Die Macht der Information. Politische Konflikte um sensible Akten im internationalen Vergleich

Einleitung

Anmerkungen

Die Akten des Berlin Document Center, bis 1994 militärisch gesichert, waren lange Zeit nicht nur für Historiker von großem informationspolitischem Wert.
([Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar] Laut freundlicher Auskunft des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde, Abteilung Deutsches Reich, lassen sich die Bildvorlage und nähere Bildinformationen leider nicht mehr auffinden.)

Spätestens seit die französischen Revolutionäre die Verwaltungsakten der Krone 1794 zu öffentlichem Eigentum erklärten, ist die Frage nach der Freigabe und Nutzung staatlichen Schriftguts ein Politikum. Welche Informationen welchem Personenkreis zu welchem Zeitpunkt und Zweck zugänglich sind, war und ist umstritten – ganz gleich, ob die Akten noch in Gebrauch sind oder bereits archiviert wurden. Die Entscheidung darüber, welche Daten vernichtet oder archiviert, veröffentlicht oder verheimlicht werden sollen, ist dabei nur zum Teil die Folge jener historiographischen Bedürfnisse, technisch-kulturellen Entwicklungen und juristischen Vorgaben, die momentan im Zentrum deutscher Debatten um das Recht auf Aktenzugang stehen.1 Viel häufiger war die Freigabe von Akten beziehungsweise der Ausbau von Datenschutzbestimmungen das Ergebnis machtpolitischer Aushandlungsprozesse, bei denen gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und internationale Konfliktlagen den Ausschlag gaben – manchmal in aller Öffentlichkeit, nicht selten aber auch hinter verschlossenen Türen. Die hier versammelten Beiträge über die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Griechenland und Südamerika sollen dazu anregen, derartige Auseinandersetzungen international vergleichend zu historisieren und dabei auch nach Transferprozessen zu fragen.

Ein wichtiges Ergebnis der Autorinnen und Autoren lautet, dass es zu kurz greift, die Geschichte staatlicher Informationspolitik seit 1945 als diejenige einer (manchmal leider verhinderten, langfristig aber hoffentlich erfolgreichen) Liberalisierung zu erzählen, wie dies in Arbeiten zur Archivpolitik oft der Fall ist.2 Denn ob eine informationspolitische Weichenstellung wie die Freigabe bestimmter Datenbestände oder die Stärkung des Persönlichkeitsschutzes des in den Akten erwähnten Personenkreises restriktiv ausfiel oder eher liberal, war nicht generell das Kennzeichen bestimmter politischer Lager: Für Datenschutz traten etwa in der alten Bundesrepublik nicht erst die Grünen ein, sondern zuvor auch NS-Belastete. Nicht immer war es eine Prinzipienfrage, ob jemand für die Freigabe von Dokumenten votierte, brisante Akten publizierte oder mit Verweis auf Sicherheitsrisiken für ihre Geheimhaltung plädierte. Vielmehr, so scheint es, war ausschlaggebend, welche Informationen die Akten jeweils enthielten und welches Interesse staatliche oder gesellschaftliche Akteure an diesen Daten hatten: Was konnte mit ihrer Hilfe diskreditiert oder legitimiert, be- oder widerlegt, am Laufen gehalten oder torpediert werden? Wer konnte verurteilt oder freigesprochen, entlassen oder eingestellt, als Staatsfeind observiert oder als Held gefeiert, als Opfer entschädigt oder als Mörder bloßgestellt, als Täter ermittelt oder als Beamter mit Pensionsansprüchen ausgestattet werden?

Vor diesem Hintergrund fragen die Autorinnen und Autoren immer auch nach dem gesellschaftlichen Informationsbedürfnis, das den konkreten Inhalt der Dokumente zu bestimmten Zeiten als „sensibel“ oder als uninteressant erscheinen ließ – und das mitunter auch nicht-staatliche Akteure dazu brachte, eigene Datenbanken anzulegen.3 Anders als in der zeithistorischen Forschung bislang üblich, steht im Fokus der Beiträge also nicht primär die propagandistische Form oder der demokratische Wert von Konflikten um sensible Daten und Datenträger. Als analytischer Schlüssel dient vielmehr die politisch-ideologische Sprengkaft des empirischen Materials sowie seine Funktion in der Auseinandersetzung zwischen Historikern und Archivaren, investigativen Journalisten und Politikern, Lobby-Gruppen und Grundrechts-NGOs, Staatsanwälten und Richtern, Spionen und Propagandisten, „Nestbeschmutzern“ und „Don Quichottes“: Welche Bedeutung, so die Leitfrage, kam im „Jahrhundert der Ideologien“ dem dokumentarischen Unterbau zu?

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Sehr verschiedene politische Systeme hatten und haben offenbar die Absicht, ihre Argumentations- und Legitimationsstrategien zumindest auf den Eindruck dokumentarischer Evidenz zu stützen. Der Grad der Offenheit und Nachprüfbarkeit unterscheidet sich dabei allerdings beträchtlich. Aufgrund welcher Informationen wurden Akten und andere Datenträger (Karteikarten, CDs, manchmal auch menschliche Geheimisträger) zu einem bestimmten Zeitpunkt Streitobjekte? Wie und für wen wurden die sensiblen Daten unzugänglich gemacht, und wer entschied über den Zugriff? In welchen Etappen hat sich der Umgang mit diesen Daten seither verändert? Welche Akteure beeinflussten die Entwicklung in der Vergangenheit? Inwiefern wandelten sich die Konflikte um sensible Datenträger mit dem Beginn der Digitalisierung? Wie sieht der gegenwärtige Debattenstand um „Akteneinsicht“ und „Datenschutz“, „Transparenz“ und „Geheimhaltung“ aus?

Das Ziel der Beiträge ist es erstens, den Blick für die Historizität und internationale Vergleichbarkeit aktueller Problemlagen zu schärfen: Lange bevor der australische Programmierer Julian Assange die Plattform Wikileaks gründete, ließ der kommunistische Verleger Willi Münzenberg mit einem in viele Sprachen übersetzten „Braunbuch“ den „Hitlerterror“ des Jahres 1933 dokumentieren; lange nachdem amerikanische Truppen die Verwaltungsakten des „ Dritten Reiches “ in die USA gebracht hatten, taten sie dasselbe mit denen des Irak. Zweitens handelt es sich bei den vier Beiträgen um erste Versuche, „Informationspolitik“ als zeitgeschichtliches Forschungsfeld abzustecken, Chronologien vorzuschlagen, Thesen zu bilden und Desiderate zu formulieren. Dabei soll nicht nur der Blick für grenzüberschreitende Verflechtungen geschärft werden, sondern ebenso für das Spannungsfeld, das zwischen Archivpolitik und anderen Formen der Informationspolitik existiert: Das erstmals vom Bundesverfassungsgericht formulierte Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ wurde nicht nur gegen die westdeutsche Volkszählung der frühen 1980er-Jahre in Stellung gebracht, sondern auch zum Schutz südamerikanischer Junta-Angehöriger vor Strafverfolgung; die „Juden-Kartei“ des Vichy-Regimes (le fichier juif) war von französischen Beamten in den frühen Nachkriegsjahren für Entschädigungszahlungen genutzt worden, während sie unter Historikern bis zu einem Zufallsfund im Jahr 1991 als verschollen galt.

Eines der wichtigsten Desiderate für die Zeit bis 1989/90 besteht zweifellos in der Einbeziehung von Staaten des Ostblocks und der so genannten Dritten Welt – zur Präzisierung des internationalen Vergleichs und zur Rekonstruktion von „blockübergreifenden“ Abgrenzungs- und Transferprozessen während des Kalten Kriegs, dessen Propagandaschlachten ebenfalls als Konflikte um die Freigabe und Nutzung sensibler Akten und anderer Datenträger analysiert werden können. Letzteres zeigen hier insbesondere der Beitrag von Maria Couroucli und Vangelis Karamanolakis über Griechenland sowie mein eigener Beitrag über die Bundesrepublik. Sonia Combe untersucht die Entwicklung des Aktenzugangs in Frankreich, wo restriktive Regelungen lange Zeit nicht nur die Forschung zu Vichy und zum Algerienkrieg behinderten, sondern auch die Strafverfolgung von Tätern wie Maurice Papon. Die sich seit 1990 überall in der Welt vollziehenden informationspolitischen Neujustierungen werden anhand des südamerikanischen Fallbeispiels vertieft, das Daniel Stahl erläutert.

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Für alle vier Beiträge gilt, dass es sich um erste Skizzen handelt, die den internationalen Vergleich nicht selbst leisten können, sondern Historikerinnen und Historiker zum weiteren Nachdenken über synchrone und diachrone Vergleichsmöglichkeiten einladen sollen. Unter dem Aspekt der Informationspolitik lassen sich viele Themenbereiche betrachten: von der Bildung zur Propaganda, von der Wissenschaft zur Presse, vom Staatsschutz zum politischen Protest, von der parlamentarischen Demokratie zu den Diktaturen der westlichen und östlichen Hemisphäre. Quellengesättigte Einzelstudien zu diesem größeren Komplex bleiben ein Desiderat. Zu wünschen wäre darüber hinaus eine zeithistorisch fundierte, aber auch an gegenwärtigen Entwicklungen interessierte Typologie unterschiedlicher Informationspolitiken und -räume.

Anmerkungen: 

1 Vgl. insbesondere Jens Niederhut/Uwe Zuber (Hg.), Geheimschutz transparent? Verschlusssachen in staatlichen Archiven, Essen 2010; Kurt Nelhiebel, Leichen im Keller? Mutmaßungen über den restriktiven Umgang Karlsruhes mit den Akten zum KPD-Verbot, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 847-858; Stephan Lehnstaedt/Bastian Stemmer, Akteneinsicht. Das Informationsfreiheitsgesetz und die Historiker, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), S. 493-512; Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 331-351.

2 Vgl. etwa Margaret Procter/Michael Cook/Caroline Williams (Hg.), Political Pressure and the Archival Record, Chicago 2005.

3 Zu denken wäre hier nicht nur an NGOs wie Amnesty International, sondern z.B. auch an die Gründung eines unabhängigen Geheimdienstes durch Mitglieder der Unionsparteien nach der sozialliberalen Regierungsübernahme 1969; vgl. Stefanie Waske, Die Verschwörung gegen Brandt, in: ZEITmagazin, 29.11.2012, S. 41-48, und ausführlicher jetzt dies., Nach Lektüre vernichten! Der geheime Nachrichtendienst von CDU und CSU im Kalten Krieg, München 2013.

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