexualstrafrecht heute (Anm. 4), S. 16.
80 Heinrich Ackermann, Zur Frage der Strafwürdigkeit des homosexuellen Verhaltens des Mannes, in: Bauer u.a., Sexualität und Verbrechen (Anm. 4), S. 149-160, hier S. 156.
81 Vgl. Gemählich, Homosexuellenverfolgung in der frühen Bundesrepublik (Anm. 13), S. 67; Hoffschildt, Statistik der Kriminalisierung (Anm. 9).
82 Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 110 und Bd. 129 (Anm. 71); dass. (Hg.), Statistik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 158: Die Abgeurteilten und Verurteilten 1954, Bd. 172: 1955, Bd. 210: 1956, Bd. 229: 1957, Bd. 251: 1958, Stuttgart 1957–1960; dass. (Hg.), Fachserie A, Bevölkerung und Kultur, Reihe 9, Rechtspflege/Strafverfolgung, 1959 und 1960–1963, Stuttgart 1961–1965. Zu den Frankfurter Daten siehe Anm. 69.
83 HStAW, 461/36462, 16 Ms 18/59, Urteil vom 15.7.1959.
84 Ebd.
85 Jens Malte Fischer/Wolfgang Hagen, »Ich gehörte zu drei Minderheiten«. Ivan Nagel: Eine Autobiografie in sechs Gesprächen, 4. Gespräch, Min. 25:30 bis 28:10, in: Deutschlandradio Kultur, 11.4.2012.
86 HHStAW, 461/36718, 15 Ms 94/63, Urteil vom 19.7.1963.
87 HHStAW, 461/36464, 17 Ms 7/59, Urteil vom 26.2.1959.
88 HHStAW, 461/36726, 19 Ms 47/62, Urteil vom 18.10.1962.
89 HHStAW, 461/36468, 40 Ms 34/59, Urteil vom 1.10.1959.
90 Fischer/Hagen, »Ich gehörte zu drei Minderheiten« (Anm. 85), Min. 25:30 bis 28:10.
91 Theodor W. Adorno, Sexualtabus und Recht heute, in: Bauer u.a., Sexualität und Verbrechen (Anm. 4), S. 299-317, hier S. 308.
92 Siehe als Überblick Michael Schwartz, »Eine Schmach verschwindet«. Der lange Weg zur Beseitigung des Sonderstrafrechts für Homosexuelle in Deutschland. 1968/69 bis 1989/94, Berlin 2024.
93 Berliner Kripochef für Aufhebung des § 175, in: Tagesspiegel, 2.7.1955; wieder abgedruckt in: Volker Janssen (Hg.), Der Weg zu Freundschaft und Toleranz. Männliche Homosexualität in den 50er Jahren, Berlin 1984, S. 11.
94 Fischer/Hagen, »Ich gehörte zu drei Minderheiten« (Anm. 85), Min. 25:30 bis 28:10.
95 HHStAW, 461/11108, Lagebericht vom 24.1.1939, Bl. 238.
96 Schoeps, Überlegungen zum Problem der Homosexualität (Anm. 6), S. 86.
97 David Moskovits, Die rote Katze – Ein Zeitzeuge erinnert sich. Interview mit Werner Wenzel, in: Mediathek Hessen, 30.11.2023, Min. 5:05 bis 5:28.
98 Ebd., Min. 14:35 bis 15:13.
99 Fischer/Hagen, »Ich gehörte zu drei Minderheiten« (Anm. 85), Min. 25:30 bis 28:10.
100 Ackermann, Strafwürdigkeit des homosexuellen Verhaltens (Anm. 80), S. 152.
101 Fischer/Hagen, »Ich gehörte zu drei Minderheiten« (Anm. 85), Min. 25:30 bis 28:10.
102 Vgl. Zinn, Maintöchter (Anm. 11), S. 258.
103 Siehe noch einmal Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam (Anm. 3), S. 347f.
104 Für die Kritik des Fortschrittsbegriffs vgl. Peter-Paul Bänziger u.a., Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, in: dies., Sexuelle Revolution? (Anm. 2), S. 7-23, hier S. 8.

