Die »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« auf dem Prüfstand der Kulturgeschichte

Angesichts der Vielzahl mittlerweile vorliegender Rezensionen zum vierten Band von Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“ sollen dessen Vorzüge und Nachteile hier nicht mehr im Einzelnen abgewogen werden. Vielmehr geht es mir um einen etwas distanzierteren Blick auf die theoretische und methodische Anlage des Buchs. Seine Veröffentlichung fällt nämlich in eine Zeit, in der es als Test für die Leistungsfähigkeit des gesellschaftsgeschichtlichen Projekts Wehlers überhaupt gelesen werden kann: Bildet es doch nicht nur - trotz des noch angekündigten fünften Bandes - den vorläufigen Abschluss einer historiografischen Lebensleistung, sondern fällt auch in die Endphase einer Epoche der deutschen Geschichtswissenschaft, die mit Fug und Recht als Epoche der Sozialgeschichte bezeichnet werden kann. Drei kritische Punkte möchte ich im Folgenden ansprechen: den Stellenwert der Kulturgeschichte, die bei Wehler weiterhin ein Stiefkind der Gesellschaftsgeschichte bleibt (1.), die damit verbundene sozialstatistische Verkürzung der historischen Wirklichkeit (2.) sowie die Grenzen der historischen Selbstreflexivität (3.).

1. Wehlers Stärke ist die politische Problemanalyse. Als guter politischer Historiker zeigt er sich sowohl im Sinne des vielfach sicheren politischen Urteils als auch im Sinne der Virtuosität, mit der er das Feld der Politik zu umreißen vermag. Die Epochen der beiden Weltkriege und des „Dritten Reichs“ geben ihm dazu im vorliegenden Band auch mehr Gelegenheit als die vorausgegangenen Bände. Doch von der traditionellen politischen Geschichtsschreibung will Wehler gerade mit seiner (in der Einleitung noch einmal bekräftigten) Theorie der historischen Achsen Abschied nehmen. Seiner Darstellung der Epoche des „zweiten Dreißigjährigen Krieges“ legt er wiederum die drei (bzw. vier) Grundachsen der modernen Gesellschaft zugrunde: Wirtschaft, soziale Ungleichheit, politische Herrschaft und Kultur.

Handelte es sich dabei nur um ein Gliederungsprinzip der Darstellung, so würde dies angesichts der ungeheuren Fülle des Materials sofort einleuchten. Doch das Konzept beansprucht mehr: Es geht davon aus, dass sich keine der Achsen auf eine andere reduzieren lässt bzw. dass wirtschaftliche Entwicklungen ebenso auf politischen und kulturellen Voraussetzungen beruhen, wie umgekehrt kulturelle auf politischen und wirtschaftlichen. Diesen - an sich durchaus sinnvollen - Anspruch aber löst auch der vorliegende Band nur unzureichend ein. Zwar gelingt es Wehler immer wieder, langfristige strukturelle Veränderungen nachzuzeichnen, die eine erstaunliche historische Eigendynamik aufweisen (etwa im Bereich des Bevölkerungswachstums, der Wirtschaft und der sozialen Formationen). Doch bei der kulturellen Entwicklung verdorrt dieser Nachweis zu weitgehend konventionellen Vorstellungen wie derjenigen von der Säkularisierung der deutschen Gesellschaft.

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So bleibt auch die Erklärung historischer Erscheinungen weitgehend eine Einbahnstraße - sie verläuft in der Regel weiterhin wie in der älteren Sozialgeschichte von der ökonomischen „Basis“ zum ideellen (d.h. politischen und kulturellen) „Überbau“: Wer wie das Bildungsbürgertum in der Weimarer Republik mehrheitlich für die Monarchie eintrat, ist bei Wehler mit seinem ökonomischen Abstieg nicht fertig geworden; wer wie die neuen Angestellten zeitweise vom ökonomischen Wandel profitierte, verfällt weniger leicht dem Hitler-Mythos. Das ist ein wohl doch zu simples Bild. Undiskutiert bleibt dabei, ob nicht kulturelle Prägungen auch bei ökonomischem Erfolg bzw. Misserfolg die einen zu Monarchisten bzw. Republikanern gemacht hätten. Überhaupt treten kulturelle Erscheinungen meist nur dort in den Blick, wo sie die politische Rolle sozialer Gruppen beleuchten. Ähnlich verhält es sich bei sozio-ökonomischen Prozessen wie etwa dem der Urbanisierung: Deutlich werden bei Wehler die wirtschaftlichen und demografischen Ursachen des negativen Bildes der Großstädte im 19. Jahrhundert; keine Beachtung findet dagegen der kulturelle Wahrnehmungswandel, der die europäische Großstadt um 1900 im Blick der Zeitgenossen enorm aufwertete. Die Kulturgeschichte bleibt somit weiterhin ein Stiefkind der Gesellschaftsgeschichte. Das ist nicht nur der von Wehler freimütig eingeräumten Grenze seiner historiografischen Kompetenzen zuzuschreiben, sondern ist der Erklärungslogik seiner Gesellschaftsgeschichte ganz grundsätzlich eingezeichnet.

2. Die Überzeugungskraft des gesellschaftsgeschichtlichen Paradigmas beruht heute wohl in erster Linie darauf, dass es die historische als gesellschaftliche Wirklichkeit beschreibt. Dabei gründet die Gesellschaftsgeschichte ihren imperialen Anspruch einer flächendeckenden Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in erster Linie auf deren statistische Vermessung. Dass darin jedoch eine Verkürzung ihres Gegenstands liegt, zeigt sich zum einen in der bloß rudimentären sozialstatistischen Erfassbarkeit kultureller Erscheinungen, zum anderen in der begrenzten Selbstreflexivität von Wehlers Wirklichkeitsverständnis: Seine Vorstellung von gesellschaftlicher Wirklichkeit ist in hohem Maß an die Existenz und fast grenzenlose Gestaltungskraft sozialer Klassen gebunden. Wer nicht anzugeben weiß, welche soziale Gruppe eine Idee propagiert oder ein bestimmtes Verhalten praktiziert, hat schlechte Karten. Erst die Benennung des sozialen Trägers verleiht den Handlungen, Vorstellungen usw. ihre historische Wirklichkeit. Dazu sind sozialstatistische Daten, welche die Gesellschaft in soziale Handlungsfelder aufteilen, unerlässlich. Die sozialstatistische Vermessung gesellschaftlicher Wirklichkeit gelingt Wehler allerdings bei der Rekonstruktion wirtschaftlicher Strukturen weit besser als bei derjenigen kultureller Erscheinungen. Das liegt in der Natur seiner statistischen Quellen: Jeder Mensch ist Wirtschaftssubjekt und als solches statistisch erfasst. Die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wird im 20. Jahrhundert auch politisches Subjekt und damit wenigstens bei Wahlen statistisch greifbar. Doch je weiter sich die historische Betrachtung in den Bereich des Kulturellen verschiebt, desto lückenhafter werden nicht nur die Statistiken, sondern desto fragwürdiger wird überhaupt der quantifizierende Zugriff: Wer Nietzsche oder Carl Schmitt gelesen hat, wer sich der vegetarischen Ernährung oder dem Freikörperkult verschrieben hat, lässt sich eben - jenseits der kleinen organisierten Vereine, die sich dazu öffentlich bekannten - statistisch nicht mehr erfassen.

Methodisch liegt hier eine Grenze der Wehlerschen Gesellschaftsgeschichte. Damit soll die ungeheure Leistung des Zahlenmaterials nicht in Abrede gestellt werden, das Wehler vor allem bei der Darstellung wirtschaftlicher und sozialer Organisationen und Produktivkräfte zusammenträgt. Aber es fehlt dieser Methode entschieden an Selbstreflexivität - etwa an einer begriffs- bzw. diskursgeschichtlichen Aufarbeitung der sozialstatistischen Kategorien, auf die sich die quantitativen Datenerhebungen stützen; oder an Überlegungen, welchem Gesellschaftsbild diese Kategorien politisch-pragmatisch dienen sollen. Hier eröffnet sich ein weites Feld historischer Forschungen zur Sprachpragmatik, zur symbolischen Politik, zur historischen Ausmessung von Handlungsräumen u.a.m., die von der Gesellschaftsgeschichte noch nicht einmal ins Auge gefasst, geschweige denn als Forschungsaufgabe angepackt worden sind. Schon heute ist absehbar, dass sich in ihrem Licht das gesellschaftsgeschichtliche Modell historischer Wirklichkeit nicht mehr wird halten lassen: Die geschichtliche Wirklichkeit kann in ihm zwar strukturfunktionalistisch in Bereiche und Achsen eingeteilt werden, aber sie ist weit komplexer konstruiert, als diese Form der Dimensionierung erahnen lässt.

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3. Wehlers Gesellschaftsgeschichte versteht sich nicht zuletzt als kritisch urteilende Geschichtsschreibung aus dem Blickwinkel heutiger Erfahrungen und Erkenntnisse über die Vergangenheit - oder, anders ausgedrückt, als Vorgeschichte der Gegenwart. Das nötigt zur politischen Stellungnahme, die, wie Wehler mit Recht betont, gerade für die Geschichte des 20. Jahrhunderts auch ganz unvermeidbar ist. In der Form, wie Wehler über die Vergangenheit kritisch zu Gericht sitzt, weist eine solche Geschichtsbetrachtung allerdings gefährliche Defizite und Kurzschlüsse auf. Dabei mag man es noch für eine Geschmacksfrage halten, ob man als Leser zur Schilderung historischer Prozesse immer gleich auch deren dezidierte Beurteilung durch den Geschichtsschreiber mitgeliefert bekommen möchte. Oft würde man es begrüßen, wenn mehr die Fakten als die subjektiven Urteile sprechen würden. Auch könnte man argumentieren, dass die linksliberalen politischen Wertmaßstäbe des Verfassers, selbst wenn man sie teilt, nicht die einzig vernünftigen sein müssen, unter denen sich die neuere deutsche Geschichte wissenschaftlich darstellen lässt.

Doch es geht um mehr: Wehler hat bislang nur selten hinreichende Anstrengungen unternommen, historische Ereignisse und Prozesse aus dem Blickwinkel der Zeitgenossen darzustellen. Und wo er dies in den älteren Bänden seines Geschichtswerks gelegentlich einmal tat, da geschah es stets zur Begründung des eigenen historischen Urteils. Ausgestattet mit dem historischen Besserwissertum des Nachgeborenen und der normativen Unfehlbarkeit seiner eigenen politischen Wertmaßstäbe verfallen bei ihm regelmäßig die begrenzten Wahrnehmungen und abweichenden politischen Normen der Zeitgenossen dem scharfen Urteil des historischen Richters. Die Zeitgenossen saßen dann meist entweder einem „Mythos“ bzw. einer „Utopie“ auf, oder sie urteilten „weitsichtig“ und „nüchtern“. Theoretisch ist solches Urteil ebenso unhaltbar wie moralisch fragwürdig. Es nimmt den vergangenen Konstellationen nämlich nicht nur ihre mögliche Ambivalenz und Zukunftsoffenheit, es berücksichtigt auch die Rückkopplung der zeitgenössischen Wahrnehmungen auf den Fortgang der historischen Entwicklung nur ganz unzureichend.

Erstaunlicherweise weicht Wehler von dieser Haltung allerdings gerade bei der Darstellung der nationalsozialistischen Herrschaft mehr als früher ab: Getragen vom Erklärungsmodell der charismatischen Herrschaft Hitlers gewinnt der Leser hier zum ersten Mal, wenn auch scharf umstellt von den wertenden Urteilen des Verfassers, Einblicke in die Wahrnehmungsformen breiter Bevölkerungskreise, die dem Führermythos verfielen. Das ist erfreulich - man fragt sich allerdings, warum nicht auch schon in älteren Epochen die politischen Wahrnehmungsformen, die Weltbilder und Ideale der Zeitgenossen eine vergleichbare Aufmerksamkeit erhielten. Vermutlich liegt dies daran, dass der Verfasser mit dem „Dritten Reich“ erstmals die eigene Lebenszeit betritt: Kann er sich jetzt vielleicht noch an den Wandel der politischen Weltanschauung erinnern, die er selbst, seine Familie, seine nächsten Freunde durchlaufen haben?

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Das wäre ein durchaus respektabler Grund. Er würde allerdings auf ein Desiderat aufmerksam machen, das nicht nur für Wehlers Werk, sondern für weite Teile der deutschen Zeitgeschichtsschreibung überhaupt einzufordern ist. Was dieser heute weitgehend fehlt, ist die explizite Einbeziehung und Thematisierung der eigenen Lebensgeschichte ihrer Autoren - waren sie doch alle biografisch in die Prozesse eingebettet, die sie historisch untersuchen, wenn nicht persönlich, so durch ihre Familien, deren Freunde und Feinde.

Es ist heute kein Geheimnis, dass die historischen Fragestellungen durch solche biografischen Prägungen in hohem Maße vorbestimmt sind: Kein Historiker, am wenigsten der Zeithistoriker, kann davon absehen, was ihm als skandalös, erklärungsbedürftig oder historisch glaubwürdig erscheint. Er kann es, um der Rationalität historischer Erkenntnisprozesse willen, nur offenlegen. Dabei geht es nicht um persönliche Bekenntnisse und biografische Selbstdarstellungen, sondern um die Reflexion der lebensgeschichtlichen Prämissen, unter denen wir uns als Historiker der Vergangenheit zuwenden. In der Forderung nach Offenlegung der theoretischen Prämissen des Historikers lag wohl der wichtigste Anspruch, mit dem Hans-Ulrich Wehler Ende der 1960er-Jahre die Bühne der wissenschaftlichen Öffentlichkeit betrat. Diese Forderung sollte nun auch vor seiner eigenen Lebensgeschichte nicht Halt machen.

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