Überreste eines „unerwünschten Prozesses“

Die Edition der Tonbandmitschnitte zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965)


Anmerkungen

Fritz Bauer Institut/Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hg.), Der Auschwitz-Prozess. Protokolle und Dokumente, Berlin: Directmedia Verlag 2004, Digitale Bibliothek 101, DVD-ROM, 48.794 Bildschirmseiten, 45,- Euro, ISBN 3-89853-501-1. Systemvoraussetzungen: PC ab 486, 32 MB RAM, Grafikkarte ab 640 x 480 Pixel, 256 Farben, DVD-ROM-Laufwerk, MS Windows (95, 98, ME, NT, 2000 oder XP); MAC ab MacOS 10.2, 128 MB RAM, DVD-ROM Laufwerk. [Hinweis der Redaktion: Inzwischen gibt es eine zweite, verbesserte Auflage, erschienen im Herbst 2005. Im Oktober 2013 haben das Fritz Bauer Institut und das Hessische Hauptstaatsarchiv Tonbandmitschnitte des Prozesses auch online zugänglich gemacht: http://www.auschwitz-prozess.de.]

Cover der DVD 'Der auschwitz-Prozess'Eine empirisch fundierte Gesamtbewertung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses im Kontext des deutschen und europäischen Umgangs mit dem Holocaust steht noch aus. Zweierlei lässt sich jedoch mit einiger Bestimmtheit sagen: Weder handelte es sich bei diesem Strafverfahren um den Wende- oder Höhepunkt einer geläuterten westdeutschen Erinnerungskultur, noch war es in irgendeiner Weise repräsentativ für die NS-Prozesse und Ermittlungen, welche seit Ende der 1950er-Jahre mit vermehrter Intensität betrieben wurden. Exzeptionell war dieses Gerichtsverfahren schon insofern, als es ein einzigartiges Großprojekt in angewandter Oral History darstellte, das weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinausstrahlte.1 Eine vergleichbar hohe Zahl von Opferzeugen (insgesamt 211) aus verschiedenen Ländern und politischen Systemen dürfte es wohl in keinem anderen NS-Verfahren gegeben haben, und allein dieser Sachverhalt garantierte dem Prozess eine weltweite Medienöffentlichkeit. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der entscheidend am Zustandekommen des Prozesses beteiligt war, verband mit den Ermittlungen gegen die Täter von Auschwitz im Wesentlichen zwei Ziele: Zum Ersten ging es ihm darum, die Deutschen zu einer kritischeren Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschichte anzuhalten. Zum Zweiten wollte er den Überlebenden Gelegenheit geben, ihre Erlebnisse nach Jahrzehnten des Schweigens öffentlich zu erzählen. Das eine war unmittelbar mit dem anderen verbunden, waren in Politik, Rechtsprechung, Wissenschaft und Medien doch bis dahin Vergangenheitsdiskurse vorherrschend gewesen, die vor allem aus der Perspektive der Täter argumentierten und deren Sichtweisen teils bewusst, teils unbewusst reproduzierten.

Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess bot die Gelegenheit zur direkten Gegenüberstellung unterschiedlicher Narrative und Vergangenheitsdeutungen. Mit der seit Ende 2004 vorliegenden Edition von Tondbandmitschnitten, Protokollen und Dokumenten des Auschwitz-Prozesses, die das Frankfurter Fritz Bauer Institut gemeinsam mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau nach fast zehnjähriger Vorbereitungszeit in der Reihe „Digitale Bibliothek“ herausgebracht hat, bietet sich nunmehr die hervorragende Gelegenheit, erinnerte und erforschte Geschichte miteinander zu vergleichen und dabei gleichzeitig die übergreifende Frage zu erkunden, wie sich die formalen Voraussetzungen des Gerichtsprozesses auf die jeweiligen Geschichtserzählungen ausgewirkt haben. Hier ist eine Edition von hohem technischem Standard und bleibendem zeithistorischem Wert entstanden, von der die Forschung und die interessierte Öffentlichkeit über Jahre hinaus profitieren werden.

Was bietet die DVD-ROM, und wie fügt sie sich in die bestehende Forschung zum Holocaust und zur juristischen Aufarbeitung von NS-Massenverbrechen ein? Zunächst ist festzustellen, dass die DVD zum Frankfurter Auschwitz-Prozess zwar an Vorbilder anknüpfen kann - zu nennen wären vor allem die elektronischen Quellenpublikationen zum Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunal2 -, aber über ein wesentlich anspruchsvolleres Konzept verfügt. Neben den verschriftlichten Tonbandbandprotokollen aus der Hauptverhandlung enthält sie nicht nur Justizakten aus allen Verfahrensstufen, sondern auch eine Fülle digitalisierter urkundlicher Beweismittel wie Erinnerungsberichte (unter anderem die Aufzeichnungen des ersten Lagerkomman-danten Rudolf Höß), Archivdokumente aus dem In- und Ausland, Fotos aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, Landkarten etc. Fast komplett dokumentiert sind das umfangreiche Vorverfahren (Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift), das Zwischenverfahren (Eröffnungsbeschluss, Presseinformationen des Generalstaatsanwalts), die 183 Verhandlungstage dauernde Hauptverhandlung (Transkriptionen der Tonbandprotokolle, Mitschriften des Beisitzers Josef Perseke, Urteil und Nebenentscheidungen) sowie das 1970 abgeschlossene Revisionsverfahren (Revisionsbegründungen von Staatsanwalt-schaft und Verteidigung, Revisionsurteil gegen den KZ-Arzt Dr. Franz Lucas). Die editorische Entscheidung, die Gerichtsakten möglichst vollständig zu erschließen, kann man nur begrüßen, da dies es erlaubt, den Prozess selber zum Gegenstand einer justiz- und rechtskulturgeschichtlichen Analyse zu machen.3 Ergänzt wird die Publikation durch historische Gutachten der geladenen Sachverständigen vom Münchner Institut für Zeitgeschichte und der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie das vom DDR-Nebenkläger in Auftrag gegebene Gutachten des Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski von der Ost-Berliner Humboldt-Universität.

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Einen inhaltlichen Einstieg in das umfangreiche Material bieten mehrere historische und juristische Fachaufsätze. Der erste Themenblock informiert ausführlich über Geschichte und Nachgeschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, während der zweite Abschnitt das Verfahren selbst beleuchtet. Bei den Texten zur Lagergeschichte handelt es sich um Wiederveröffentlichungen von Beiträgen der polnischen Historiker Danuta Czech und Aleksander Lasik, die aus der fünfbändigen, mittlerweile als Standardwerk geltenden Publikation von Waclaw Dlugoborski und Franciszek Piper stammen.4 Die übrigen Texte zur juristischen Aufarbeitung in der Bundesrepublik, überwiegend aus der Feder von Mitarbeitern des Fritz-Bauer-Instituts, wurden teils dem Jahrbuch 20035 oder älteren Publikationen entnommen, teils neu verfasst. Sie vermitteln einen soliden Überblick über das politische und gesellschaftliche Umfeld des Prozesses und beschäftigen sich mit typischen rechtlichen Problemen der NS-Strafverfolgung. Unter den ausgewählten, unverändert abgedruckten Zweitveröffentlichungen findet sich auch ein Aufsatz von Werner Renz zur Vorgeschichte des Auschwitzer Lokaltermins vom Dezember 1964, den die Rezensentin schon bei der Erstveröffentlichung 2001 wegen einer allzu starken Fokussierung auf die Justizebene kritisiert hat.6 Nun könnte man dies sicherlich als Marginalie abtun, wenn darin nicht ein allgemeineres Problem zum Ausdruck käme.

So kann eine starke Identifizierung mit Namen und Geist von Fritz Bauer, welche die Institutsveröffentlichungen in der Regel kennzeichnet, mitunter erkenntnisblockierend wirken, weil die Betonung bzw. gelegentlich auch Überbetonung juristischer Vorgänge dafür sorgt, dass ganze Diskussionsstränge der neueren zeithistorischen Forschung ausgespart bleiben.7 Dies muss besonders dann Kritik hervorrufen, wenn neben der Publikation von Quellen gleichzeitig auch der Anspruch verfolgt wird, einen gewichtigen Beitrag zur fachwissenschaftlichen Debatte leisten zu wollen. Wie es in der Einleitung heißt, wurden die publizierten (Ton-)Dokumente vorrangig unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, die Bedeutung des „Kalten Krieges“ für den Prozessverlauf aufzuzeigen. In erstaunlich knapper Form wird dazu die folgende Erläuterung gegeben (S. 44): „Die Weise, wie von einigen Verteidigern versucht wurde, Zeugen aus Osteuropa in den Vernehmungen zu kriminalisieren und der Lüge zu bezichtigen, war Ausdruck eines politischen Subtexts, der sich nicht erst in der Kontroverse mit dem DDR-Historiker Jürgen Kuczynski oder den Auseinandersetzungen um den Ortstermin in Auschwitz zeigen läßt.“ Beispiele für die beschriebene Diskriminierung von Zeugen lassen sich tatsächlich zur Genüge finden - ein prägnantes Beispiel ist etwa der denkwürdige Schlagabtausch zwischen den Anwälten Hans Laternser und Friedrich Karl Kaul vom 4. Februar 1965. Doch die Art und Weise, in der die Systemkonfrontation hier mit westdeutschem Anti-Kommunismus umstandslos gleichgesetzt wird, spiegelt nicht nur ein verkürztes Verständnis vom „Kalten Krieg“, sondern auch eine gewisse Unkenntnis über die differenzierte, nicht selten konträre Interessenlage der verschiedenen am Auschwitz-Prozess beteiligten Ostblock-Länder wider. Die Auswirkungen des Ost-West-Gegensatzes auf die westdeutsche NS-Strafverfolgung sind zwar noch nicht hinreichend untersucht, aber durchaus schon Gegenstand der aktuellen Zeitgeschichtsforschung.

Schlagabtausch zwischen den Anwälten
Hans Laternser und Friedrich Karl Kaul, 4. Februar 1965
(O-Ton DVD "Der Auschwitz-Prozess")

Das eigentliche Herzstück der Edition sind die transkribierten Tonbandaufnahmen aus der Hauptverhandlung. Insgesamt 32.000 Seiten Gerichtsprotokolle werden erstmals einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Ursprünglich war vorgesehen, nur die verschriftlichten Mitschnitte zu veröffentlichen. Dies wäre allerdings ein enormer Verlust gewesen, sind es doch gerade die parasprachlichen Laute und Hintergrundgeräusche, die den besonderen Charakter der Quelle ausmachen. Die höchst interessante Überlieferungsgeschichte der Bänder schildert Werner Renz in einem der wissenschaftlichen Begleittexte. Es darf als symptomatisch gelten, dass die Initiative zur Aufbewahrung der Bänder nicht von Politik, Justiz oder Geschichtswissenschaft, sondern von dem Zeugen Hermann Langbein ausging, der als ehemaliger Auschwitz-Häftling und Vorsitzender des „Comité International des Camps“ den Prozess maßgeblich mitangestoßen hatte. Trotz einer entsprechenden Weisung des damaligen hessischen Justizministers Lauritz Lauritzen (SPD), die Tonbänder der „archivarischen“ Verwahrung zuzuführen, gelangten sie erst im April 1989 in das Hessische Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, nachdem 1988 aufgrund eines Verteidigerantrags in einem Siegener Prozess nach ihnen geforscht worden war. Als historische Quelle genutzt wurden sie erstmals 1993 - bezeichnenderweise nicht von Holocaust-Forschern, sondern von den Filmautoren Rolf Bickel und Dietrich Wagner, die das Material in ihrer dreiteiligen, vielbeachteten Dokumentation „Strafsache 4 Ks 2/63“ verwendeten. Von den insgesamt über 400 Stunden umfassenden Tondokumenten ist gut ein Viertel als Audiodatei und Transkript auf der DVD veröffentlicht.

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Vom Quellenwert her nicht weniger bedeutsam sind die Mitschriften des beisitzenden Richters und Berichterstatters Landgerichtsrat Josef Perseke, die ebenfalls auf verschlungenen Wegen in die Hände des Fritz Bauer Instituts gelangten. Der umfangreiche Bestand (insgesamt 21 Schnellhefter) galt jahrelang als verschollen, wurde dann jedoch vom Sohn des zweiten Beisitzers Amtsgerichtsrat Walter Hotz auf dem Dachboden im Hause seines Vaters entdeckt und dem Institut übergeben. Diese wichtigen Aufzeichnungen, basierend auf den tagtäglich verschrifteten Stenogrammen Persekes, ermöglichen nicht nur Einblicke in Wahrnehmungs- und Deutungsweisen des Gerichts (etwa zum Vorgang der Urteilsabfassung), sondern bilden auch eine wertvolle Ergänzung zur fragmentarischen Tonüberlieferung: So kann beispielsweise Dounia Wasserstroms berühmte Aussage zur Tötung eines kleinen Jungen durch den Angeklagten Wilhelm Boger im November 1944, die sich bislang nur durch Langbeins Aufzeichnungen belegen ließ,8 jetzt erstmals auch anhand von Persekes Mitschriften verifiziert und eingeordnet werden. Ein kleines Manko: Bei der Volltextsuche lassen sich die Mitschriften unter den Schlüsselbegriffen „Mitschrift“ und „beisitzende*“, nicht jedoch unter dem Namen „Perseke“ abrufen.

Damit wäre der letzte Punkt angesprochen, die Erschließbarkeit des Materials. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die DVD über sehr gute Such- und Navigationsinstrumente verfügt, die eine schnelle und problemlose Recherche im Textkorpus erlauben.9 Ermöglicht wird dies vor allem durch ein umfangreiches, aus 928 Einträgen bestehendes Sachregister. Dieses wurde wiederum durch eine große Anzahl von Verweisungsbegriffen ergänzt. Daneben gibt es jede Menge hierarchischer und assoziativer Verknüpfungen, welche auf verwandte Begrifflichkeiten oder das Personenregister mit insgesamt 2.349 Namen hinweisen. Das Personenregister, eine Mischung aus Index und biographischem Anhang, erweist sich damit zwar als unverzichtbares Hilfsmittel bei der Recherche, doch fällt auf, dass die Angaben oftmals ausgesprochen dürftig sind. So ist nicht recht nachvollziehbar, warum sich die Auskünfte zu schwer belasteten, aber in Freiheit befindlichen NS-Tätern auf einige wenige Angaben beschränken, die vor allem dem Wissensstand der Frankfurter Ermittler zu entsprechen scheinen. Auch über deren teilweise beachtliche Nachkriegskarrieren erfährt man nur wenig. Mit Ausnahme Fritz Bauers erhält keiner der am Verfahren beteiligten Juristen eine ausführlichere Würdigung. Der Anmerkungsapparat beeindruckt durch eine außerordentliche Fülle von Querverweisen und Erläuterungen zumeist juristischer Begrifflichkeiten. Als unzureichend müssen jedoch die inhaltliche Kommentierung und die dabei berücksichtigten Literaturnachweise bezeichnet werden: Bei der Einordnung geschichtlicher Vorgänge ist kein schlüssiges Prinzip erkennbar, und die dazu angeführte Sekundärliteratur erscheint überwiegend als veraltet.

Besonders spürbar wird dieser Mangel immer dann, wenn sich aus Erzählungen von Täterzeugen ergibt, dass die Gerichtsverhandlung offensichtlich nicht nur zur affirmativen Verstärkung von Geschichtsdeutungen diente, sondern vielmehr zum Ausgangspunkt neuer Geschichtslegenden wurde, die dann oft jahrelang die Historie beschäftigten. Ein prominentes Beispiel ist die Aussage des früheren Heydrich-Stellvertreters Dr. Werner Best, der in seiner Funktion als Reichsbevollmächtigter in Dänemark die „Lösung der Judenfrage“ anordnete,10 jedoch vor dem Frankfurter Schwurgericht dreist behauptete, er habe die dänischen Juden im Herbst 1943 vor der Deportation bewahrt (149. Verhandlungstag, 12. April 1965). Da es Best „tatsächlich gelungen [ist], seine Lesart der Geschehnisse [...] nicht nur vor Gericht, sondern auch in der deutschsprachigen Historiographie in erstaunlichem Maße durchzusetzen“,11 wäre an dieser Stelle eine Richtigstellung erforderlich gewesen, verbunden mit dem Hinweis auf aktuelle Forschungen.

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Stellungnahme von Dr. Werner Best
am 149. Verhandlungstag, 12. April 1965
(O-Ton DVD "Der Auschwitz-Prozess")

Neuere zeithistorische Studien zur Geschichte der bundesdeutschen NS-Strafverfolgung nach 1958 haben herausgearbeitet, dass die späte Wiederaufnahme der anhaltend unpopulären NS-Ermittlungen teilweise kompensatorischen Charakter hatte. Neben sich verstärkender Kritik einzelner medialer Meinungsführer an den moralischen Blindstellen der Adenauer’schen Vergangenheitspolitik bildete auch die gewandelte Haltung der britischen Regierung in der Frage der NS-belasteten Juristen einen entscheidenden Anlass für den kriminalpolitischen Kurswechsel. Vor diesem Hintergrund sind die ambivalenten Wirkungen des großen Frankfurter Auschwitz-Prozesses zu sehen, die in ihrer Gesamtheit eher gegen die These eines allgemeinen Demokratisierungseffektes sprechen.12 Obwohl der Prozess als umfassende Bestandsaufnahme zum größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager geplant war, gingen 15 weitere Jahre ins Land, ehe es zu einer breiteren gesellschaftlichen Thematisierung von Auschwitz kam. Nachdem sowohl die juristische und rechtspolitische Vorgeschichte des Prozesses als auch dessen außenpolitische Dimensionen in den letzten Jahren eingehend untersucht worden sind, müssen sich künftige Forscher daher verstärkt mit der Frage auseinandersetzen, warum die darin liegende Herausforderung erst mit so großer Verzögerung aufgegriffen wurde.

Mit der nun vorliegenden Edition haben sich die Voraussetzungen für eine Rezeptionsanalyse nochmals erheblich verbessert. Das Fritz Bauer Institut hat sich bei der Erschließung und Herausgabe des Tonbandmaterials - einer zeithistorischen Quelle ersten Ranges - zweifellos große Verdienste erworben. Die Umsetzung der editorischen und wissenschaftlichen Absichten kann man allerdings nur bedingt als gelungen bezeichnen. Eine mögliche außerwissenschaftliche Erklärung dafür könnte lauten, dass dem Frankfurter Institut angesichts der erschwerten institutionellen und finanziellen Bedingungen ein wenig die Puste ausgegangen ist.

Anmerkungen:

1 Vgl. Rebecca Wittmann, Telling the Story: Survivor Testimony and the Narration of the Frankfurt Auschwitz Trial, in: German Historical Institute Washington, Bulletin 32 (Spring 2003), S. 93-101.

2 Vgl. besonders das „Avalon Project“ der Yale Law Library, online unter URL: http://avalon.law.yale.edu/subject_menus/imt.asp, das „Nuremberg Trials Project“ der Harvard Law Library, online unter URL: http://nuremberg.law.harvard.edu/php/docs_swi.php?DI=1&text=overview, sowie das Holocaust History Project, online unter URL: [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar).

3 Bislang wurden die Dokumente vorwiegend zur Rekonstruktion historischer Abläufe vor 1945 genutzt, doch lassen sich seit einigen Jahren Ansätze zu einer Erforschung des Gerichtsverfahrens feststellen. Vgl. etwa Gerhard Werle/Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz, München 1995; Norbert Frei, Der Frankfurter Auschwitz-Prozeß und die deutsche Zeitgeschichtsforschung, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung. Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt a.M. 1996, S. 123-138; Rebecca Wittmann, Holocaust on Trial? The Frankfurt Auschwitz Trial in Historical Perspective, phil. Diss. University of Toronto 2000; Devin O. Pendas, Displaying Justice: Nazis on Trial in Postwar Germany, phil. Diss. University of Chicago 2000; Sabine Horn, „Jetzt aber zu einem Thema, das uns in dieser Woche alle beschäftigt.“ Die westdeutsche Fernsehberichterstattung über den Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963-1965) und den Düsseldorfer Majdanek-Prozeß (1975-1981) - ein Vergleich, in: 1999 17 (2002) H. 2, S. 13-43; Sybille Steinbacher, Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München 2004.

4 Waclaw Dlugoborski/Franciszek Piper (Hg.), Auschwitz 1940-1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, 5 Bde., Auschwitz-Birkenau 1999.

5 Fritz Bauer Institut/Irmtrud Wojak/Susanne Meinl (Hg.), Im Labyrinth der Schuld. Täter - Opfer - Ankläger, Frankfurt a.M. 2003; vgl. dazu meine Rezension: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-070

6 Annette Weinke, Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen in den frühen Sechzigern. Eine Replik, in: Mittelweg 36 10 (2001) H. 3, S. 45-48.

7 Einen Überblick zur aktuellen Forschungslage auf dem Gebiet der juristischen Aufarbeitung vermittelt Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004.

8 Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1995, S. 421 (zuerst 1965).

9 Gewisse Schwierigkeiten bei der Zuordnung entstehen allenfalls bei längeren, sich über mehrere Seiten erstreckenden Aussagen, die nicht auf Anhieb eine Identifizierung des jeweils sprechenden Prozessbeteiligten gestatten. Vgl. auch die Rezension von Sabine Horn, online unter URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-060

10 Stattdessen kam es bekanntlich zu einer spektakulären Flucht der meisten einheimischen und ausländischen Juden, zu denen auch der im dänischen Exil befindliche Fritz Bauer zählte.

11 Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996, S. 360.

12 Devin O. Pendas schreibt dem Prozess sogar eine erinnerungsverhindernde Wirkung zu: „La loi, à sa manière, lutte contre cet oubli, mais, en imposant un ordre du jour au public, elle permet paradoxalement à cet oubli d’advenir en réprimant certaines vérités historiques et psychologiques vitales concernant l’Holocauste. Ces vérités continuent cependant d’émerger comme des ‚retours de sentiments refoulés‘, alors qu’elles auraient pu être consciemment intégrées à la culture politique de la Republique fédérale. À cet égard, les controverses suscitées par la récente exposition sur la Wehrmacht sont une indication très nette de ce phénomene.“ Devin O. Pendas, „Auschwitz, je ne savais pas ce que c’était“. Le Procès d’Auschwitz à Francfort et l’opinion publique allemande, in: Florent Brayard (Hg.), Le génocide des Juifs entre procès et histoire 1943-2000, Brüssel 2000, S. 79-111, hier S. 105.

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