Martin Broszat, „Holocaust“ und die Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 285-298.
Heute gilt es als unbestritten, dass die allgegenwärtigen Geschichtsdarstellungen in den Medien massiv das Geschichtsbewusstsein prägen. Allerdings wurde selten gefragt, welche Konsequenzen dies für die Geschichtswissenschaft hat und wie diese damit umging. Ein früher Beitrag eines Historikers, der die Folgen von Geschichts-Fernsehserien für die Forschung reflektierte, stammt von Martin Broszat, der 1979 auf den damaligen Erfolg der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ reagierte. Seinen Aufsatz neu zu lesen lohnt in doppelter Hinsicht: Einerseits ist der Text ein frühes selbstkritisches Zeugnis dafür, wie ein renommierter Historiker aus einer medialen Geschichtsdarstellung einen Perspektivwechsel für die Forschung ableitet. Andererseits lässt sich der Artikel als eine trotzige Verteidigungsschrift der Zunft verstehen, die zahlreiche problematische Punkte aufweist, welche die Beziehung zwischen Geschichtswissenschaft und Medien bis heute prägen.
Die Serie „Holocaust“ war eine besondere und neuartige Herausforderung für die Geschichtswissenschaft. Bereits ihre Erstausstrahlung in mindestens 50 Ländern erreichte in kurzer Zeit rund eine Viertelmilliarde Zuschauer. Bis heute dürfte es keine historische Darstellung mit größerer Reichweite geben. Vor allem aber löste die Serie in zahlreichen Ländern äußerst emotionale Reaktionen und Debatten über die Judenverfolgung aus.1 Die Medien warfen dabei den Historikern vor, in doppelter Hinsicht versagt zu haben: Zum einen hätten die Historiker ein so wichtiges Thema wie den Holocaust bislang kaum erforscht. Tatsächlich etablierte erst die Serie den Begriff und gab diesbezüglichen Forschungen in der Bundesrepublik einen stärkeren Impuls.2 Zum anderen hätten die Historiker ihre bisherigen Kenntnisse der Öffentlichkeit vorenthalten, so dass nun ausgerechnet eine amerikanische Fernsehserie historischen Nachhilfeunterricht geben musste.
„Spiegel“-Cover, 29.1.1979
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sprach von einer „Bankrotterklärung unserer Schulen und Universitäten“, der „Spiegel“ gar von einem „schwarzen Freitag für die Historiker“. Diese hätten nun „einigen Grund, über Sinn und Nutzen ihrer Arbeit nachzudenken. Selten ist einer Wissenschaft so drastisch bescheinigt worden, daß sie jahrzehntelang an den Interessen und Bedürfnissen der Öffentlichkeit vorbeigelebt hat.“3 In der Öffentlichkeit kursierten angesichts der nunmehr wachsenden Nachfrage nach Informationen über den Holocaust zwar Leselisten, aber bezeichnenderweise waren darunter kaum Werke deutscher Historiker.4 Damit war die Zeitgeschichtsforschung aufgefordert, über ihre bisherige Arbeit Rechenschaft abzulegen.
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Dies führte dazu, dass bundesdeutsche Historiker vermutlich erstmals auf eine Fernsehserie und die Debatte über sie in zentralen Fachzeitschriften reagierten.5 Der damalige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), Martin Broszat, antwortete in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“; gleichzeitig meldete sich der Holocaust-Experte Wolfgang Scheffler in „Geschichte und Gesellschaft“ zu Wort.6 Freilich waren beide keine klassischen Repräsentanten der westdeutschen Geschichtswissenschaft jener Zeit. Scheffler war lediglich Honorarprofessor und hatte lange in England gelehrt, während mit Broszat ein Vertreter des außeruniversitären IfZ antwortete, das sich stets deutlich stärker an öffentlichen Debatten über die Vergangenheit beteiligt hatte als die Ordinarien der Universitäten. Ebenso hatten Broszat und seine Kollegen bereits stärker den Kontakt zum Fernsehen gesucht; sei es in Fachberatungen, sei es bei der Verfilmung ihrer Forschungen – wie etwa beim Dokumentarfilm des Bayerischen Rundfunks über das Projekt „Bayern in der NS-Zeit“ 1976.
Markant für Broszats Antwort auf „Holocaust“ war dennoch ein zwiespältiges Verhältnis gegenüber derartigen Fernsehinszenierungen, das für die meisten Historiker bis heute charakteristisch ist: zum einen die Freude über den „Erinnerungsanstoß“ und das breite Interesse an der Vergangenheit, das das Medium Fernsehen auslösen kann; zum anderen die Verzweiflung über die emotionalisierende Vereinfachung und Ungenauigkeit der televisuellen Geschichtsdarstellung. Der „Großartigkeit des Mediums“ stellte Broszat das dem Fernsehen innewohnende „manipulative Potential“ gegenüber – nur vereinfachte melodramatische Inszenierungen würden eine große Reichweite erzielen.
Broszat räumte einleitend ein, die Wissenschaft habe sich bisher an das „besonders heikle Thema des jüdischen Schicksals in der Hitlerzeit nur auf sehr vorsichtige, sachlich unterkühlte Weise herangewagt“. Seine eigenen Umschreibungen für die deutschen Massenmorde belegten implizit sein Argument. Auch im weiteren Textverlauf benutzte er häufiger Bezeichnungen wie „Schicksal“, „Katastrophe“ oder „heikles Thema“, um die Ermordung der europäischen Juden zu beschreiben. Im Unterschied zu der eindringlichen, konkreten Darstellung in der Fernsehserie fiel es ihm offensichtlich weiterhin schwer, die deutschen Verbrechen der NS-Zeit zu benennen. Zugleich verwies Broszat darauf, dass die typischen Erzählweisen der Historiker eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht gerade gefördert hätten. Während sich bei den vom Historismus geprägten Forschern die „an erhabene Geschichtsideen gewöhnte Sprache“ gegen eine genauere Darstellung gesperrt habe, seien bei der „‚linken‘ Zeitgeschichtsschreibung“ vorrangig allgemeine gesellschaftliche und strukturelle Erklärungsmuster verwendet worden.
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Broszats Artikel setzte sich zunächst mit dem Inhalt der Serie „Holocaust“ auseinander; diese Passagen sind weniger überzeugend. Wie bei vielen Historikern bis heute üblich, prüfte er kritisch die historische Detailgenauigkeit der Fernsehdarstellung und kritisierte Abweichungen. So monierte er, die Juden in den Konzentrationslagern seien im Film zu wohlgenährt, auf der dargestellten Wannsee-Konferenz werde offen über Vergasungen gesprochen, „worüber sie in Wirklichkeit schwiegen“, und der Warschauer Ghetto-Aufstand werde „weit über das Maß der nur minimalen jüdischen Widerstands-Aktivitäten hinaus in Szene gesetzt“. Damit kritisierte Broszat vor allem faktische Fehler, Darstellungsweisen und historische Gewichtungen. Derartige Kritik würde man heute sicher relativieren. Wie man etwa den jüdischen Widerstand in Warschau im Vergleich zum damals sehr stark betonten Widerstand der Deutschen einschätzt, hängt von der jeweiligen Perspektive ab.
Vor allem aber kritisierte Broszat, die Serie erkläre nicht das „historisch-politische System und Umfeld, das die Judenverfolgung in Gang setzte“, womit er besonders die „antisemitische Dauerpropaganda“ meinte. Zum Maßstab für fiktionale Filme erhob er somit die damals üblichen Perspektiven der Forschung, die stärker NS-Institutionen betrachtete und Gesamtdarstellungen zum Nationalsozialismus bevorzugte, die den Holocaust nur knapp erwähnten. Auch hier würde man Faktoren wie die „Dauerpropaganda“ heute deutlich geringer veranschlagen, da insbesondere Radio und Film weniger direkte Propaganda enthielten, als lange zur Entlastung der Deutschen hervorgehoben wurde, und umgekehrt insbesondere durch die BBC-Sendungen durchaus Informationen über die deutschen Verbrechen kursierten. Ein weiterer typischer Kritikpunkt Broszats war die Emotionalität der Serie, die bis heute stets als „soap“ abgewertet wird. Indem er für die Geschichtswissenschaft eine kühle Sachlichkeit beanspruchte, griff er auf eine etablierte Selbstbeschreibung der Zeithistoriker zurück, mit der sich diese von der „Zeugenschaft“ und den emotionalisierenden Medien abgegrenzt hatten. Freilich galt die emotionslose Sachlichkeit der Geschichtswissenschaft kaum, wenn es etwa um die Darstellung deutscher Opfer der Vertreibung, des Krieges oder des Widerstands ging.7
Auch im zweiten Teil des Artikels verteidigte Broszat zunächst seine Zunft. Gegen den Vorwurf, die Zeithistoriker hätten die Geschichte des Holocaust vernachlässigt oder ihre Ergebnisse nicht adäquat vermittelt, reagierte er mit einer breiten Erhebung der bisherigen Literatur zum Holocaust im weitesten Sinne und einer klassifizierten statistischen Erhebung der universitären Lehrveranstaltungen der 1970er-Jahre zum Nationalsozialismus. Dabei suggerierte er, dass bereits eine umfassende Forschungsliteratur vorliege und der Nationalsozialismus in zahllosen Lehrveranstaltungen thematisiert worden sei. Tatsächlich belegt ein Blick in seine eigenen Befunde und Fußnoten das Gegenteil: Weil damals noch kaum quellenfundierte Forschungen vorlagen, verwies Broszat vor allem auf Studien von Überlebenden oder Gesamtdarstellungen zum Nationalsozialismus, die den Holocaust in einzelnen Abschnitten erwähnten. Auch bei den Lehrveranstaltungen konnte er nur zwei (von 650!) ausmachen, die sich explizit mit dem Holocaust beschäftigten, während sich das Gros der Innen- und Außenpolitik der NS-Zeit widmete.
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Zugleich aber bewertete Broszat die bisherige Forschung durchaus kritisch. So monierte er, dass die westdeutschen Zeithistoriker wegen der Sprachbarrieren kaum die reichhaltige jüdische Zeitgeschichtsliteratur zum Holocaust rezipiert hätten. Vor allem problematisierte er die Zugänge der bisherigen Forschung, die die Darstellung jüdischer Erlebnisse und Biographien zugunsten der deutschen Verfolgungspolitik vernachlässigt habe – eine Leerstelle, die die Serie „Holocaust“ in gewisser Weise füllte. Aus diesem Grund forderte Broszat eine „jüdische Betroffenheitsgeschichte“, damit die „menschliche Erfahrungs- und Verhaltensgeschichte der Opfer nacherlebbar wird“. Nachdem Broszat, wie später insbesondere Nicolas Berg kritisierte, Schriften jüdischer Historiker in den 1950er- und 1960er-Jahren gerade wegen ihrer Betroffenheit noch als unwissenschaftlich ausgegrenzt hatte, plädierte er in diesem Artikel für eine Annäherung an deren Befunde und Blickwinkel.8
Noch deutlicher fiel die gleichzeitige Stellungnahme Wolfgang Schefflers in „Geschichte und Gesellschaft“ aus, der kritisch hervorhob, dass die meisten Gesamtdarstellungen zum Holocaust nicht aus Deutschland stammten und kaum rezipiert würden.9 Zumindest über die Fußnoten von Broszat und Scheffler wanderte nun nicht nur die angelsächsische Forschung, sondern auch die polnische und israelische in den westdeutschen Wissenschaftsdiskurs. Im Vergleich zu Broszat markierte Scheffler die Versäumnisse der Geschichtswissenschaft deutlicher: So bemerkte er die rudimentäre Forschung über die Konzentrationslager, über die Massenerschießungen in der Sowjetunion oder über den Grad der Geheimhaltung der Morde. Auf diese Weise trugen die Fernsehserie und die erhobenen Vorwürfe an die Geschichtswissenschaft tatsächlich indirekt dazu bei, Forschungsdefizite zu benennen. Die Inhalte und Wirkungen der Fernsehserie sah Scheffler explizit als Chance, derartigen Forschungsthemen nun intensiver nachzugehen.
Sowohl bei Broszat als auch bei Scheffler fallen am Rande die Verweise auf die „Revisionisten“ und rechtsradikalen Holocaust-Leugner auf. Beide Forscher hatten bereits zuvor in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ auf die Debatte um derartige Deutungen reagiert, die auch von prominenten Köpfen wie David Irving und Hellmut Diwald vertreten wurden.10 Die Erforschung des Judenmords und der Perspektivwechsel, den Broszat und Scheffler einforderten, ist auch im Kontext dieser revisionistischen Positionen zu verstehen. Die verstärkte Erforschung der „Endlösung“ war für Broszat nicht nur ein wissenschaftliches Anliegen, sondern ebenso ein politisches. Zukunftsweisend war zugleich seine Beobachtung, bei der Rezeption der Serie habe sich ein „neues moralisches Gefühl“ gezeigt. Die moralische Betrachtung der NS-Vergangenheit war sicherlich nicht allein durch die Serie entstanden, hatte sich durch sie aber mit aller Wucht artikuliert und wurde sowohl für mediale Darstellungen als auch für die Forschung in den folgenden Jahrzehnten noch prägender.
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Gut drei Jahrzehnte nach dem Ende der NS-Herrschaft war Broszats Text eine ambivalente, einerseits früh und andererseits spät erscheinende Mahnung, die analytische Aufarbeitung der Rahmenbedingungen des Holocaust mit Opferperspektiven zu verbinden. In gewisser Weise, keineswegs konsequent und doch beachtlich, forderte er zumindest in diesem Artikel eine vielschichtigere historische Darstellungsform, wie sie insbesondere sein Kontrahent Saul Friedländer später einlöste – in einem grundlegend veränderten wissenschaftlichen und geschichtskulturellen Umfeld.11
1 Friedrich Knilli/Siegfried Zielinski (Hg.), „Holocaust“ zur Unterhaltung. Anatomie eines internationalen Bestsellers, Berlin 1982; als jüngere Studien zur Wirkung der Serie vgl. auch Christoph Classen (Hg.), Die Fernsehserie „Holocaust" – Rückblicke auf eine „betroffene Nation". Beiträge und Materialien, März 2004, online unter URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=FSHolocaust-Inhalt.
2 Als guten Überblick zur Forschungsgeschichte vgl. Ulrich Herbert, Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des „Holocaust“, in: ders. (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt a.M. 1998, S. 9-66.
3 Heinz Höhne, Schwarzer Freitag für die Historiker. „Holocaust“: Fiktion und Wirklichkeit, in: Spiegel, 29.1.1979, S. 22f.; Michael Schwarze, Ein Volk begegnet seiner Schuld. Die Reaktion auf Holocaust: Das Fernsehen und sein Publikum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.1979.
4 So enthielt die Leseliste der „Süddeutschen Zeitung“ Werke von Verfolgten oder Ermordeten (wie Eugen Kogon oder Anne Frank), von Tätern (wie Rudolf Höß) und von Publizisten (wie Heinz Höhne oder Gerhard Schoenberner): Karl-Otto Saur, „Holocaust“ als Auslöser für einige Beiträge, in: Süddeutsche Zeitung, 18.1.1979.
5 Diese Einschätzung wird durch eine Prüfung der Inhaltsverzeichnisse der „Historischen Zeitschrift“ und der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ gestützt. „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ wies dagegen seit den 1950er-Jahren zumindest einige kurze Stellungnahmen zu Spielfilmen mit historischen Inhalten auf.
6 Wolfgang Scheffler, Anmerkungen zum Fernsehfilm „Holocaust“ und zu Fragen zeithistorischer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), S. 570-579.
7 Vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.
8 Freilich zeigte sich in späteren Texten Broszats, besonders in seinem berühmten Briefwechsel mit Saul Friedländer, dass er die jüdische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weiterhin von der Forschung abgrenzte.
9 Scheffler, Anmerkungen (Anm. 6), S. 573.
10 Martin Broszat, Hitler und die Genesis der „Endlösung“. Aus Anlaß der Thesen von David Irving, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 739-775; Ino Arndt/Wolfgang Scheffler, Organisierter Massenmord an Juden in nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Ein Beitrag zur Richtigstellung apologetischer Literatur, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 24 (1976), S. 105-135.
11 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 1998; ders., Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2: 1939–1945, München 2006.