Keine Modernisierung in der Weimarer Republik?

Anmerkung

Es steht Wehler drauf, und es ist Wehler drin. Das Konzept der vorhergehenden Bände wird beibehalten, wenngleich mit der bereits des Öfteren kritisierten Verschiebung zugunsten des Primats der Politik in einigen Kapiteln. Im Vorwort verteidigt der Autor erneut seinen Ansatz: Gegenüber den eingeforderten Konzessionen an eine neue Kulturgeschichte weist er zum Beispiel darauf hin, dass eine Analyse struktureller Faktoren notwendig sei, bevor an eine mentalitätsgeschichtliche Auswertung gedacht werden könne. Das ist nachzuvollziehen, und Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ liefert diese Strukturanalyse gesellschaftlicher Existenzbedingungen. Die Bevölkerungsentwicklung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Schichtung und die kulturellen Institutionen ebenso wie das politische System bilden die Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Vorteil und die Tragfähigkeit dieses Ansatzes kommen an vielen Stellen zum Ausdruck und geraten zum analytischen Vorzug dieses Werkes gegenüber anders konzipierten Handbüchern. Mentalitätsgeschichte zu schreiben böte sich auf dieser Grundlage an, erforderte aber zweifellos einen eigenen Band und ist zudem nicht Wehlers Sache.

Vieles ist im Prinzip bekannt, und doch schätzt man es als Basis - etwa die atemlose Darstellung der Bevölkerungszahlen nach 1945. Kriegstote und Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegerwitwen, Kriegsgefangene und Fragebögen zur Entnazifizierung folgen in dichter Reihung, in jedem Absatz ein anderes Thema. Ebenso werden die wirtschaftlichen Grundlagen in jedem der großen epochalen Teile abgehandelt, relativ dröge, mit Anspruch auf Vollständigkeit. Dann wieder verweilt Wehler bei bestimmten Themen und nimmt sich Zeit für Darstellungen: Die Oktoberverfassung oder auch die Judenzählung im Ersten Weltkrieg werden zum Beispiel ausführlich diskutiert, beides Themen, die andere Handbuchautoren gern übergehen. Ähnlich detailliert ist die Analyse der gesellschaftlichen Schichtung, so etwa im wichtigen und meines Erachtens sehr gelungenen Kapitel über die Weimarer Bürokratie. (Die Tabelle auf S. 370 ist dabei unklar: Wenn der Öffentliche Dienst die Gesamtrubrik sein soll, dann fehlen oben ein paar Nullen.) Die Darstellung des Bildungswesens, nach Schultypen gegliedert, in den Abschnitten über Weimar und das „Dritte Reich“, habe ich ebenfalls mit Gewinn gelesen. Der außerordentlich strikt gegliederte Band macht schon wegen dieser Gliederung auf vieles aufmerksam, strukturiert das Lesen und zwingt die Leser, der Analytik des Verfassers zu folgen.

Kritik lässt sich an der Gewichtung bestimmter Aspekte formulieren. Am meisten gefehlt hat mir der Modernisierungsschub, der in so vielen Bereichen der Weimarer Zeit zu beobachten war. Weimar erscheint als eine Aneinanderreihung von Krisen und ist doch nicht durchweg von den Menschen so erlebt worden. Die Darstellung des Sozialstaats kommt zu kurz (dem Wohnungsbau widmet der Verfasser gerade mal ein paar Zeilen), dabei vor allem die Aufstiegsmöglichkeit von Frauen, von Linken, von Juden - gerade diese Gruppe verzeichnete bemerkenswerte berufliche Erfolge in oft innovativen Berufsfeldern wie beispielsweise im öffentlichen Gesundheitswesen, in den aus dem Boden sprießenden Beratungsstellen. Obwohl Wehler dies später knapp konzediert, verschwindet die Darstellung von Akzeptanz der jüdischen Bevölkerungsgruppen völlig hinter der ausgreifenden Darstellung von Antisemitismus gerade in der Weimarer Zeit. Zu kurz kommt der Sozialstaat auch in seiner Fürsorgepolitik im Ersten Weltkrieg. Alle Fürsorgemaßnahmen waren in ihren Beträgen außerordentlich gering, wie Wehler durchaus mit Recht konstatiert; dennoch legten diese Maßnahmen vielfach den Grundstein für die folgende fortschrittliche Sozialpolitik. So erscheint auch die bahnbrechende Arbeitslosenversicherung von 1927 lediglich im Licht ihres Versagens zwei Jahre später. Sie wird als Erfolg der Gewerkschaften beschrieben und war dabei doch vor allem ein Erfolg eines sich etablierenden Sozialstaats - sowie der Erkenntnis des Staates im und nach dem Ersten Weltkrieg, tatsächlich verantwortlich zu sein für Krisen in Wirtschaft und Politik.

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Den Gender-Aspekt hat der Verfasser diesmal aufgenommen: Es gibt ein Kapitel über Arbeiterfrauen im Ersten Weltkrieg (S. 94-102, eine Hommage an Ute Daniel) und ein Kapitel über die Frau im Nationalsozialismus (S. 752-760). Ich betone das ausdrücklich, weil es in vielen Handbüchern immer noch nicht zum Standard gehört. Dennoch würde ich mir wünschen, dass Frauen nicht nur zwischen Unterkapiteln zu „Gesellschaftsklassen“ und „Jugend“ auftauchen, sondern überall dort, wo sie betroffen sind: in der Darstellung der wirtschaftlichen Strukturbedingungen, im Bildungswesen, in der Sozialpolitik. Im Weimar-Kapitel werden Frauen nur nebenbei erwähnt, obwohl gerade diese Epoche als Durchbruch der Forderungen der kaiserzeitlichen Frauenbewegung gilt. Es hätte sich gelohnt, im Universitätskapitel die Fachstudienrichtungen der vielen tausend Studentinnen, die neu hinzukamen, zu beschreiben. Gerade diese Frauen wären für nachfolgende Generationen junger Mädchen Vorbild gewesen, hätte der antifeminine Nationalsozialismus ihnen nicht über Berufs- und Studienverbote, über Puddingabitur und Arbeitsdienstpflicht Schranken gesetzt. Der Aspekt einer auch sozialpolitischen Modernisierung taucht hingegen in der Darstellung der NS-Zeit auf, wo er meines Erachtens nur sehr bedingt hinpasst. Die positiv hervorgehobenen Mütterberatungsstellen sind nichts anderes als im Sinne der Regimepolitik umgemünzte Sexualberatungsstellen der Weimarer Zeit. Ebenso versäumt der Verfasser, die Verbesserungen des Mutterschutzes während der Weimarer Zeit hervorzuheben, und lobt stattdessen die Verbesserungen im „Dritten Reich“ (S. 757), die aber erst 1941 und 1944 eingeführt wurden.

Etliche Fehler unterlaufen dem Verfasser bei seinen Wahlanalysen. Ludolf Herbst hat bereits auf die unzulässige Interpretation der 99 %-Ergebnisse in Wahlen nach 1936 hingewiesen.1 Falsch ist, dass Frauen 1919 nicht wahlberechtigt gewesen seien (S. 349) - sonst ließe sich auch kaum die Verdreifachung der Zentrumsstimmen zwischen 1912 und 1919 (S. 357) erklären. Zudem ist die Parlamentarismusanalyse längst abgerückt von der Kritik an den Splitterparteien als Totengräbern der Weimarer Republik (S. 358f.) und hat als Hauptproblem die Koalitionsunfähigkeit der Parteien erkannt. Diese ergab sich wesentlich aus dem mangelnden Zwang zur Koalition durch das in der Weimarer Verfassung festgeschriebene einfache Misstrauensvotum (ein gravierendes Manko der Verfassung, das das Bonner Grundgesetz sofort durch ein konstruktives Misstrauensvotum ersetzt hat). Auch dieser Hinweis fehlt, wie überhaupt die Verfassungsgrundlagen nicht sehr ausführlich behandelt werden.

Wie weiter oben erwähnt, ist es den Wehler-Bänden systemimmanent, dass der Verfasser sich weder um die Formen kulturellen Lebens und Denkens der Deutschen kümmert noch sich mit dem praktizierten Christentum beschäftigt, das manchem im „Dritten Reich“ Torturen verschaffte und anderen das Leben rettete. Die Analyse offizieller Kirchenpolitik fällt geradezu hämisch aus. Auch der praktizierte Widerstand findet keine Darstellung; ebenso wenig die „Inhalte“ der Universitäten. Sie bestehen nicht nur aus Zahlen von Professuren, Privatdozenten und Studierenden, sondern in ihrer Außenwirkung doch vornehmlich aus Forschungsergebnissen, die die Welt veränderten, aber hier nicht benannt werden.

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Auf die problematische Darstellung der charismatischen Führergestalt Hitler als Hauptinterpretationsstrang des Phänomens Nationalsozialismus wurde von den Kritikern bereits hinreichend verwiesen. Dennoch möchte ich noch einmal betonen, wie fragwürdig die vom Verfasser vehement verteidigte Schwarz-Weiß-Malerei gerade im so empfindlichen Bereich des NS-Staats wirkt. Es kann nicht genügen, alle Hochschullehrer schlicht als feige darzustellen, die Kommunisten als unfähig und die Frauen, Hitler in einem Riefenstahl-Film zujubelnd, als ‚orgiastisch verzückt’ (S. 758).

Wehler mag die Grautöne nicht, das hat er schon im Vorwort festgehalten, und dies macht den Band auch unverkennbar zum „Wehler“. Das sensible Gebiet des Holocaust taugt dafür indes nicht. Wie viele Seminarsitzungen sind nötig, um Studierenden die Fragen nach dem Warum zu beantworten, wie viele Schattierungen muss man schildern, Handlungsalternativen diskutieren und Werthaltungen analysieren, um auch nur annähernd Antworten zu formulieren? Und dann finden Leserinnen und Leser in diesem wichtigen und grundlegenden Band als Antwort nur den charismatischen Führer. Dieser Punkt wird zum moralischen Vorwurf. Alles andere ist Kritik und Lob für ein bedeutendes Werk.

Anmerkung:

1 Ludolf Herbst, Hans-Ulrich Wehler, der Nationalsozialismus und die Sozialgeschichte [23.10.2003], online unter URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-046

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