Juristische Zeitgeschichte avant la lettre

Die Frankfurter Dissertation von Max Münz zur »Verantwortlichkeit für die Judenverfolgungen im Ausland« (1958)

Anmerkungen

Max Münz, Die Verantwortlichkeit für die Judenverfolgungen im Ausland während der nationalsozialistischen Herrschaft. Ein Beitrag zur Klärung des Begriffes der »Veranlassung« i.S. des § 43 BEG, seines Verhältnisses zur Staatssouveränität und seiner Anwendung auf die Einwirkung des nationalsozialistischen Deutschlands auf nicht-deutsche Staaten in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 hinsichtlich der Rechtsstellung und Behandlung der Juden, unter besonderer Berücksichtigung der Judenverfolgungen in Bulgarien, Rumänien und Ungarn (Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt a.M.), Frankfurt a.M. 1958.

Der Massenmord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg gehört heute zu den am gründlichsten erforschten Themen der Neueren Geschichte. Vor der Publikation von Raul Hilbergs Dissertation »The Destruction of the European Jews« aus dem Jahr 1954, die erst 1961 im Druck erschien und noch heute zu Recht als Standardwerk der Holocaust-Forschung gilt, fehlte es zwar nicht an Untersuchungen zum Thema, doch waren diese zunächst ganz überwiegend aus einer nationalgeschichtlichen Perspektive verfasst und deckten daher immer nur Teilbereiche des Gesamtphänomens ab. Zu den wenigen Ausnahmen im deutschen Sprachraum, die früh die politischen Aspekte des Völkermordes in Südosteuropa analysierten und damit nachdrücklich auf dessen europäische Dimension aufmerksam machten, gehörte eine heute vergessene juristische Doktorarbeit, die im akademischen Jahr 1957/58 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. angefertigt wurde.

Verfasser dieser Studie war der israelische Staatsbürger Max Münz, seinerzeit hauptberuflicher »Steuerdirektor des Nord-Tel-Aviver Bezirksbüros«. Er wurde am 25. Januar 1913 als Sohn des Rechtsanwalts und Notars Dr. Josef Münz in eine deutsch-jüdische Familie in Berlin geboren und bestand dort 1931 das Abitur auf dem Humanistischen Friedrich Werder’schen Gymnasium.[1] Anschließend studierte er in Freiburg im Breisgau sowie in seiner Heimatstadt Rechtswissenschaften. Als Jude, der zudem in einer sozialistischen Studentengruppe engagiert war, flüchtete er unmittelbar nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 nach Genf, wo er sein Jurastudium für ein Semester fortsetzte. In der zweiten Jahreshälfte wanderte Münz nach Palästina aus. Vom September 1934 bis zum Ende des Jahres 1939 arbeitete er dort für die »Treuhand- und Transferstelle Haavara« (Trust and Transfer Office Haavara Limited), zunächst in Tel Aviv und später in Haifa. Dieses im Herbst 1933 von der Anglo-Palestine Bank, der Jewish Agency for Palestine, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und dem deutschen Reichsministerium für Wirtschaft eingerichtete, formell auf privatwirtschaftlicher Basis agierende Unternehmen erlaubte es nach Palästina auswandernden deutschen Juden, zumindest einen Teil ihres Vermögens vor dem Zugriff des nationalsozialistischen Staates zu sichern. Zugleich konnte sich der NS-Staat auf diese Weise aber auch scheinbar legal an jüdischem Eigentum bereichern.[2]

Im Zweiten Weltkrieg leistete Münz aktiven Militärdienst für die britische Mandatsmacht bei der Royal Air Force. Zugleich war er von 1941 bis 1946 an der Law School von Jerusalem eingeschrieben, blieb jedoch zunächst ohne Abschluss. 1955 ließ sich Münz an der Tel Aviver Zweigstelle der Hebrew University erneut immatrikulieren. Nachdem er das Bachelor-Examen (Bachelor of Laws, LL.B.) bestanden hatte und für ein Jahr von seiner Tätigkeit beim Finanzamt freigestellt wurde, wechselte er schließlich zum Wintersemester 1957/58 an die Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M., um mit einer rechtswissenschaftlichen Arbeit über den Begriff der Veranlassung nach dem Bundesentschädigungsgesetz zu promovieren.[3] Ein (temporärer) Umzug von Israel nach Frankfurt war zu dieser Zeit keinesfalls außergewöhnlich. Zwischen April 1955 und Dezember 1958 kamen mindestens 840 Juden aus Israel in die ehemalige freie Reichsstadt, die große Mehrheit unter ihnen zum ersten Mal.[4]

Münz’ 251 Buchseiten umfassende Dissertationsschrift fiel für die damalige Zeit nicht nur vergleichsweise umfangreich aus, sondern war auch inhaltlich eine ungewöhnliche Mischung. Auf historische Überblickskapitel, die sich mit der »Bedeutung der Judenfrage innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung« (Kap. II) oder mit der »politischen Lage Europas nach der Machtergreifung Hitlers« (Kap. III) beschäftigten, folgten zwei rechtsdogmatische Erörterungen zu den Begriffen »Souveränität« (Kap. IV) und »Veranlassung« (Kap. V). Dreh- und Angelpunkt von Münz’ Untersuchung war die in Kap. VII ausführlich behandelte Frage, ob die antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen in den mit Deutschland verbündeten osteuropäischen Staaten entscheidend auf den Druck des NS-Staates zurückgegangen seien, sodass die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des »Dritten Reiches« zur Entschädigung verpflichtet sei. Die Gegenposition ging davon aus, dass die fraglichen Staaten im deutschen Einflussbereich zumindest soweit unabhängig geblieben waren, dass sie sich die Verfolgung der Juden in ihrem Staatsgebiet selbst zurechnen lassen mussten und eine Entschädigungspflicht Deutschlands daher nicht bestehe. Ob ein Staat einen anderen im Sinne von Paragraph 43 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) zu etwas »veranlassen« konnte, war letztlich eine Frage der Souveränität, die daher folgerichtig im Zentrum von Münz’ Arbeit stand.[5] Zugleich betonte er: »Die Klärung des Tatbestandes, ob die verschiedenen ausländischen Regierungen in ihrer Judenpolitik von dem ›Dritten Reich‹ so stark beeinflußt worden sind, daß von einer ›Veranlassung‹ i.S. des BEG gesprochen werden kann, ist keine juristische, sondern eine historische Forschungsaufgabe.« (S. 17)

In der Tat war Münz’ Dissertationsschrift mindestens zu gleichen Teilen historische Pionierstudie wie juristische Intervention auf dem Feld der bundesdeutschen Entschädigungspraxis. Das wird heutigen Lesern vor dem Hintergrund der inzwischen fest etablierten internationalen Holocaust-Forschung stärker ins Auge springen als den damaligen Zeitgenossen, die das Buch als juristische Streitschrift wahrnahmen, aber nicht als wichtigen Beitrag zur Erforschung der Judenverfolgung in Osteuropa. Um die Frage der »Veranlassung« zu klären, untersuchte Münz detailliert, in welcher Weise die Nationalsozialisten zum Zwecke der »Endlösung der Judenfrage« auf die verbündeten Regierungen in Südosteuropa eingewirkt hatten. Besonders in den Blick nahm er dabei die Situation in Ungarn, Bulgarien und Rumänien – allesamt Staaten, in denen ab 1941 hochrangige SA-Führer als deutsche Botschafter tätig gewesen waren und bald darauf »Judenberater« aus dem Reichssicherheitshauptamt die Ermordung der Juden koordiniert hatten.[6] Um die deutsche »Veranlassung« für die Judenverfolgungen in den fraglichen Ländern zu belegen, trug Münz zahlreiche amtliche Dokumente des NS-Staates zusammen, insbesondere von SS, Wehrmacht und Polizei. Solche Unterlagen waren seinerzeit oft nur mit großen Schwierigkeiten zu bekommen. Sehr wahrscheinlich half ihm unter anderem eine Empfehlung seines Doktorvaters, mit der er Zugang zu den bis dahin von der britischen Regierung nicht freigegebenen Dokumenten des ehemaligen deutschen Auswärtigen Amtes erhielt.[7] Auf diese Weise gelang es ihm, eine der ersten vergleichenden Studien zum Holocaust in Südosteuropa vorzulegen.

Das bedeutet keinesfalls, dass Münz in allen Aspekten zuzustimmen ist. Sachlich falsch war etwa seine Feststellung, dass der Antisemitismus in Rumänien vor 1933 »politisch als auch zahlenmäßig« unbedeutend gewesen sei (S. 167). Er irrte ebenso, wenn er notierte, dass die ungarische Regierung nach dem 1. April 1941 nicht mehr die Möglichkeit gehabt habe, die Erfüllung der deutschen Forderungen abzulehnen (S. 197). Tatsächlich war die Lage komplizierter gewesen: Ungarn hatte bis zur Besetzung des Landes durch deutsche Truppen im Frühjahr 1944 trotz der bereits zuvor eingeführten antisemitischen Gesetze die Deportation der einheimischen Juden verweigert, allerdings viele von ihnen zur Zwangsarbeit verpflichtet und zudem zwischen 16.000 und 18.000 »ausländische« Juden in den deutschen Herrschaftsbereich ausgewiesen, wo die allermeisten von ihnen ermordet wurden.[8] Dem grundsätzlichen Ansatz von Münz’ Arbeit, die Judenverfolgung in Osteuropa nicht isoliert zu betrachten, sondern als Ergebnis einer maßgeblich von Berlin aus »veranlassten« Gesamtpolitik, ist die zeithistorische Forschung in den späteren Jahrzehnten jedoch gefolgt. Unbestritten ist heute auch, dass die nationalsozialistische Politik spätestens von 1941 an die Vernichtung aller Juden in Europa zum Ziel hatte und dieses Ziel in den formal unabhängigen Satellitenstaaten des Reiches ebenfalls unnachgiebig verfolgte.

Eines der zentralen juristischen Ergebnisse von Münz’ Studie war, »daß die Frage der ›Veranlassung‹ auf Grund der ›de facto Abhängigkeit‹ des veranlaßten Staates zu entscheiden ist und nicht aus einer theoretischen Erwägung über die ›de iure Souveränität‹, die es in der Wirklichkeit nicht gibt« (S. 222). Seine Argumentation in diesem Punkt war wiederum historisch, und sein Ärger über juristische Manöver, die das aus seiner Sicht Offenkundige verschleierten, mit Händen zu greifen: »Wir gestehen, daß es uns nicht verständlich ist, wie man die n[ational]s[ozialistische] Veranlassung hinsichtlich der Judenverfolgungen im Ausland in Zweifel ziehen kann, nachdem sich die Nazis in unzähligen Dokumenten skrupellos und offen dazu bekannt haben. [...] Ohne Unterlaß versuchten die Nazis, auf die verschiedenen ausländischen Regierungen mit allen nur denkbaren Mitteln einzuwirken, damit diese auch bei sich die Judenfrage in einer der deutschen analogen Weise lösen sollten. [...] Judenberater und Polizeiattachés für jüdische Angelegenheiten wurden in die verschiedensten Staaten entsandt, diplomatische Noten in der Judenfrage an die verbündeten und neutralen Staaten gerichtet [...]. Besondere Einsatzkommandos wurden aufgestellt, die den Auftrag erhielten, die Juden im Operationsgebiet zu ›liquidieren‹. Die Volksdeutschen im Ausland wurden gegen die Juden mobilisiert. [...] Geschah das nicht alles, um die ausländischen Regierungen zu den Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden zu veranlassen? Wenn diese sowieso von sich aus die Absicht hatten, die Juden zu verfolgen, dann wäre doch der ganze n[ational]s[ozialistische] Einsatz umsonst gewesen.« (S. 223f.)

Ende der 1950er-Jahre, also in der Hochphase des Kalten Krieges, war die starre Blockbildung in Ost und West für die Rezeption dieser Studie denkbar ungünstig. Obwohl 1958 die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg gegründet wurde und ein Jahr später die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« hohe Wellen schlug, herrschte in weiten Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine »Schlussstrichmentalität« vor, die sich beim Thema Entschädigung von NS-Opfern und ihren Angehörigen in der Auffassung niederschlug, dass der westdeutsche Staat bereits (zu) hohe Entschädigungszahlungen an »die Juden« geleistet habe, wobei besonders auf das Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Israel aus dem Jahr 1952 verwiesen wurde – ein Abkommen, von dem allerdings die nicht nach Palästina/Israel ausgewanderten europäischen Juden kaum profitierten.[9] Unter seinem Pseudonym »Sagittarius« beklagte der Rechtsanwalt Walter Schwarz, einer der beiden Herausgeber der Fachzeitschrift »Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht«, dass in Politik und Gesellschaft zu selten verstanden werde, dass »Antragsteller und Behörde [...] auf dem Gebiet der Wiedergutmachung Rechtsgenossen« seien. Für eine »krasse Besserung« des wiedergutmachungsfeindlichen Klimas bestünden leider keine Aussichten.[10] Auch für die mit der Geschichte der NS-Zeit professionell befassten Historiker in der Bundesrepublik war die europäische Dimension der Judenverfolgung noch kein zentrales Thema – es dominierte zunächst die Erforschung der Geschehnisse im ehemaligen Deutschen Reich sowie in den unmittelbar angrenzenden Ländern.[11]

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Münz’ am 23. Juli 1958 abgeschlossenes Promotionsverfahren offenbar ohne Probleme über die Bühne ging. Doktorvater und erster Gutachter der Dissertation war Helmut Ridder, seit 1951 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt,[12] das Zweitgutachten schrieb sein Kollege Walter Mallmann.[13] Beide Juristen gehörten zu einer neuen Generation von nach dem Zweiten Weltkrieg berufenen Professoren, die sich als überzeugte Demokraten verstanden und restaurative Tendenzen in der bundesdeutschen Politik kritisierten. Unter den Talaren steckte bei genauerem Hinsehen eben keinesfalls immer der »Muff von tausend Jahren«, anders als es die Wortführer der Studentenbewegung ein Jahrzehnt später skandierten. Ridder setzte sich bereits im Vorfeld der Dissertationsprüfung für Münz ein, indem er mit Verweis auf dessen »überdurchschnittliche« Studienleistungen während der frühen 1930er-Jahre in Deutschland und der Schweiz erfolgreich beantragte, seinen Doktoranden vom Rigorosum zu befreien und die obligatorische mündliche Doktorprüfung auf zwei statt wie üblich drei Rechtsgebiete zu beschränken (entfallen sollte das dogmatisch anspruchsvolle bürgerliche Recht, mit dem Münz in Tel Aviv vermutlich kaum in Berührung gekommen war).[14]

In seinem Gutachten lobte Ridder nicht nur die »vernünftigen« Ergebnisse und deren »haltbare« Begründungen, sondern hob hervor, dass »der Verf. eine grosse Zahl von zeitgeschichtlichen Dokumenten zusammengetragen [hat], die u.a. seine Polemik gegen manche tendenziöse Gutachten zum Wiedergutmachungsrecht (wie sie z.B. unter den Auspizien der Hamburger völkerrechtlichen Forschungsstelle erstattet worden sind[15]), vollauf rechtfertigen.«[16] Ähnlich äußerte sich der Zweitgutachter Mallmann: »Die Arbeit fällt aus dem üblichen Rahmen der Dissertationen. Ihr Thema wie auch die Art, in der es bewältigt wird, hängen eng mit dem Lebensschicksal des Verfassers zusammen. Sie trägt manche Züge einer Kampfschrift, und wenn man auch nicht sagen kann, politische Leidenschaft habe dem Verfasser die Feder geführt, so schwingt sie – Leidenschaft im vollen Sinne des Wortes – doch in seinen Argumentationen, Auseinandersetzungen und Thesen mit.«[17] Dass Münz den politischen Vorgängen während des Zweiten Weltkrieges in seiner Arbeit breiten Raum einräumte, hielt Mallmann für angemessen. Für ihn stand außer Frage, dass Münz gerade auf diese Weise eine »wertvolle wissenschaftliche Leistung« erbracht habe, die – im Gegensatz zur »größtenteils versagende[n] Judikatur und Literatur« zum Paragraphen 43 BEG – zeige, dass die Frage der Entschädigung nur »von der vollen Kenntnis und dem richtigen Verständnis der politischen Grundlagen her« zu lösen sei.[18]

Die Argumentation der Gutachter lief darauf hinaus, dass die Rechtsprechung in Entschädigungsfragen sich künftig an Münz’ Dissertation orientieren solle. Ridder und Mallmann stimmten überein, dass die historisch-politische Erforschung des Völkermordes an den europäischen Juden die zwingende Voraussetzung dafür sei, dass die bundesdeutsche Rechtsprechung in der Zukunft überhaupt zu sachgerechten Urteilen kommen könne. So sah es 1959 auch Richard O. Graw, Rechtsanwalt im kalifornischen Berkeley, in seiner Würdigung von Münz’ Arbeit in der »Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht«. Er äußerte die Hoffnung, dass die »gründliche Arbeit [...] die Rechtsprechung zum § 43 BEG dahin beeinflussen [werde], daß der historischen Betrachtung die ihr zukommende entscheidende Bedeutung beigemessen wird«.[19]

Solche Hoffnungen erfüllten sich jedoch zunächst nicht: Münz’ Dissertation, die er umgehend an den Bundespräsidenten Theodor Heuss und vermutlich noch andere Spitzenpolitiker der Bundesrepublik versandte,[20] konnte Gesetzgeber und Rechtsprechung in der Bundesrepublik bis zum Ende des Kalten Krieges nicht dazu bewegen, überlebende Juden aus südosteuropäischen Ländern in den Kreis der Wiedergutmachungsberechtigten aufzunehmen.[21] Auch die Geschichtswissenschaft nahm von dem Buch kaum Notiz. Sehr zufrieden zeigte sich jedoch die United Restitution Organization (URO), eine 1948 in London gegründete und in den 1950er-Jahren bereits global agierende jüdische Rechtsschutz-Organisation, bei der Münz 1956, noch von Israel aus, um eine Art Promotionsstipendium nachgesucht hatte.[22] Die URO hatte eine finanzielle Unterstützung der Arbeit zunächst abgelehnt, weil sie nicht annahm, durch die Ergebnisse in konkreten Gerichtsverfahren erfolgreicher zu werden.[23] Allerdings setzte sich Kurt May, der Leiter des Frankfurter URO-Büros, im Januar 1958 bei Saul Kagan von der Jewish Claims Conference dafür ein, dass Münz ein Stipendium in Höhe von 3.000 DM erhalten solle. Er stamme »aus einer sehr guten, alten orthodoxen Familie«, verfüge aber über keinerlei Rücklagen und arbeite daher »wirklich von früh bis nachts [...], um so rasch als möglich fertig zu werden«.[24] Ob eine dieser beiden Organisationen die Arbeit von Münz letztendlich mitfinanziert hat, wird aus den überlieferten Unterlagen nicht deutlich. Sicher ist hingegen, dass Münz als frischgebackener Doktor der Rechte vom 1. März 1959 an für die URO als Berater tätig war und mehrere Denkschriften für deutsche Gerichte anfertigte, die mit Entschädigungsklagen befasst waren.[25] Sehr wahrscheinlich ist zudem, dass zwei von der URO veröffentlichte Broschüren maßgeblich von Münz ediert und teilweise mit Material bestückt wurden, das er ursprünglich für die Dissertation gesammelt hatte.[26]

Zumindest indirekt trugen seine Arbeiten dazu bei, dass im Bundesentschädigungs-Schlussgesetz (BEG-Schlussgesetz) von 1965 der Paragraph 43 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BEG um den Halbsatz ergänzt wurde, dass »bei dem von den Regierungen der Staaten Bulgarien, Rumänien und Ungarn aus Gründen der Rasse vorgenommenen Freiheitsentzug [...] der 6. April 1941 [d.h. der Beginn des Balkanfeldzugs der Wehrmacht] als Zeitpunkt für den Beginn der deutschen Veranlassung« galt.[27] Juden, die zwischen Frühjahr 1941 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges vom Deutschen Reich und seinen Verbündeten in Südosteuropa verfolgt worden waren und die zum Zeitpunkt der Wiedergutmachungs-Antragstellung in Israel oder den westlichen Staaten lebten, konnten nun Ansprüche geltend machen.

Auf »eigenen Wunsch« schied Münz bereits Ende November 1959 aus den Diensten der URO aus und kehrte zu seiner Familie nach Israel zurück, wo er zunächst wieder für das Finanzministerium arbeitete und parallel dazu das Studium der Rechte in Tel Aviv fortsetzte. Die dortige rechtswissenschaftliche Fakultät war seinerzeit eine Zweigstelle der Hebrew University. Diese verlieh Münz im Jahr 1965 den »Master of Laws« (LL.M.). Vom darauffolgenden Jahr an war er als Rechtsanwalt und Notar in Tel Aviv in eigener Praxis tätig, später gemeinsam mit seiner Tochter. Münz’ Interesse an der Geschichte und Entwicklung seines Geburtslandes riss nie ab. Noch im hohen Alter las er die deutschsprachigen »Israel Nachrichten«. Als diese 1978 über eine geplante Ausstellung zur Geschichte von »Juden in Mainz« berichteten, informierte er den Bürgermeister der Stadt über die einstige Sesshaftigkeit seiner Familie in dieser Region seit dem 14. Jahrhundert.[28] Recht und Geschichte, dass zeigt auch dieses Detail, waren für ihn zeitlebens untrennbar verbunden. Max Münz starb mit 87 Jahren am 15. September 2000 in Ramat-Gan bei Tel Aviv. Seine Person und sein Beitrag zur vergleichenden Erforschung des Holocaust sind heute vergessen, sowohl in Israel als auch in Deutschland. Für Zeithistoriker, die sich für das Engagement deutsch-jüdischer Juristen in der frühen Bundesrepublik und besonders für die Geschichte der »Wiedergutmachung« interessieren, lohnt die Lektüre dieser Pionierstudie jedoch unbedingt.

Anmerkungen:

[1] Nach Münz’ eigener Angabe ließ sich die Geschichte seine Familie, die zunächst in der Gegend um Mainz ansässig war, bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Spätere Generationen lebten in Polen, ehe die Familie im 19. Jahrhundert wieder in Preußen bzw. Deutschland nachweisbar ist. Max Münz’ Ur-Urgroßvater war der berühmte Rabbiner Elazar »Shemen Rokeach« Löw, sein Großvater der ebenfalls überregional bekannte Rabbiner Dr. Lazar Münz, der 1882 mit der auch im Druck erschienenen Rede »Die modernen Anklagen gegen das Judenthum als falsch nachgewiesen« hervortrat. Dessen ältester Sohn, Max’ Vater, war der Rechtsanwalt und Notar Dr. Josef Münz, der 1901 an der Friedrich-Alexander-Universität zu Erlangen mit einer Arbeit über das Notwehrrecht promoviert wurde und ab 1912 in Berlin als Rechtsanwalt tätig war (Schreiben von Dr. Max Münz an den Bürgermeister der Stadt Mainz, Herrn Dr. Anton Keim, vom 15.9.1978, in: Stadtarchiv Mainz, ZGS, E2/57; Rabbiner Dr. Lazar Münz, Nachruf, in: Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum, 20.1.1921, S. 6; Eintrag »Münz, Lazar Dr.«, in: Michael Brocke/Julius Carlebach [Hg.], Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945, Bd. 2, München 2009, S. 445f.).

[2] Vgl. Avraham Barkai, German Interests in the Haavara-Transfer Agreement 1933–1939, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute 35 (1990), S. 245-266.

[3] Die meisten der biographischen Angaben zu Münz sind seiner Promotionsakte entnommen: Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Universitätsarchiv (UAF), Abt. 116, Nr. 1045, Bl. 4f. (Schreiben Helmut Ridders an den Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, 28.5.1958), sowie Bl. 10f. (Schreiben Max Münz’ an die Juristische Fakultät, 12.11.1957). Für ergänzende Hinweise danke ich Frau Edna Weizmann, Haifa/Israel, Münz’ Tochter.

[4] Harry Maòr, Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945, phil. Diss. Johannes-Gutenberg-Universität Mainz 1961, S. 45. Für diesen Hinweis danke ich Tobias Freimüller, Frankfurt a.M.

[5] Zum damaligen Wortlaut des § 43 Absatz I des BEG siehe Bundesgesetzblatt I (1956), Nr. 31, 29.6.1956, S. 559-596, hier S. 569.

[6] Zur Bedeutung der SA-Führer in Südosteuropa als Diplomaten im Braunhemd vgl. Daniel Siemens, Stormtroopers. A New History of Hitler’s Brownshirts, London 2017, S. 280-304.

[7] Empfehlungsschreiben Ridders für Max Münz, 25.2.1958, in: UAF, Abt. 116, Nr. 1045, S. 7.

[8] Peter Longerich, Holocaust. The Nazi Persecution and Murder of the Jews, Oxford 2010, S. 167. Siehe außerdem Raz Segal, Genocide in the Carpathians. War, Social Breakdown, and Mass Violence, 1914–45, Stanford 2016; Krisztian Ungváry, Robbing the Dead: The Hungarian Contribution to the Holocaust, in: Beate Kosmala/Feliks Tych (Hg.), Facing the Nazi Genocide: Non-Jews and Jews in Europe, Berlin 2004, S. 231-261.

[9] Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, 2. Aufl. 2008, S. 219-232; Kristina Meyer, Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945–1990, Göttingen 2015, 2. Aufl. 2016, S. 167-192.

[10] Sagittarius [d.i. Walter Schwarz], Zum Klima, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 10 (1959) H. 2, S. 55.

[11] Michael Brenner/Maximilian Strnad (Hg.), Der Holocaust in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven, Göttingen 2012; Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, 3., durchges. Aufl. 2004.

[12] Geboren 1919 in Bocholt und aufgewachsen in einem katholischen geprägten Elternhaus, hatte Ridder nach einem Studium der Rechte in Münster, Freiburg, Köln und Jena sein erstes Staatsexamen 1940 abgelegt. Anschließend wurde er zum Heer einberufen und bald darauf zum Entschlüsselungsdienst ans Oberkommando des Heeres nach Berlin versetzt. Neben dieser militärischen Tätigkeit arbeitete er in einer Anwaltskanzlei. Nach Kriegsende wurde er in Münster promoviert mit einer (unveröffentlicht gebliebenen) Arbeit zum Thema »Wesen und Friedensaufgabe des Waffenstillstandes«, wurde anschließend Gastwissenschaftler in Cambridge und habilitierte sich 1950, wiederum in Münster. Im Jahr danach erreichte ihn ein Ruf auf eine Professur für Öffentliches Recht in Frankfurt a.M., den er annahm. Zur Biographie Ridders siehe Christoph Koch, »Politik ist die Praxis der Wissenschaft vom Notwendigen«. Helmut Ridder (1919–2007), in: ders. (Hg.), Politik ist die Praxis der Wissenschaft vom Notwendigen. Helmut Ridder (1919–2007), München 2010, S. 1-25.

[13] Geboren 1908 in Köln, hatte Mallmann als junger Erwachsener mit dem Nationalsozialismus sympathisiert. 1933 trat er in die SA ein, und 1937, nach dem Ende der Aufnahmesperre, wurde er Mitglied der NSDAP. Nach einem Studium der Rechte in Freiburg, München und Marburg wurde er 1935 in Marburg promoviert und arbeitete anschließend als Dozent in Tübingen. In jener Zeit äußerte er sich öffentlich kritisch gegen das NS-Regime, wurde denunziert und wegen politischer Unzuverlässigkeit gemaßregelt. Ein Habilitationsversuch scheiterte, weshalb Mallmann die Universität vorerst verließ und zwischen 1938 und 1946 als Lektor für das rechtswissenschaftliche Programm des Verlags C.H.Beck verantwortlich zeichnete. 1956 wurde er Honorarprofessor in Tübingen. Im Jahr danach erhielt er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt a.M. Einige Jahre später folgte er seinem Frankfurter Kollegen Ridder nach Gießen. Zur Biographie Mallmanns vgl. Gunter Kisker, Widmung, in: Otto Triffterer/Karl S. Bader (Hg.), Festschrift für Walter Mallmann em. o. ö. Professor des öffentlichen Rechts an der Justus-Liebig-Universität Gießen zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 1978, S. 11-15; Uwe Wesel, 250 Jahre rechtswissenschaftlicher Verlag C.H.Beck 1763–2013, München 2013, S. 147f.

[14] Schreiben Helmut Ridders an den Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, 28.5.1958, in: UAF, Abt. 116, Nr. 1045, Bl. 5.

[15] Gemeint war die Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht an der Universität Hamburg, die beinahe zeitgleich zur Dissertation von Münz zwei Bände zum Thema vorgelegt hatte: Hellmuth Hecker (Hg.), Praktische Fragen des Entschädigungsrechts – Judenverfolgung im Ausland, Hamburg 1958; ders. (Hg.), Praktische Fragen des Staatsangehörigkeits- und Entschädigungsrechts. Ergänzungsband, Hamburg 1958. Münz kritisierte beide Bände als unzureichend, da sie neu zugängliches Archivmaterial nicht berücksichtigten; zudem würden sie zahlreiche sachliche Fehler zur Reichweite der nationalsozialistischen Judenpolitik enthalten, da sie die Verfolgung in jedem Land nur »lokal« untersuchen wollten und damit den europäischen Charakter des Völkermordes verfehlten (Max Münz, Rezension in: JuristenZeitung 14 [1959], S. 508-510). Die Forschungsstelle ihrerseits reagierte auf solche Vorwürfe mit der Herausgabe einer Streitschrift, in der sie Münz einen »extrem ausweitenden Veranlassungsbegriff« und eine beträchtliche Überschreitung des »Rahmens der höchstrichterlichen Rechtsprechung« vorwarf (Thomas Oppermann, Deutsche Veranlassung im Sinne des § 43 Bundesentschädigungsgesetz. Zur Diskussion um die Auslandsverfolgungen, Hamburg 1960, v.a. S. 4f., S. 9, S. 41f.).

[16] Erstgutachten von Helmut Ridder zur Dissertation von Max Münz, 24.6.1958, in: UAF, Abt. 116, Nr. 1045, Bl. 18ff., hier S. 19.

[17] Zweitgutachten von Walter Mallmann zur Dissertation von Max Münz, 10.7.1958, in: ebd., Bl. 21f. (Hervorhebung im Original).

[18] Ebd.

[19] Richard O. Graw, Die Verantwortlichkeit für die Judenverfolgung im Ausland während der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 10 (1959), S. 151-153, hier S. 153.

[20] Der Bundespräsident dankte Münz für das »dokumentarische Buch«, das bestätige, »was in Stücken im Laufe der vergangenen Jahre schon dort und dort grausam in das Bewußtsein trat«, wie Heuss in der Sache höchst ausweichend formulierte (Schreiben von Theodor Heuss an Max Münz, 2.10.1958, in: Privatbesitz Edna Weizmann, Haifa, Israel).

[21] Zur Rechtsentwicklung vgl. Cornelius Pawlitta, »Wiedergutmachung« als Rechtsfrage? Die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (1945 bis 1990), Frankfurt a.M. 1993, besonders S. 310-322.

[22] Zur Geschichte der URO siehe Hans Günter Hockerts, Anwälte der Verfolgten. Die United Restitution Organization, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik, München 1989, S. 249-271; Norman Bentwich, The United Restitution Organisation 1948–1968. The Work of Restitution and Compensation for Victims of Nazi Oppression, London 1968. Der Verfasser dieses Beitrags arbeitet derzeit an einem neuen Forschungsprojekt zur URO.

[23] Schreiben von Ernst Katzenstein an Saul Kagan, 18.7.1956, in: Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem (CAHJP), URO/Frankfurt a.M., Sign. 501b.

[24] Schreiben von Kurt May an Saul Kagan, 8.1.1958, in: CAHJP, URO/Frankfurt a.M., Sign. 501a.

[25] Schreiben von Kurt May, Frankfurt a.M., »to whom it may concern«, 30.11.1959, in: Privatbesitz Edna Weizmann, Haifa, Israel.

[26] United Restitution Organization (Hg.), Dokumente über die Judenverfolgung im Ausland, Frankfurt a.M. 1959; dies. (Hg.), Judenverfolgung in Ungarn. Dokumentensammlung, Frankfurt a.M. 1959 (letztere Schrift mit Hinweis auf Münz’ Dissertation, aber ohne Kenntlichmachung der Zusammenarbeit zwischen der URO und ihm; siehe ebd., S. V). Resümierend: Franz Calvelli-Adorno, Die Dokumentationsarbeit der URO, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 16 (1965), S. 198f.

[27] BEG-Schlussgesetz, Art. I, Nr. 32, in: Bundesgesetzblatt I (1965), Nr. 52, 18.9.1965, S. 1315-1340, hier S. 1319. Vgl. auch Hockerts, Anwälte der Verfolgten (Anm. 22), S. 263, Anm. 50, sowie Calvelli-Adorno, Die Dokumentationsarbeit der URO (Anm. 26), S. 199.

[28] Schreiben von Dr. Max Münz an den Bürgermeister der Stadt Mainz, Herrn Dr. Anton Keim, 15.9.1978, in: Stadtarchiv Mainz, ZGS, E2/57.

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