H.G. Wells, The World Set Free. A Story of Mankind, London: Macmillan 1914/New York: Dutton 1914/Leipzig: Tauchnitz 1914; zahlreiche Ausgaben, Neuauflagen und Übersetzungen. Die Zitate folgen der amerikanischen Erstausgabe.
In der belletristischen Literatur spiegeln sich nicht nur die Vergangenheitsbilder einer Epoche, sondern ebenso ihre Vorstellungen von der Zukunft. Müsste man eine Rangliste der literarischen Propheten erstellen, welche als Seismographen die Erwartungen und Befürchtungen ihrer Zeit aufnahmen und verarbeiteten, so wäre dem britischen Autor Herbert George Wells (1866–1946) einer der obersten Plätze sicher. Wie kaum ein anderer Schriftsteller und Intellektueller der späten Viktorianischen Ära verknüpfte er in seinen Werken politische Zeitdiagnostik und phantastische Zukunftsvisionen, und dies nicht allein in den bekannten Klassikern der frühen Science-Fiction-Literatur »The Time Machine« (1895) und »The War of the Worlds« (1898). Wells war ein gleichermaßen populärer, produktiver wie politisch entschiedener Autor, der insgesamt mehr als 50 Romane und eine noch größere Zahl von Sachbüchern vorlegte, von zahllosen Erzählungen und journalistischen Gelegenheitsarbeiten ganz abgesehen.[1]
Auch der Roman »The World Set Free«, der im Frühjahr 1914 erschien – und damit rückblickend in einer suggestiven Nähe zum Ersten Weltkrieg –, ist eine politisch-prophetische Bekenntnisschrift. Von der »Times« in einer launischen Rezension nicht unzutreffend beschrieben als »porridge composed of Mr. Wells’s vivid imagination, his discontents, and his utopian aspirations«,[2] kreist die Geschichte um die Entdeckung der Kernspaltung und ihre Folgen. Wells bezieht sich dabei einerseits auf den damaligen naturwissenschaftlichen Kenntnisstand zur Radioaktivität, den er, in einem fiktiven Vorgriff auf die tatsächlich erst 1938 von Otto Hahn erzielten Erfolge, durchaus realitätsnah weiterspinnt. Andererseits sind es jedoch vor allem die sozialen und politischen Konsequenzen einer solchen scheinbar unerschöpflichen Energiequelle, die ihn faszinieren; bereits der Romantitel deutet die hochgespannte Erwartung an, dass die Atomkraft die Welt ein für alle Mal von Elend und Armut, Gewalt und Selbstsucht befreien könne.
An diesem didaktischen Grundmotiv richtet sich auch die literarische Form aus. Statt eines geschlossenen Erzählstrangs lässt Wells in fünf Hauptkapiteln jeweils unterschiedliche Protagonisten eines alternativen 20. Jahrhunderts auftreten, die ihn freilich allein durch die Typik ihrer Person interessieren, nicht durch individuelle Eigenschaften. Den Auftakt macht der Physiker Holsten, dem es im Jahr 1933 erstmals gelingt, die ungeheuren Kräfte der Kernspaltung experimentell zu kontrollieren und damit die Energieerzeugung zu revolutionieren. Doch die plötzliche Verfügbarkeit einer unermesslichen und kostenlosen Energiequelle löst, wenig überraschend, rund um den Globus einen geradezu schockartigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel aus, der nicht nur die Industrien des Kohle- und Stahlzeitalters rapide überholt, sondern weite Teile der Arbeitsbevölkerung in ein soziales Abseits katapultiert.
Das gilt auch für die Figur des Frederick Barnet, einen Sprössling aus dem Londoner Bürgertum. Nachdem ihm in seiner Jugend noch ausgedehnte Flugreisen nach Italien, Griechenland oder Ägypten möglich waren, sieht er sich durch die Energiewende unversehens mit Armut und Statusverlust konfrontiert. Wie viele Angehörige seiner Generation meldet sich Barnet daraufhin freiwillig zum Militärdienst. Denn nachdem sich die Probleme der Weltwirtschaft im Jahr 1956 zu einer dramatischen globalen Finanzkrise zugespitzt haben, schlagen die ansteigenden sozialen und innenpolitischen Spannungen vermehrt in eine nationalistische Kriegsrhetorik um. Aus Arbeitslosenbüros werden erst »centres of hotly patriotic excitement« (S. 92), wenig später dann militärische Rekrutierungsstellen. 1958 bricht schließlich ein weltweiter Krieg aus, den Wells ganz nach jenem Konflikttableau der Großmächte gestaltet, wie es jedem Zeitungsleser in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geläufig war: Ein regionaler Streit mit der »Slawischen Konföderation« wächst sich zu einem gesamteuropäischen Konflikt aus, und die »Zentraleuropäischen Mächte« (sprich: Deutschland und Österreich-Ungarn) stehen bald der Allianz von Frankreich und Großbritannien gegenüber. Außerhalb Europas greifen Japan und China hingegen Russland an, die USA wiederum Japan, und Indien rebelliert gegen die britische Vorherrschaft.
Auf der anderen Seite ist aber entscheidend, dass die jahrelange nukleare Hochrüstung, die den neuen militärischen Möglichkeiten der Atomkraft folgt, den Krieg von sämtlichen bekannten Konflikten unterscheidet. Alle Kriegsparteien geraten »in a delirium of panic, in order to use their bombs first« (S. 152), und bis zum Frühjahr 1959 gehen mehr als 200 Atombomben rund um die Welt nieder. »We’ll give them tit-for-tat« (S. 108) – so bringt ein französischer Pilot die Logik gegenseitiger Vergeltung auf den Punkt, bevor er sich aufmacht, die deutsche Zerstörung von Paris mit dem Abwurf dreier Atombomben auf Berlin zu rächen. Freilich konnte Wells weder den ausgedehnten Zerstörungsradius einer Kernexplosion noch die furchtbaren Folgen der Strahlenkrankheit erahnen. Inspiriert in erster Linie von den langen Halbwertszeiten des radioaktiven Zerfalls, liegt die Besonderheit der von ihm ersonnenen Nuklearwaffen vor allem darin, schwelende Krater mit monate- und jahrelangen Detonationen hervorzurufen.
Es wäre aber ohnehin unhistorisch gedacht, in »The World Set Free« lediglich die gruselige Vorwegnahme eines weltweiten Atomkriegs zu sehen. Wenn der Autor den Atomkrieg in einer Kapitelüberschrift als »The Last War« darstellt, dann nicht, um vor einer nuklearen Weltvernichtung zu warnen, sondern um eine Läuterung der Menschheit anzukündigen. Aus der Einsicht, dass Krieg im Atomzeitalter nur noch um den Preis einer Selbstvernichtung der Menschheit denkbar ist, leitet der Roman die unabweisbare Notwendigkeit ab, herkömmliche kriegerische Auseinandersetzungen endgültig zu unterbinden und durch neue, dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt gemäße Formen der Konfliktlösung zu ersetzen. So betrachtet liegt im furchtbaren Zerstörungswerk des Atomkriegs zugleich eine hoffnungsfrohe Befreiung vom Ancien Regime einer überholten Staatspolitik und Souveränität. Man dürfte nicht ganz fehl gehen, wenn man in der hier formulierten Idee des »letzten Kriegs« bereits den literarischen Vorschein jener berühmten Formulierung aus dem August 1914 erblickt, mit der Wells den Ersten Weltkrieg zum »War that Will End War« stilisierte.[3]
Für den Vorstellungshorizont des frühen 20. Jahrhunderts ist es zudem kennzeichnend, dass Wells diese notwendige Pazifikation der Menschheit vor allem der Initiative humanitaristisch, wissenschaftlich-rational gesonnener Männer zutraute. Ein globaler Friedenskongress tritt im schweizerischen Brissago zusammen, so setzt sich die Romanerzählung fort, zu dem der französische Botschafter in Washington, Leblanc, nach dem Zusammenbruch aller bisherigen Diplomatie auf eigene Initiative eingeladen hat. Oberhalb des Lago Maggiore und in der klösterlichen Abgeschiedenheit der Alpen wird aus einem zunächst zusammengewürfelten Kreis von Staatslenkern und Gelehrten bald ein einträchtiges Kollegium, welches die drängenden Konflikte der Welt jenseits aller nationalen Egoismen, aber auch jenseits aller herkömmlichen Zeremonien und Eitelkeiten debattiert und zu vernünftigen Lösungen bringt.
Man kann in der Idealisierung eines solchen metapolitischen Welt- und Friedenskongresses etwas von jenen umlaufenden Hoffnungen erahnen, mit denen sich in der Realgeschichte wenig später die Pariser Friedenskonferenz von 1919 (die ebenfalls zunächst in der neutralen Schweiz hatte zusammentreten sollen) konfrontiert sah. Doch anders als in der Wirklichkeit lässt Wells die Friedensmacher noch einen Schritt weitergehen. Der Rat der weisen Männer von Brissago erklärt sich zu einer Weltregierung, die neben Leblanc besonders vom jungen und unprätentiösen König Egbert repräsentiert wird, dem Herrscher einer namenlosen (aber offenkundig britischen) Monarchie. Unterstützt von seinem Adlatus Firmin, einem Londoner Professor für internationale Politik, vollzieht Egbert den symbolträchtigen Schritt von der nationalen Souveränität zu einer »proclamation of the World State« (S. 173), in dem sich nichts weniger als eine universale Herrschaft der Vernunft spiegeln soll.
Das erste Dekret dieser neuen Weltregierung erklärt, kaum zufällig, ein internationales Verbot atomarer Waffen. Doch während sich die meisten Staaten widerspruchslos fügen, sperrt sich der zwielichtige König des Balkans, Ferdinand Charles, unter Berufung auf einen antiquierten Souveränitätsbegriff. Als Musterbild eines verschlagenen Machthabers, in dem sich überdeutlich zeittypische Wahrnehmungsmuster des Balkans widerspiegeln (und die noch bis in die Londoner Skepsis gegenüber dem serbischen Vorgehen in der Juli-Krise von 1914 hineinreichen sollten),[4] hatte sich dieser »Slavic Fox« (S. 185) schon der Teilnahme am Friedenskongress verweigert. Auch einer Abtretung nationaler Hoheitsrechte an die Weltregierung versucht sich Ferdinand Charles listenreich zu entziehen, so dass sich eine Handhabe zur Intervention der Staatengemeinschaft erst bietet, als ein von ihm initiierter Terroranschlag auf den Friedenskongress scheitert. Eine internationale Kommission von Waffeninspektoren unter Leitung Egberts wird auf den Balkan entsandt, wo sich das Misstrauen gegenüber diesem latenten Unruheherd Europas bald als sehr berechtigt erweist. In einer entlegenen Scheune wird ein Lager atomarer Waffen entdeckt, und bei einem dramatischen Showdown kommt es zu einem Schusswechsel zwischen königstreuen Nationalisten und den Mitgliedern der internationalen Untersuchungskommission, dem schließlich auch der »last rebel king« (S. 208) selbst zum Opfer fällt. Damit findet »the strange survival of mediævalism« (S. 185) des, wie die heutige Diktion lauten würde, »Schurken-Staats« ein endgültiges Ende, und so endet zugleich die Epoche nationalstaatlicher Souveränität. Fürderhin lenkt die Weltregierung von Brissago die Geschicke der Zivilisation, und im letzten Kapitel, das in einem medizinischen Zentrum im Himalaya während der 1970er-Jahre spielt, wird eine planetarische Einheit aller Menschen angedeutet, in der die Wissenschaft zur höchsten Lebensmacht erhoben ist.
In vielerlei Hinsicht ist »The World Set Free« das typische Produkt einer Zeit, die, trotz eines ersten aufkeimenden Unbehagens, von der späteren Ambivalenz gegenüber dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt und seinen Folgen noch weit entfernt war. Der optimistische Glaube der »Hochmoderne« (Ulrich Herbert) an eine Verbesserung der Welt durch Entdeckungen und Erfindungen, durch Aufklärung und Wissenschaft, durch soziale Reformen und sozialtechnologische Baupläne ist uns inzwischen suspekt geworden. Umso eindrucksvoller ist es, nochmals zu sehen, mit welcher visionären Verve ein Autor wie H.G. Wells zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Mächte des Alten und Traditionellen zu Felde zog und auf eine fundamentale Erneuerung, ja Neuerfindung der Menschheit setzte. Insofern steht der Roman nicht zuletzt auch für die ausgeprägte Bereitschaft der intellektuellen Eliten der Vorkriegszeit, sich auf einen elementaren Bruch in Politik, Gesellschaft, Kultur einzulassen oder ihn gar herbeizureden und herbeizuwünschen; der Erste Weltkrieg erfüllte dann bekanntlich genau diese katalytische Funktion einer Epochenscheide – mit allerdings unabsehbaren Konsequenzen.
Trotzdem greift es zu kurz, in »The World Set Free« allein Hoffnung und Hybris eines vergangenen Zeitalters zu sehen. Die von Wells entworfene Zukunft steht unserer Gegenwart nicht so fremd und beziehungslos gegenüber, wie es zunächst den Anschein haben mag. Jenseits der dramatischen Zäsur eines weltweiten Atomkriegs, der der Menschheit bislang glücklicherweise erspart geblieben ist, lassen sich manche instruktiven Parallelen und Ähnlichkeiten erkennen. Spätere technische Innovationen und Infrastrukturen in Verkehr und Kommunikation ahnte Wells mit sicherem Gespür voraus. Noch wichtiger aber sind seine Visionen universaler Ausdehnung und gleichzeitiger Auflösung moderner Staatlichkeit, der Zunahme asymmetrischer Konflikte und des Aufstiegs internationaler Organisationen, schließlich der Bedeutung, die dem Besitz von Atomwaffen als Unterpfand und Symbol für eine starke nationale Souveränität beigemessen wird. Und auch dass der klassische Staatenkrieg angesichts quasi-polizeilicher Interventionen der Weltgemeinschaft gegenüber einzelnen »Paria-Staaten« an Bedeutung verlieren würde, findet man in »The World Set Free« mit bemerkenswerter Präzision vorhergesagt. Insofern: Wells’ Vorstellungen von der Zukunft heute zu lesen ermöglicht es, nicht nur seine, sondern auch unsere Gegenwart besser zu verstehen – ihr Gewordensein wie ihre Erwartungen.
[1] Als neuere Einführung siehe etwa Michael Sherborne, H.G. Wells. Another Kind of Life, 2. Aufl. London 2012; daneben Simon J. James, Maps of Utopia. H.G. Wells, Modernity, and the End of Culture, Oxford 2012.
[2] Mr. Wells’s Utopia, in: The Times (London), 8.5.1914, S. 6.
[3] So als Titel für einige Zeitungsartikel aus dem August 1914, gesammelt in H.G. Wells, The War that Will End War, New York 1914. Siehe auch John S. Partington, Building Cosmopolis. The Political Thought of H.G. Wells, Aldershot 2003, S. 70ff.
[4] Vgl. Christopher M. Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012, S. 406f., S. 488ff. Allgemein siehe Marija N. Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 1997, Neuaufl. 2009.