Weder Ostalgie noch Dämonisierung

Vor Ort Ost/Stadt Land Ost – ein fotokünstlerisches Werk als Quelle für den Wandel in der ehemaligen DDR

Anmerkungen

Seit einiger Zeit kursiert das Schlagwort „Ostalgie“. Fernsehshows mit ehemaligen Medaillengewinnern, halb vergessenen Prominenten und ergrauten Medienstars boomen. Thema: die DDR im wehmütigen Rückblick. Man gewinnt den Eindruck, dass sich der Deutsche-Ost seine Vergangenheit angesichts der unsicheren Gegenwart gern verklären lässt. Motto: So schlimm war es ja nicht. Der Deutsche-West steht etwas hilflos vor diesem Kessel Buntem, von dem er kaum etwas gesehen oder miterlebt hat.1

Wie war es denn nun, das östliche Deutschland? Völlig objektiv wird diese heikle Frage vermutlich niemals zu klären sein. Versuchsweise annähern kann man sich beispielsweise durch Aktenstudium. In den Archiven wird die Vergangenheit unverklärter zu finden sein als in den Köpfen der Ostalgiker. Aber die Akten der DDR liefern nur einen eingeschränkten Zugang zur Geschichte dieses untergegangenen Staates. Zudem enden sie 1989/90, beantworten also nicht die Frage, wie aus der DDR die „neuen Bundesländer“ und aus DDR-Bürgern Bundesbürger wurden. Jenseits des Zeitphänomens Ostalgieshow lassen sich solche Transformationsprozesse etwa an Fotografien ablesen, wie sie im Rahmen zweier groß angelegter fotokünstlerischer Projekte während der 1990er-Jahre zusammengetragen wurden. Beide Projekte beschäftigten sich mit der ehemaligen DDR zwischen Untergang und Veränderung. Eines dieser Vorhaben soll hier näher erläutert werden.2

Die Fotografen, die 1992 das Projekt „Vor Ort“ konzipierten und mit Unterstützung der Leipziger Verbundnetz Gas AG durchführten, müssen damals geahnt haben, wie schwierig es künftig sein würde, den in rasender Schnelle sich wandelnden, 40-jährigen Kosmos aus Kohlengruben, Plattenbauten und Kombinaten zu vermitteln. Max Baumann, Matthias Hoch, Frank-Heinrich Müller und Thomas Wolf, alle Absolventen der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, zogen ihre eigenen Schlüsse, luden weitere Fotografen und Fotografinnen ein und machten sich an die Arbeit. Das Ergebnis liegt mittlerweile in Form dreier Bildbände vor.3 Daneben gibt es eine sich in der Zusammensetzung und Präsentationsform stetig wandelnde Ausstellung, die bereits an mehreren Stationen zu sehen war. Das hinsichtlich des fotografischen Materials abgeschlossene Projekt ist zudem mit allen Daten, Rezensionen und vielen Bildern im Internet dokumentiert (http://www.vng-art.de). Die Fotos wurden in der Reihenfolge ihres Eingangs in das „Archiv der Wirklichkeit“ der Verbundnetz Gas AG durchnummeriert und inventarisiert. Der Archivcharakter der Sammlung, die 625 Arbeiten von 18 Fotografinnen und Fotografen umfasst, spielt beim Umgang mit dem Gesamtwerk eine wichtige Rolle, die hier aber nicht weiter thematisiert werden soll.4

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Taugt ein künstlerisches Fotoprojekt als zeitgeschichtliche Quelle? Lichtbildern haftet traditionell der Ruf an, wahr zu sein, also kraft ihres mechanisch-optischen Herstellungsprozesses eine gehörige Portion der Realität in eine zweidimensionale Form überführen zu können. Eine philosophische und medienkritische Betrachtung dessen, was eine Fotografie kennzeichnet, ist hier nicht beabsichtigt. Festgehalten sei lediglich, dass sich Künstler der Fotografie bedienen in voller Kenntnis der Vor-Urteile, die gegenüber dem Medium bestehen; sie spielen geradezu mit dem Halbwissen um die angebliche Objektivität der Fotografie und um die Unbestechlichkeit des fotografischen Blicks. In den erwähnten Ausstellungen und Büchern findet man neben neueren Lichtbildern auch solche, die mehrere Jahrzehnte alt sind. Im Sinn einer Vergleichsmöglichkeit wird nicht nur auf die eigentlichen Motive verwiesen und auf den Wandel, den diese oder jene Konstellation von Straßen, Fabriken, Häusern, Reklametafeln, Bäumen etc. durchgemacht hat - nein, verwiesen wird auch auf eine fotografische Haltung, in deren Tradition sich die heutigen Fotografen sehen. Für den potenziellen Quellenwert eines Bildes sind beide Faktoren von Bedeutung: das Motiv an sich und das sich in dessen Auswahl und Darstellung manifestierende künstlerische Selbstverständnis der Bildautoren. Bei „Vor Ort“ bietet zum einen das Ganze ein Dokument für Konzept und Interessen der beteiligten Fotografen bzw. Auftraggeber. Zum anderen kann jedes einzelne Bild als zeitgeschichtliche Quelle interpretiert werden. Zwei Beispiele sollen genauer veranschaulichen, wie in der Sammlung „Vor Ort“ mit Fotos argumentiert wird.

 
Giesenslage 1990 (Frank-Heinrich Müller)
„Giesenslage 1990“ (Frank-Heinrich Müller)
 
 
 
Giesenslage 1998 (Frank-Heinrich Müller)
„Giesenslage 1998“ (Frank-Heinrich Müller)
 
 

Frank-Heinrich Müllers Aufnahmen „Giesenslage 1990“ (Nr. 483) und „Giesenslage 1998“ (Nr. 484) zeigen ein und dasselbe Haus im zeitlichen Abstand von acht Jahren. Giesenslage gehört zu Sachsen-Anhalt und liegt in der Gegend von Stendal. Im Autoatlas ist der Ort nicht zu finden, im Internet nur unter Umgehung marktschreierischer Angebote, die sich des Namens bemächtigt und nichts mit dem real existierenden Ortsteil der Gemeinde Behrendorf zu tun haben. „Behrendorf wurde 1313 im Zusammenhang mit der Ortskirche Werben (Elbe) erstmals erwähnt. Zur Gemeinde Behrendorf gehören die Ortsteile Berge und Giesenslage. Die Orte befinden sich in der Wischelandschaft. Sehenswürdigkeiten: Kirche Berge, Sühnekreuz auf dem Friedhof Berge, Kirche Giesenslage. Gemarkungsgröße: 2.593 ha. Einwohnerzahl: ca. 570.“5 Warum fuhr Müller mindestens zweimal in das winzige Nest in der Altmark, scherte sich nicht um die angeblich sehenswürdige Kirche und fotografierte, pars pro toto, ausgerechnet dieses aus einem Wohnhaus, einem niedrigeren Anbau und einer Mauer mit Brettertor bestehende Anwesen, das dem Betrachter in strenger Frontalität seine Giebelseiten zuwendet? Der Bauform nach dürfte es sich um ein mit Stall ausgestattetes Kleinsiedlerhaus der 1930er- oder frühen 1950er-Jahre handeln. Doch das ist nicht eindeutig; erst die eigene Erfahrung verleitet zu dieser Charakterisierung.

Was erkennt man auf den Fotos? 1990 gab es eine Antenne auf dem Dach und zwei verwaiste Isolatoren am Giebel des Wohnhauses. Rechts eine eingezäunte Fläche, dahinter eine Schwengelpumpe, hinten ein Waldstück, links ein Weg. Die Fassade ist grau und rissig, eine Luke über dem Stall und das Hoftor sind mit kräftig konstrastierenden Streifen angestrichen, der einzige und sofort auffällige Schmuck des Hauses. Die spätere Aufnahme wurde in Farbe gemacht, nicht mehr wie 1990 in Schwarzweiß. Das schattenlose Wetter war das gleiche wie zuvor. Links ragt ein Baum ins Bild, der nicht in acht Jahren gewachsen sein kann (oder doch?). Der Anschnitt einer Dachrinne verrät, dass der Fotograf 1998 einen geringfügig anderen Standort eingenommen hat, der vielleicht nötig war, weil hier unterdessen ein Neubau entstand. Der Zaun rechts ist noch da, die Pumpe auch, und die dahinter stehende Edeltanne zeigt, wie die Zeit vergangen ist. Das Ensemble hat bald nach Müllers erstem Besuch eine Renovierung erfahren; die Wände wurden geweißt, das Sockelmauerwerk möglicherweise trockengelegt und jedenfalls neu ausgefugt. Die freche Zebrastreifenoptik der Luke und des Tores wurde zugunsten eines neutralen Beigetons getilgt. Offenbar baute man eine neue Heizung ein. Dafür sprechen die veränderte Form des Schornsteins und die beiden Entlüftungsrohre, die aus der Wand des (ehemaligen) Stalles ragen. Die Isolatoren sind wieder mit der Überlandleitung verbunden (was Fragen zur Stromversorgung 1990 aufwirft). Die Antenne auf dem Dach hat Konkurrenz durch zwei Satellitenschüsseln bekommen. Die Renovierung dürfte kurz nach der Aufnahme des ersten Fotos stattgefunden haben, denn Efeuranken haben bereits die geweißte Hofmauer erklommen; Efeu wächst schnell, aber nicht schlagartig.

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In lakonischer Form führt Müller den Veränderungsprozess vor Augen: Ein ländliches Anwesen irgendwo in der Provinz Sachsen-Anhalts wurde modernisiert und erscheint jetzt in Farbe. Die Baugruppe wirkt nunmehr gediegener, aber durch den Wegfall des auffälligen Toranstrichs eines individuellen Kennzeichens beraubt. Das Haus blieb bewohnt, wobei offen ist, ob nicht zwischendurch ein Besitzwechsel stattgefunden hat. Die Satellitenempfänger offenbaren eine zwischenzeitliche Neuorientierung in massenmedialer Hinsicht.

Am Beispiel von Müllers Bildpaar sei angedeutet, wie sich allein durch eine veränderte Anordnung innerhalb des Gesamtwerks Zusammenhänge bilden und verändern können. Das Motiv „Giesenslage“ wurde 1997 und 2001 in beiden großen Bildbänden veröffentlicht. Während Bild Nr. 483 im älteren Buch in einer über fast zehn Druckseiten reichenden, beinahe typologischen Abfolge von Giebelaufnahmen erscheint (und Nr. 484 noch gar nicht existierte), wird es in der späteren Publikation durch die Gegenüberstellung von Schwarzweiß- und Farbaufnahme auf einer Doppelseite neu bewertet und steht jetzt für einen Wandel.6 Die bisherigen Ausstellungspräsentationen gewichteten wiederum ganz anders; in Leipzig wurde nur Nr. 484 gezeigt, in Frankfurt fehlten beide.

Die Konfrontation von Alt und Neu, von älteren und neueren Aufnahmen war und ist ein beliebtes Mittel, um das Vergehen der Zeit darzustellen. Dazu genügt im Prinzip auch ein Einzelbild. Michael Schroedters Motiv „Görden, Wohnsiedlung für Zuchthausangestellte, 1995“ (Nr. 144) erfordert in diesem Sinne kein Pendant, wäre ohne ein wesentliches Bildelement aber schwer zu datieren (gäbe es nicht die Jahreszahl im Titel). Das Foto zeigt in strenger Zentralperspektive eine Doppelreihe von Wohnhäusern, die links und rechts das Bildfeld begrenzen. In der dunkel gehaltenen Mitte befindet sich ein Rasenstreifen, der von zwei Drahtzäunen mit Betonpfeilern eingefriedet ist. Zusätzlich erkennt man dünne Holzmasten mit Bogenlampen. Die Häuserzeile rechts ist im Stil des genormten Massenwohnungsbaus gehalten und scheint nicht mehr fertig gestellt worden zu sein; sie blieb unverputzt. Die linke Zeile trägt mehr den Charakter einer schlichten Reihenhaussiedlung. Ohne den Bildtitel wüsste man nichts von der Funktion der Häuser als Unterkünften von Gefängniswärtern. Die auf dem Bild erkennbare, durch den Doppelzaun und die Lampenreihe angegebene Scheidung in ein Innen und ein Außen lässt offen, ob auf beiden Seiten Zuchthausangestellte wohnen oder nur auf einer. Der Fotograf hat mit der im Wind flatternden, blütenweißen Wäsche, die im Vordergrund zu sehen ist, eine Interpretationshilfe gegeben; hier wohnt also jemand, während man in dieser Hinsicht für die Gebäude jenseits des Zauns in Unsicherheit gelassen wird. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war es möglich, Wäsche draußen zum Trocknen aufzuhängen - man musste offenbar weder Regen fürchten (was für eine zeitgeschichtliche Interpretation unerheblich wäre) noch Ruß (was hinsichtlich früherer Verhältnisse in der DDR durchaus von Interesse sein könnte).

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Görden, Wohnsiedlung für Zuchthausangestellte, 1995 (Michael Schroedter)
„Görden, Wohnsiedlung für Zuchthausangestellte, 1995“ (Michael Schroedter)
 
 

Wie ein makellos weißes UFO, dass sich in diese Szenerie verflogen hat, zieht ein annähernd im Fluchtpunkt der Komposition positionierter Gartenpavillon die Aufmerksamkeit magisch an. Jene fragilen Zeltkonstruktionen begannen ihren Siegeszug aus den Sortimenten der Baumärkte und dürften zur DDR-Zeit nicht auf regulärem Wege verfügbar gewesen sein. Oder etwa doch? Sitzt der Betrachter hier einem Vorurteil auf, ging die Gartenpavillonmode gar vom Osten aus? Für einen Augenblick kann das Weltbild des Interpreten ins Wanken geraten. Bleibt man bei der Annahme, dass derartige Zelte eine Errungenschaft des Westens waren, hat der Fotograf mit der Einbeziehung eines solchen Exemplars auch unabhängig von der Jahreszahl im Titel einen wichtigen Hinweis auf die Datierung des Bildes gegeben.

Beide hier vorgestellten Beispiele zeigen in völlig unspektakulärer Form einen Wandel. Durch die sachliche Betitelung (Ortsname, Jahreszahl) und den Zusammenhang im Gesamtwerk wird klar, dass der Wandel in der ehemaligen DDR gemeint ist. Reißerische Szenen von der Zonengrenze, aus Stasi- und Parteizentralen oder aus Plattenbauvierteln blieben ausgespart. Das Alltägliche, Stille und Banale, das bis in die hintersten Winkel der DDR-Provinz zu spüren gewesen sein muss, war Ziel der fototopografischen Erkundung. Dies konnte nur mit einem möglichst nüchternen, wenngleich nie neutralen Blick geschehen, der dem Betrachter Raum zur Interpretation lässt und mehr Fragen provoziert als Antworten gibt: Was geschah im Zuchthaus Brandenburg-Görden, wer saß dort ein, gab es politische Häftlinge, wann wurde es geschlossen, wird es eventuell noch heute belegt, warum wurde die Wohnsiedlung so aufwändig eingefriedet? Wie verlief die weitere Entwicklung des Dörfchens Giesenslage, bestätigte sich der vorsichtige Optimismus, den das von Müller gewählte und dargestellte Sujet bei näherer Betrachtung auszustrahlen scheint?

Die zumeist in der DDR aufgewachsenen „Vor-Ort“-Fotografen lenken die Aufmerksamkeit auf Motive und Sachverhalte, die durch Aktenstudium kaum wahrgenommen werden können. Die Fotos der Sammlung fungieren in ihrer Gesamtheit als Quellenwerk zum Studium eines Veränderungsprozesses, wobei auch diese Sammlung - wie jedes Archiv - nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit bieten kann. Ähnlich wie bei Augenzeugenberichten ist es möglich, die künstlerischen Fotodokumente als (zeit)historische Quellen zu interpretieren, sofern man die Subjektivität der Aussage sowie die Form ihrer Präsentation berücksichtigt und ergänzende Informationen heranzieht. Verfehlt wäre es, den mit Bedacht auswählenden und sorgfältig analysierenden Blick der Fotokünstler von vornherein als oberflächliches Illustrieren abzuwerten. Der wachsende zeitliche Abstand wird verdeutlichen, dass das Gesamtwerk weder etwas mit naiver Ostalgie zu tun hat noch mit einer polemischen Kritik an der lauten, bunten Verwestlichung der Ex-DDR, sondern - vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein - mehr zum Verständnis dieses untergegangenen Landes beitragen kann als alle Ostalgieshows zusammen.

Anmerkungen:

1 Vgl. dazu etwa Thomas Ahbe, Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Die Fernseh-Shows zur DDR, in: Deutschland Archiv 36 (2003), S. 917-924.

2 Das zweite liegt in drei Bänden zu Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt vor: Diethart Kerbs/Sophie Schleußner (Hg.), Fotografie und Gedächtnis. Eine Bilddokumentation, Berlin 1997, 2. Aufl. 1999.

3 Verbundnetz Gas AG Leipzig (Hg.), Vor Ort. Eine Sammlung topographischer Fotografien Ostdeutschlands, Leipzig 1994; dies. (Hg.), Vor Ort Ost/On Site East - Eine Sammlung topographischer Fotografien in Ostdeutschland, Leipzig 1997, Ostfildern-Ruit 2001; dies. (Hg.), Stadt Land Ost/City Scape East - Archiv der Wirklichkeit, Ostfildern-Ruit 2001.

4 Vgl. dazu Thomas Wiegand, Wie dokumentarisch ist die Fotografie? Oder: Kann man die Wirklichkeit fotografisch archivieren?, in: Rundbrief Fotografie N.F. 9 (2002) H. 4, S. 21-24.

5 Undatierter Text von der Website: [....][Anm. der Red.: Website ist nicht mehr verfügbar].

6 Verbundnetz Gas AG Leipzig, Vor Ort Ost/On Site East (Anm. 3), S. 85; dies., Stadt Land Ost/City Scape East (Anm. 3), S. 84f.

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