Online Encyclopedia of Mass Violence (http://www.massviolence.org)
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Im April 2008 wurde in Gegenwart von Simone Veil, der früheren Präsidentin des EU-Parlaments, an der Pariser Universität Sciences Po eine neue und ambitionierte elektronische Informationsquelle freigeschaltet: die Enzyklopädie über Massengewalt oder „mass violence“, wie der Titel im Englischen heißt (das die bevorzugte Sprache dieser Website ist). Das Projekt ist also noch jung, und so nimmt es nicht wunder, dass es trotz einer fast vierjährigen Vorlaufphase nicht frei von Startproblemen ist. Sie liegen zum Teil im monumentalen, aber noch unzureichend eingelösten Dokumentationsanspruch der Enzyklopädie, vor allem aber in der unscharfen Bestimmung dessen, was dokumentiert werden soll.
Wie die Startseite und ein einführender Text des Initiators und Projektleiters Jacques Sémelin erklären, soll die Enzyklopädie eine regelmäßig aktualisierte Datenbank aller Massaker und Genozide des 20. Jahrhunderts bereitstellen; die Fortführung ins 21. Jahrhundert ist zu erwarten. Anders als manche vorhandenen elektronischen Informationsquellen (Wikipedia & Co.) soll diese nicht auf spontaner Mitwirkung von Internetnutzern beruhen, sondern wissenschaftlichen Standards genügen und so staatlichen wie nicht-staatlichen Entscheidungsträgern, Journalisten und Rechtsexperten, nicht zuletzt Lehrern und Studenten in zuverlässiger Weise zur Seite stehen. Im Unterschied zu den exzellenten Websites renommierter Holocaust-Forschungszentren und Memorials wie Yad Vashem oder des United States Holocaust Memorial Museum1 beschränkt sich nicht auf einen Genozid, sondern beansprucht globale Vollständigkeit; im Unterschied zu politisch gefärbten Websites vermeidet diese im Übrigen eine mehr oder weniger offensichtliche Tendenz. Das ist löblich, und insbesondere der umfassende Dokumentationsanspruch lässt ein beeindruckend detalliertes Werk erwarten, wenn es denn einmal weiter fortgeschritten ist. Die beteiligten Institutionen bzw. Förderer sind neben der Universität Sciences Po das Centre d’Etudes et de Recherches Internationales (CERI), das Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), die Fondation pour la mémoire de la Shoah, das Hamburger Institut für Sozialforschung, das Mémorial de Caen und die Communauté urbaine du grand Nancy.
Die Informationsleisten führen zu drei unterschiedlich organisierten Rubriken. Eine verspricht ein Glossar, das bisher erst wenige, wiewohl zentrale Begriffe und auch erst jüngst in die Diskussion gekommene Termini wie „Classicide“, „Ecocide“, „Femicide“ oder „Fratricide“ erläutert. Zweitens gibt es „Theoretical Papers“, die nicht nur theoretische Debatten, sondern auch empirische Fragen behandeln, faktisch dem Aufsatzteil einer wissenschaftlichen Zeitschrift entsprechen und auch woanders hätten veröffentlicht werden können. Norman Naimark zum Beispiel bietet hier eine konzise Zusammenfassung seiner Studien zur „ethnischen Säuberung“, David El Kenz steuert einen Aufsatz zu Massakern im Kontext der Religionskriege bei, und A. Dirk Moses feuert eine Breitseite ab gegen die „Liberal Theory of Genocide“ und damit so ziemlich gegen alle, die in der Genozidforschung Rang und Namen haben (einschließlich einiger Mitglieder des Advisory Board der Website). Aus seiner gewiss berechtigten Sicht werden die nicht- oder halbstaatliche genozidale Gewalt der Siedlergesellschaften wie der australischen oder der nordamerikanischen bisher zu wenig berücksichtigt. Diese (noch wenigen) Beiträge lassen eine ausgeprägte und sehr begrüßenswerte Diskussionsbereitschaft erkennen.
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Das Herzstück der Website ist jedoch nicht der Aufsatzteil oder das Glossar, sondern die Dokumentation, die den jeweiligen Forschungsstand zusammenfasst oder auf eigener Forschung basiert. Sie wartet mit den Kategorien „Chronological Indexes“, „Case Studies“ und „Scholarly Reviews“ auf, die zu alphabetischen, nach Kontinenten und Großregionen gegliederten Länderlisten führen. So wird angestrebt, Ereignisse von „mass violence“ für praktisch jedes Land und jede politische Region der Erde zu katalogisieren und zu analysieren. Dabei ist bereits jetzt ein außerordentlich beeindruckender geographischer Radius erkennbar. Die Themen der veröffentlichten Beiträge reichen von der Deportation der Krimtataren unter Stalin über die „Kristallnacht“ 1938, die Bombardierung etwa Dresdens 1945 zu den Massakern in Sri Lanka 1983. Von solchen Ausnahmen abgesehen, sind die Länderabschnitte allerdings noch nicht mit Inhalt gefüllt, so dass ihr wissenschaftlicher Wert derzeit nicht wirklich zu beurteilen ist. Etwas ärgerlich ist es, dass die Indexseiten eine lange Liste von „latest“ und „previous contributions“ enthalten, der Benutzer beim Anklicken der Titel jedoch belehrt wird, dass der betreffende Beitrag das interne Revisionsverfahren noch gar nicht passiert, sondern (so in den meisten Fällen) erst den ersten oder zweiten von sechs Entwicklungsstadien durchlaufen habe und „hoffentlich“ bald zur Verfügung stehe. Diese zeitraubende Irreführung sollte alsbald beseitigt werden.
Das Potential des dokumentarischen Teils liegt im Übrigen nicht nur im Detailreichtum, sondern in der Vergleichbarkeit der verschiedenen Ereignisse massenhafter Gewalt. Von einer Internetressource wie dieser erwartet man übersichtliche Informationen - Daten unterschiedlichster Art zu Ursachen, Verlauf und Folgen von Ereignissen massenhafter Gewalt, Daten zu Opferzahlen, Tätergruppen, Namen, Orte usw. Es bleibt abzuwarten, inwieweit es den Organisatoren gelingt, standardisierte Beiträge einzuwerben, die mehr und andere Informationen bieten als das, was man bekommt, wenn man die mittlerweile ja durchaus reichhaltige und leicht greifbare gedruckte Literatur zu Genoziden und Massakern rund um den Erdball konsultiert.2 Zu den Massakern in den algerischen Orten Sétif und Guelma nach dem 8. Mai 1945 zum Beispiel bietet Jean-Pierre Peyroulou eine konzise und vorbildlich gegliederte Fallstudie; nach einer Ereignisskizze informiert sie in sechs Abschnitten über den Kontext, die Täter, die Opfer, die Zeugen und Zeugnisse, die kollektive Erinnerung, die Analyse und Interpretation der Ereignisse und schließt mit einer Bibliographie ab. Nicolas Werth dagegen steuert eine nicht minder solide Fallstudie zu den ukrainischen Hungerkatastrophen von 1932/33 bei, die jedoch chronologisch gegliedert ist und abschließend den genozidalen Charakter erläutert. Das ist ein sinnvolles alternatives Ordnungskonzept, aber der Benutzer wäre dankbar, wenn die Fallstudien entweder einem einheitlichen Gliederungsschema folgen würden oder mit ihnen eine eigene Rubrik verbunden wäre, die vergleichbare Basisdaten liefern würde. Das, was in den verschiedenen Rubriken der Online-Enzyklopädie bisher an Texten und Textbausteinen versammelt ist, befindet sich zwar durchweg auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau, vermittelt aber gleichzeitig den Eindruck einer gewissen Zufälligkeit und Beliebigkeit, was Auswahl und vor allem inhaltliche Strukturierung angeht. Es ist daher durchaus unklar, ob diese Online-Ressource ähnlich professionelle Standards entwickeln kann, wie es den elektronischen Holocaust-Enzyklopädien aus Washington und Jerusalem gelungen ist (s.o., Anm. 1).
Damit ist auch das Problem konzeptioneller Weite und Schärfe angesprochen. Was ist „mass violence“, also massenhafte Gewalt oder Massengewalt? Mit entsprechenden Stellungnahmen hält sich die neue Online-Enzyklopädie sehr zurück. Die einzige ernsthafte Antwort ist enthalten in einem sechsseitigen Positionspapier von Jacques Sémelin, das als pdf-Datei verfügbar ist. Sémelin ist vor allem bekannt durch sein Buch „Säubern und Vernichten“, das enge Genoziddefinitionen wie diejenige Raphael Lemkins und der UNO in Frage stellt.3 In dem Projektpapier weist Sémelin auf die Bedeutungsausweitung hin, die der Begriff „Genozid“ im Laufe der Zeit erfahren habe; oft werde er inflationär benutzt, um „das Verbrechen der Verbrechen“ gegen unbewaffnete Bevölkerungsgruppen zu markieren. Dies und die Tatsache, dass es noch nicht einmal der Wissenschaft gelungen sei, eine allgemeinverbindliche Definition zu finden, hat die Autoren dieser Website veranlasst, auf den - wie sie finden - neutraleren und allgemeineren Begriff „mass violence“ auszuweichen. Darunter verstehen sie „human phenomena of collective destructiveness which are primarily due to political, social, religious or cultural causes“. Naturkatastrophen und technologisch bedingte Unfälle bleiben außer Betracht, desgleichen Dikaturen und Unterdrückung, die nicht zu Massentod geführt haben. Besondere Aufmerksamkeit gilt dagegen Massakern, auch wenn sie nicht die Auslöschung ganzer Volksgruppen nach sich gezogen haben. Darüber hinaus soll mit dem Begriff „mass violence“ ein weiterer Rahmen abgesteckt werden, der auch religiöse oder ethnische Ausschreitungen, Deportationen und planvolle Hungerkatastrophen einbezieht.
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Wo aber sind die Grenzen? Deportationen und das, was seit einiger Zeit als „ethnische Säuberung“ („ethnic cleansing“) diskutiert wird, führt nicht notwendigerweise zu kollektivem Mord, wie das Beispiel der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa 1945 zeigt. So sinnvoll es ist, die juristischen Engführungen, politisch motivierten Einseitigkeiten und die populäre Bedeutungsinflation des Begriffs „Genozid“ zu überwinden, so problematisch ist es, mit einem Alternativbegriff wie „mass violence“ zu arbeiten, dem jede Trennschärfe fehlt und der noch schwieriger zu definieren ist als der Genozidbegriff. „Mass violence“ soll, so Sémelin, die „Vielfalt von tödlichem Verhalten“ beschreiben; gleichzeitig jedoch wird der Begriff zu eng verwendet. Allem Anschein nach sollen so genannte konventionelle oder reguläre Kriege nicht dokumentiert werden. Sémelins Positionspapier dekretiert, dass der Begriff „mass violence“ nicht zusammenfalle mit bewaffneten Auseinandersetzungen im Krieg, sondern all jene (physische) Gewalt bezeichne, die direkt oder indirekt zivile Bevölkerungen betreffe, in oder außerhalb von Kriegen. Warum diese Engführung? Müssen Schlachten wie diejenige vor Verdun oder an der Somme, um Stalingrad oder um Kursk nicht ebenfalls als „mass violence“ gelten? Abgesehen davon, dass dieser Begriff nach üblichem Verständnis reguläre Kriege und Schlachten zwischen Kombattanten durchaus einschließt, drängt sich die Frage auf, welche Kriege des 20. Jahrhunderts (dem von der Website anvisierten Zeitraum) überhaupt ohne mehr oder weniger starke aktive oder passive Teilnahme der Zivilbevölkerung ausgefochten wurden.
Der englische Historiker Martin Shaw, Mitglied des Advisory Board der Website, hat in einem Buch und in mehreren Artikeln (einer davon auch hier verfügbar als „Theoretical Paper“) auf den generell hybriden Charakter und die fließenden Grenzen zwischen Kriegen und Genoziden hingewiesen.4 War dies in der frühen, von Raphael Lemkin angeleiteten Diskussion um den Begriff „Genozid“ sowie insbesondere in den Nürnberger Prozessen durchaus noch gegenwärtig (in Gestalt der Unterscheidung von legalen und illegalen Kriegen), so löste die Genozid-Konvention der UNO 1948 den Begriff aus dem Kontext von Kriegen heraus. Das hatte eine Reihe von Ursachen; das Interesse der politischen und militärischen Akteure, die sich auf die Ächtung von Genoziden, nicht aber generell von Kriegen einigen mochten, ist offensichtlich. Dagegen ist mit Shaw (und anderen) aus historischer Perspektive daran festzuhalten, dass Kriege der bedeutendste Generierungs- oder Kontextfaktor von Genoziden sind. Das gilt ganz besonders im 20. Jahrhundert mit der ihm eigenen Tendenz zur Totalisierung von Kriegen. Totale Kriege zielen darauf ab, alle ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Ressourcen zu mobilisieren sowie diese auf der Gegnerseite zu schwächen und zu zerstören. Das bedeutet nicht, dass es zwischen Krieg und Genozid keine Grenzen mehr gäbe, aber diese Grenzen werden äußerst unscharf. Man mag strategische oder taktische Entscheidungen wie die britischen und amerikanischen Bombardierungen deutscher oder japanischer Zivilisten im Zweiten Weltkrieg nicht als genozidal kategorisieren, weil sie als Mittel zum Zweck der militärischen Unterwer-fung, nicht jedoch der physischen Zerstörung des Feindes gesehen wurden. Aber: „Total warfare becomes directly genocidal when the destruction of the enemy civilian society becomes an end in itself, as it did during the Japanese invasion of China and of the German invasion of Poland and the Soviet Union.“5 Gerade die deutsche militärische Tradition hat mit der Aufblähung des Begründungsmusters „militärische Notwendigkeit“ ein Instrumentarium geschaffen, das hervorragend geignet war, genozidale Kriege (zum Beispiel in Südwestafrika ab 1904, dann auch zu Beginn des Ersten Weltkriegs, vor allem aber seit 1939) mit dem Schleier traditioneller militärischer Denkmuster zu verhüllen.6 Damit ist natürlich nur ein Beispiel herausgegriffen, das zeigt, wie leicht konventionelle Kriege in Genozide übergehen. Koloniale und postkoloniale Kriege bieten erschreckend reichhaltige weitere Beispiele. Zu Recht stellt Shaw daher fest, dass die Probleme von Genoziden und Kriegen so eng miteinander verwoben sind, dass sie innerhalb eines gemeinsamen analytischen Rahmens untersucht werden müssen.
Die neue Online-Enzyklopädie http://www.massviolence.org wäre ein vorzüglicher Platz, diesen Rahmen zu schaffen und zu debattieren - und so auch die Defizite ihrer theoretischen und konzeptionellen Unterfütterung auszugleichen. Das anvisierte breite Publikum, das über die Fachwissenschaft weit hinausgeht, sollte nachvollziehen können, warum manche Kriege und Kriegssituationen zu Genoziden führen oder Massaker generieren und andere nicht. Das ist nur möglich, wenn der Begriff „massenhafte Gewalt“ ohne künstliche Engführung angewandt und auch auf Kriege schlechthin bezogen wird - nicht nur auf Genozide und Massaker. Damit freilich ist, ebenso wie mit den Vorschlägen zur formalen Systematisierung der Beiträge, ein gewisses Maß an Reorganisation eingefordert. Sie würde gewährleisten, dass aus einem hoffnungsvollen und ambitiösen Projekt ein wirklicher Erfolg und Meilenstein des virtuellen Wissens wird.
1 <http://www.yadvashem.org/yv/en/holocaust/index.asp>; <http://www.ushmm.org/wlc/en/>.
2 Siehe nur Israel W. Charny (Hg.), Encyclopedia of Genocide, 2 Bde., Santa Barbara 1999; Dinah L. Shelton (Hg.), Encyclopedia of Genocide and Crimes Against Humanity, 3 Bde., London 2004.
3 Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg 2007.
4 <http://www.massviolence.org/War-and-Genocide-A-Sociological-Approach> (November 2007); ausführlicher Martin Shaw, War and Genocide. Organised Killing in Modern Society, Cambridge 2003; konziser ders., The general hybridity of war and genocide, in: Journal of Genocide Research 9 (2003), S. 461-473.
5 Shaw, The general hybridity (Anm. 4), S. 467.
6 Vgl. insbesondere Isabel V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005, und Manfred Messerschmidt, Völkerrecht und „Kriegsnotwendigkeit“ in der deutschen militärischen Tradition seit den Einigungskriegen, in: German Studies Review 6 (1983), S. 237-269.