Hans Magnus Enzensberger, Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987; zahlreiche Übersetzungen und Neuauflagen.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war. In diesem Zusammenhang bedarf es nun keiner allzu großen Phantasie, um Rintala als ein Sprachrohr Enzensbergers zu identifizieren, der sein Buch einerseits als fundamentale Kritik an den überbordenden Homogenisierungsansprüchen der Politik der Europäischen Gemeinschaft angelegt hat. Andererseits handelt es sich um ein Plädoyer dafür, die Vielfalt oder sogar das Chaos der kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten zu bewahren, denn alles andere führe zum Auseinanderbrechen Europas. In diesem Sinne konstatiert Rintala: »[…] wir haben jahrzehntelang eine Chimäre verfolgt: die europäische Einheit. Diese Idee stammt noch aus den Zeiten, in denen alle Welt an den technischen Fortschritt, an Wachstum und Rationalisierung glaubte. Der sogenannte Europa-Gedanke lief auf die Absicht hinaus, den großen Blöcken einen großen Block entgegenzusetzen. Also nichts als Big Science, High Tech, Raumfahrt, Plutonium, all diese bösen Scherze. Die Politiker haben jahrzehntelang auf dieses Europa der Manager, der Rüstungsexperten und der Technokraten gesetzt, und als leuchtendes Beispiel haben sie uns Japan entgegengehalten. Nur haben sie ihre Rechnung ohne die Bewohner unserer schönen Halbinsel gemacht.« (S. 481)
Auch 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung weisen die Reisebeschreibungen und die Appelle Enzensbergers in »Ach Europa!« eine unerhörte Aktualität auf, ja es scheint, dass ihre Bedeutung im Gefolge des »Brexit« sowie endemischer Finanz- und Migrationskrisen, aber auch eines in breiten sozialen Schichten um sich greifenden Europa-Skeptizismus eher noch gestiegen ist. Jedenfalls enthält Enzensbergers Kritik an der fehlenden demokratischen Legitimation der EG-Behörden, die er zwei Jahre nach der Publikation von »Ach Europa!« im Titel eines Essays auf den Gegensatz »Brüssel oder Europa« zuspitzte, einen Grundton, der seither immer lauter zu hören war. Westeuropa drohe am Ende des 20. Jahrhunderts in vorkonstitutionelle Zustände zurückzufallen, schreibt Enzensberger 1989. Seine insgesamt düstere Bestandsaufnahme mündet in die Voraussage: »Erst nach 1992 wird den Bürgern ein Licht aufgehen [...]. Spätestens dann werden die Leute begreifen, daß das Brüsseler Projekt, bei dem ihnen jede Mitsprache verweigert wird, ihre sozialen Rechte, ihre Umwelt und ihre Kultur bedroht. Es ist absehbar, daß dann der stillschweigende Vorbehalt in offenen Widerstand umschlägt.«[1]
Aus der Rückschau ist bemerkenswert, dass genau das an dieser Stelle angedeutete Momentum in den nachfolgenden Jahren immer stärker zum Tragen gekommen ist. Schon in »Ach Europa!« betont Enzensberger die sich aufbäumenden politischen und soziokulturellen Widerstände gegen die Brüsseler Politik, und geschickt flechtet er sie in seine Reiseberichte aus sieben Ländern ein, von denen mit Ungarn und Polen zwei dem damals noch existierenden Ostblock angehörten. Darüber hinaus wirkt erstaunlich, dass der Autor in dem fiktiven Interview mit Rintala Prognosen wagt, die in dieser Form vor der Wende der Jahre 1989/90 von Intellektuellen oder auch führenden Politikern in Westeuropa nur selten oder gar nicht zu hören waren. So wird der fiktive amerikanische Journalist Taylor zum Zeugen der Öffnung der Berliner Mauer und des Zusammenbruchs der osteuropäischen Diktaturen. Zudem sieht Rintala alias Enzensberger den Rückzug der »Supermächte« aus Europa ebenso voraus wie die damit verbundene Entfremdung in der transatlantischen Gemeinschaft. Und auch wenn er die Wiederherstellung der deutschen Einheit für kaum denkbar hält, verweisen seine Anspielungen auf die Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands nach der Öffnung der Mauer auf einige der Probleme, welche die asymmetrisch verflochtenen deutschen Gesellschaften im Westen und Osten seit 1990 beschäftigen.
Freilich sollte man Bücher nicht nur vom Ende her lesen, sondern vielmehr die Dinge zunächst so auf sich wirken lassen, wie sie der Autor Zug für Zug entfaltet. Ausgehend von Schweden über Italien, Ungarn, Portugal, Norwegen und Polen bis nach Spanien schildert Enzensberger seine Reiseeindrücke. Am Schluss steht der zunächst seltsam anmutende, aber Shakespeare nachempfundene Epilog »Böhmen am Meer« – der fiktive Erfahrungsbericht Taylors im postkommunistischen Europa. Dass Enzensberger nicht die Zentralachse Nordwesteuropas zum Ausgangspunkt wählt, sondern Europa von den Rändern her beschreibt, nahm letztlich eine Tendenz vorweg, die in der Geschichtswissenschaft erst sehr viel später zum Durchbruch kam. Überdies bestechen Enzensbergers Reiseberichte durch ihren aufmerksamen Blick für sozialkulturelle Besonderheiten oder auch für nationale »Marotten«, ohne jedoch überkommenen Stereotypen zu erliegen. Das Gegenteil ist der Fall, denn alles, was Enzensberger in den Blick nimmt, wird durch seine literarisch-sozialwissenschaftliche Brille gefiltert und ironisch gebrochen. Explizit heißt es dazu: »Gibt es etwas Öderes als die ›Völkerpsychologie‹, diesen verschimmelten Müllhaufen von Stereotypen, Vorurteilen, idées reçues?« (S. 105)
Enzensberger hält sich in betonter Distanz zu diesem »Müllhaufen«, darin unterstützt von kundigen Einheimischen, die ihn auf seinen Reisen jeweils an unbekannte oder weniger zugängliche Orte seiner Zielländer führen. Hierüber ist ein wirklich multiperspektivisches, europäisches und zugleich tiefgründiges Buch entstanden, das hinter die Kulissen schaut. Der Leser gewinnt somit Einsichten etwa in die Wirksamkeit des schwedischen Wohlfahrtstaates, wo den Institutionen eine moralische Immunität zuwachse wie in keinem anderen Land (S. 23), aber eben auch der »modrige Geruch einer allgegenwärtigen, sanften, unerbittlichen Pädagogik« vorherrsche (S. 16). Weiterhin ist Enzensbergers Bemerkung aufschlussreich, dass »die hegemoniale Kultur der Sozialdemokratie […] die symbolische Dimension vergessen« habe, »ohne die es keine Politik gibt« (S. 41). Dies hindert den Autor aber keineswegs, im Fall Norwegens dem Korporatismus jenseits aller Kritik auch etwas abzugewinnen, spreche doch »aus dem Munde der Verbände […] nicht der verpönte Egoismus, die nackte Selbstsucht des Einzelnen, sondern die solidarische Überzeugung eines Kollektivs« (S. 265). Bei seiner Rundreise durch Italien sind es dann vor allem die ubiquitären Verschwörungstheorien, die das Interesse des Autors auf sich ziehen, aber er bietet ebenso Einblicke in die innere Auszehrung des kommunistischen Lagers und den Niedergang der öffentlichen Ordnung in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre. Das »italienische Kuddelmuddel« (s. 115) wirkt auf ihn wie ein »Laboratorium der Postmoderne« (S. 114; dort auch in Anführungszeichen). Offenkundigen Anzeichen einer inneren Auszehrung begegnet Enzensberger ebenso in den Reihen der kommunistischen Nomenklatura Ungarns und Polens (»Die Partei besteht aus Abweichlern«, zit. auf S. 148) sowie in breiteren sozialen Schichten dieser Länder: »Das klassische Proletariat ist in die Defensive geraten. Der ungeschriebene Vertrag zwischen dem Regime und den Arbeitern soll auf einmal nicht mehr gelten.« (S. 143) Gleichzeitig flechtet der Autor geschickt Hinweise auf die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Rumänen sowie bissige Bemerkungen über Budapests »Haus der Lüge« in seine Berichte ein – gemeint ist das kommunistisch beherrschte Parlament. Ebenfalls bemerkenswert erscheint, wie sehr den Autor die kollektiven Gedächtnisse beschäftigen: In Ungarn werde nach Auskunft eines dortigen Historikers »nichts und niemand« vergessen (S. 171), wohingegen die Portugiesen einem Gesprächspartner zufolge über »kein Gedächtnis« verfügten, sich eher ihren »Phantasien« hingäben (S. 203), während die Polen als »Spezialisten der Erinnerung« identifiziert werden (S. 331). Das wirkt dann vordergründig wie »Völkerpsychologie«, trifft aber mit seinen ironischen Brechungen den seinerzeit jeweils vorherrschenden Ton in der öffentlichen Selbstverständigung.
Enzensberger arbeitet »wie ein Ethnologe« (S. 336), der nicht nur die verfallenen Arbeitsstätten von Łódź, sondern ebenso den Schutzraum der katholischen Kirche in Polen eindrucksvoll zu ergründen weiß, also dort hingelangt, wo »Patriotismus und Religion ein mystisches Amalgam« eingingen (S. 343). Zum Vorschein kommt das Bemühen um eine literarisch-politische Gegenwartsverständigung. Enzensberger folgt in gewisser Weise dem zeitgenössischen Appell »Grabe, wo du stehst«,[2] ein Motto, welches durch die Geschichtswerkstätten-Bewegung damals überall in Westeuropa populär geworden war. Der Autor gräbt sich in den von ihm besuchten Ländern und jeweils direkt vor Ort in die Nationalgeschichten ein; er verknüpft seine historischen Erkundungen mit aktuell beobachteten Entwicklungen und Zuständen. Sein historisch-ethnologischer Blick und ebenso sein ironisch-distanzierender Duktus ermöglichen ihm tiefgründige Einsichten in Institutionen, regionale und nationale Gebräuche, aber auch in nationale Mythenarsenale, die feinsinnig dekonstruiert werden. Das alles geschieht keineswegs von hoher Warte aus, sondern Enzensberger versucht den Befindlichkeiten seiner Gesprächspartner in West und Ost gerecht zu werden, ohne sich unbesehen auf deren Meinungen und Positionen einzulassen. Sowohl in den Reiseberichten als auch im Epilog lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass seine persönlichen Sympathien der innereuropäischen »Differenz« gehören, jedoch nicht dem »Hühnerstall« der Europäischen Gemeinschaft. Denn, und an dieser Stelle kommt bei ihm sogar der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt ins Spiel, »jede nivellierende Tendenz, sei sie politisch, religiös oder sozial, ist für unseren Kontinent lebensgefährlich. Was uns bedroht, ist die Zwangseinheit, die Homogenisierung; was uns rettet, ist unsere Vielfalt.« (S. 482)
Die von »Ach Europa!« ausgehende Botschaft wird somit mehr als klar formuliert. Dass sich Enzensberger als einer von wenigen Schriftstellern im Jahr 1987 dazu berufen sah, das Thema der europäischen Integration überhaupt aufzugreifen, verdankte sich einerseits der Ankündigung der Brüsseler Politik in dieser Zeit, die Vollendung des Binnenmarktes konsequent voranzutreiben. Andererseits sah sich Enzensberger als »die personifizierte Avantgarde im Zwischenbereich von Politik und Literatur« (Paul Michael Lützeler) genau in dem Moment dazu gedrängt, sich zur europäischen Integration zu äußern, als der moderne Massenkonsum viele sozialkulturelle Erfahrungen im Westen Europas tatsächlich immer weiter nivellierte und auch die politischen Kulturen in seinen Sog gerieten. Gegen diese Prozesse richtet sich Enzensberger in »Ach Europa!« mit Verve, und es ist kein Zufall, dass sich hier und dort ein seichter Anti-Amerikanismus einschleicht. Noch störender wirkt streckenweise ein letztlich kulturkonservativer Anti-Europäismus, der im gleichen Zeitraum mit verschiedenen Varianten auch in den Europa-Schriften anderer deutschsprachiger Intellektueller zu finden war. So wollte der Dramatiker Heiner Müller im Jahr 1990 nur noch eine »McDonald’s Egality« erkennen, bei der kaum jemand mehr auf die Idee komme, »dass irgendein Gedanke interessant ist, der sich nicht unmittelbar in Hamburger umsetzen lässt«.[3]
In »Ach Europa!« tritt Enzensberger als Verfechter eines multikulturellen Alteuropas auf und wendet sich mit aller Wucht gegen das »sanfte Monster Brüssel«. Im Jahr 2011 legte er eine weitere Europa-Streitschrift genau unter diesem Titel vor.[4] Schon in »Ach Europa!« aber finden sich Auslassungen gegen »ein absurdes Milliarden-Bridge« in Brüssel (S. 481), dem dann weitere Europa-Schmähschriften folgten, in denen Enzensberger voller Sarkasmus, passagenweise sogar mit unverhohlener Herablassung gegen die Brüsseler Gemeinschaftsinstitutionen zu Felde zog. Mit aller Schärfe beklagte er die politische Entmündigung der Bürger. Zur Ambivalenz dieser Variante des Anti-Europäismus gehört jedoch Enzensbergers gleichzeitig pro-europäisches Bekenntnis zur historischen gewachsenen Vielfalt der Kulturen und Gesellschaften. Darin zeigt sich eine bemerkenswerte politische Kurzsichtigkeit, denn im fortgesetzten Kampf gegen den »Größenwahn« der Brüsseler Politik lieferten Enzensberger und andere Intellektuelle genau die Munition, die inzwischen auf dem linken, vor allem aber dem rechten politischen Rand zur Zerstörung der Europäischen Union eingesetzt wird. Gleichzeitig scheint in dem emotional geprägten Brüssel-Skeptizismus nicht nur der deutschen Intellektuellen eine Tradition auf, die einer grundsätzlichen Auseinandersetzung bedürfte. Die Re-Lektüre von »Ach Europa!« könnte somit den überfälligen Anlass dazu bieten, sich eingehend mit der Frage nach der Selbstpositionierung der Intellektuellen in Europa gegenüber Europa zu beschäftigen, das heißt sowohl gegenüber der Europäischen Union und ihren Institutionen als auch gegenüber der fortdauernden Existenz nationaler und regionaler Kulturen.
[1] Hans Magnus Enzensberger, Brüssel oder Europa – eins von beiden, in: ders., Der fliegende Robert. Gedichte, Szenen, Essays, Frankfurt a.M. 1989, S. 117-125, hier S. 124. Zum Hintergrund vgl. Paul Michael Lützeler, Schriftsteller und die Europäische Union. Reinhold Schneider, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Muschg, Stuttgart 2007.
[2] Sven Lindqvist, Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte [1978]. Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Manfred Dammeyer, Bonn 1989.
[3] Heiner Müller, Stirb schneller, Europa, in: ders., Zur Lage der Nation. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, Berlin 1990, S. 25-42, hier S. 35.