2. Grundlagen und Voraussetzungen des amerikanischen Imperiums
3. Ausbau und Strukturprobleme des amerikanischen Imperiums
4. Zusammenfassung
1. Das ungeliebte Imperium: Zum Stand der Debatte
Heute kann kaum noch ernsthaft bestritten werden, dass es sich bei den Vereinigten Staaten von Amerika um ein Imperium handelt. Dennoch wird über diese Frage weiterhin kontrovers diskutiert, was auf eine Reihe ungelöster Probleme hinweist. Und selbst wenn die faktische Existenz eines US-amerikanischen Imperiums akzeptiert wird, bleibt vielfach ungeklärt, von welchem Zeitpunkt an man sinnvollerweise vom imperialen Charakter der USA reden kann. Diesen beiden Aspekten soll der vorliegende Aufsatz nachgehen.
In einem ersten Anlauf müssen einige definitorische Fragen geklärt werden. Dabei ergibt sich die methodische Schwierigkeit, dass jede Definition bereits die eigene Stellungnahme zu den USA als Imperium präjudiziert. Wer aus weltanschaulichen Gründen von den USA nur als Hegemon oder globaler Supermacht, nicht aber als Imperium spricht, bedient sich bevorzugt einer strikten Definition. Demnach handelt es sich nur bei solchen Staaten um Imperien, die eine direkte, unmittelbare und umfassende Kontrolle über andere Territorien ausüben. Diese enge Definition hat den Vorteil, Genauigkeit und Klarheit zu suggerieren. In ihrer terminologischen Rigidität liegt aber auch ihr Nachteil. Im Grunde kann sie bereits weite Teile des britischen Empire, insofern es nämlich dem Konzept der informal rule unterworfen war, nur bedingt fassen. Gleichzeitig müssten die Verfechter der engen Definition paradoxerweise die USA des Jahres 1848 - nach dem Annektionsfrieden von Guadeloupe Hidalgo, welcher der relativ schwachen Republik erhebliche Gebietserweiterungen auf Kosten Mexikos bescherte - als imperial kategorisieren, während sie den globalen Weltmachtstatus der USA der Gegenwart semantisch verschleiern. Auch die vor allem von politologischer Seite gelegentlich vertretene Sicht, der Begriff des Imperiums sei vager als das angeblich wohldefinierte Konzept der Hegemonie,1 vermag nicht zu überzeugen. Die Definition Paul Schroeders, Hegemonie meine eine klare, anerkannte Führungsfähigkeit und den dominanten Einfluss einer politischen Einheit in einer Gemeinschaft solcher Einheiten, die nicht unter einer einzigen Autorität stehen, unterscheidet sich inhaltlich kaum von einem erweiterten Imperiumsbegriff und ist daher ebenso handhabbar wie dieser. Auch die Feststellung, die Reichweite und Grenzen des amerikanischen Imperiums seien nie exakt bestimmt worden, geht am Problem vorbei, gerade wenn man Schroeder darin folgt, auch informelle Herrschaft als Hegemonie zu bezeichnen. Die Entgrenzung von Macht- und Sicherheitsinteressen gehört zu den wichtigsten Kennzeichen eines Imperiums. Dies gilt möglicherweise umso mehr für die USA der postnationalen Gegenwart, wenn man den Befund von Charles S. Maier ernstnimmt, demzufolge Territorialität, also klar abgrenzbare, durchherrschte Räumlichkeit, zu den signifikanten Merkmalen des endenden Zeitalters national organisierter Territorialstaaten gehörte.2 Für das postnationale, entterritorialisierte Imperium gibt es demnach kein definierbares Sicherheitsglacis mehr, denn der gesamte Globus ist sicherheitsrelevant.
Es empfiehlt sich demnach, der Mehrheit der Forscher zu folgen und einen weiteren Begriff von Imperium zugrundezulegen. In diesem Verständnis ist dann von einem Imperium zu sprechen, wenn ein Staat in der Lage ist, eine hierarchische zwischenstaatliche Ordnung aufzubauen und zu wahren.3 Niall Ferguson hat neben der politischen Kontrolle auch die Faktoren kultureller und ökonomischer Machtausübung betont.4 Damit hat er die Diskussion um einen wichtigen Gesichtspunkt bereichert, der gerade für die USA von großer Bedeutung ist. Vielfach kann man sich nämlich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Probleme rund um das Konzept Imperium oder Empire immer noch so abgehandelt werden, als existiere ein von sozioökonomischen und soziokulturellen Interessen, Vorgaben und Strukturen freier Arkanbereich internationaler Beziehungen, der primär durch imperiale oder nationale Sicherheitsinteressen bestimmt werde. Besonders Herfried Münklers Analyse der „Logik der Weltherrschaft“ ist von einer derartigen Fixierung auf machtpolitische Faktoren nicht ganz frei. Damit läuft man aber Gefahr, imperiale Politik in das starre Prokrustesbett einer angeblich strukturbedingten und damit zugleich eindimensionalen, weil alternativlosen machtpolitischen Logik zu pressen. Gleichzeitig fällt man deutlich hinter den Stand der neueren Forschung zur Bedeutung und Funktion etwa kultureller Momente im Bereich der internationalen Beziehungen zurück.5 Gerade die Außenpolitik einer offenen, auf Massenpartizipation angelegten Gesellschaft sollte nicht unabhängig von ihren konkreten kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten analysiert werden.
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Der zweite Anlauf zur Klärung von Einwänden muss eher auf einer weltanschaulichen Ebene einsetzen. Wenn sich Vertreter der aktuellen US-amerikanischen Administration, darunter George W. Bush oder Donald Rumsfeld, wiederholt vehement dagegen gewehrt haben, die USA als Imperium zu bezeichnen, hat dies wenig mit wissenschaftlichen Debatten über eine akkurate Terminologie zu tun. Vielmehr handelt es sich um den politischen Versuch, ungewollte Konnotationen nach außen wie nach innen zu vermeiden. Dies hängt mit der Vorgeschichte der Begriffe Imperium und Imperialismus zusammen. In der Phase des Kalten Kriegs, aber auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR, als die USA zur letzten verbleibenden Supermacht aufstiegen, waren es vornehmlich marxistische und neomarxistische Forscher, die gegenüber den USA den Vorwurf erhoben, imperialistisch oder ein Imperium zu sein.6 Das gesamte Konzept wurde auf diese Weise pejorativ besetzt. Die Nachwirkungen sind bis heute auch außerhalb der Vereinigten Staaten im bürgerlichen, „proamerikanischen“ Lager der Historiker- und Politologenzunft spürbar.
Dennoch griffe es zu kurz, die seit 2001 neuerlich laufende Debatte ausschließlich vor dem Hintergrund langfristig etablierter ideologischer Vorgaben aus der Zeit des Kalten Krieges heraus begreifen zu wollen. Sowohl in Europa als auch in den USA haben sich die Frontlinien verschoben. Ausgerechnet im intellektuellen Umfeld der Bush-Administration nämlich, bei den neokonservativen Vordenkern einer offensiveren US-amerikanischen Außenpolitik, ist es inzwischen üblich geworden, von den USA als Imperium zu sprechen.7 Damit nehmen die Neokonservativen eine ältere Tradition der US-amerikanischen Liberalen wieder auf, die ihrerseits in den USA eine Art benevolenten Hegemon in der multilateralen Tradition Wilsons und Roosevelts erblickten.8 Was Neokonservative und Liberale in dieser Debatte verbindet, ist der Glaube an universale Werte, etwa die Menschenrechte, die demokratische Staatsordnung, die freie Marktwirtschaft etc., zu deren Durchsetzung oder Erhalt imperiale Strukturen sinnvoll und nützlich sein können. Das bedeutet indes keine Einigkeit in instrumentellen Fragen. Im Gegensatz zu den militärgläubigen Neokonservativen und deren Primat der unilateralen Stärke tendieren die Liberalen bevorzugt zu einem multilateralen Politikverständnis. Überdies sind sie eher als die Neokonservativen zu einer gleichermaßen ethisch wie strukturell begründeten Kritik des Imperiums in der Lage, während sich die Neokonservativen häufig durch einen Mangel an analytischer Tiefenschärfe auszeichnen, die sie durch eine schneidige Sprachgebung wettzumachen versuchen. Dennoch stehen beide Gruppen in derselben Traditionslinie, dem lockeanischen Liberalismus.9
Demgegenüber wird der antiimperiale Diskurs in den USA gegenwärtig in erster Linie auf der Basis der tugendrepublikanischen doktrinären Tradition geführt.10 Anders als der werteuniversalistische Liberalismus neigte die republikanische Tradition von jeher eher zum Partikularismus vormoderner Prägung. Es waren vor allem Thomas Jefferson und Andrew Jackson, die dem Republikanismus mit Hilfe ihrer Utopie von einem demokratisch-kleinagrarisch ausgerichteten Amerika eine besondere Färbung gaben, die sich im 20. Jahrhundert bevorzugt in den Radikalismen von links und rechts, aber auch im älteren conservatism manifestierten.11 Zu den altkonservativen Verfechtern eines dezidiert isolationistischen Antiimperialismus gehört heutzutage etwa Pat Buchanan. Allerdings wäre es falsch, dieser Konstellation im Hinblick auf den imperialen Status der USA eine innere weltanschauliche Notwendigkeit zuzusprechen, obwohl der Gegensatz von Universalismus und Partikularismus darauf hinzudeuten scheint. Ganz im Gegenteil war es im Laufe der amerikanischen Geschichte so, dass beide säkularen Fundamentalideologien der USA in wechselnden Mischungsverhältnissen auch das weltanschauliche Denken über Imperialismus und Antiimperialismus beeinflussten.12 Welche Argumentationsmuster abgerufen wurden, hing durchweg von der gegebenen Situation ab.13
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Dieser Umstand verweist auf den dritten und für den binnenamerikanischen Kontext wohl bedeutendsten Grund für den permanenten „Zustand entschiedener Leugnung“14 des imperialen Charakters der USA: die eigene antiimperiale Vergangenheit. Immerhin waren die USA im späten 18. Jahrhundert aus dem Kampf gegen das britische Empire entstanden. Für die Mehrheit der Amerikaner, seien sie liberal-universalistisch oder republikanisch-partikularistisch geprägt, ist es bis heute unvorstellbar, diese Säule des Selbstverständnisses aufzugeben. Vor allem fürchtet ein erheblicher Anteil amerikanischer Bürger, der Wandel von der Republik der Freien und Gleichen zum Imperium werde zum Verlust genau jener bürgerlichen Rechte und Freiheiten führen, zu deren Verteidigung die Gründerväter einst gegen die Briten zu Felde zogen. In der traditionellen politischen Semantik der USA werden die Begriffe empire, Monarchie und Despotie oder Tyrannei daher gern synonym verwendet. Damit wird ein zentraler Nerv US-amerikanischer Identität berührt, der es verständlich macht, warum die Idee des amerikanischen Imperiums in den USA gegenwärtig lediglich Gegenstand interner Diskussionen in den akademischen Zirkeln liberaler und neokonservativer Intellektueller ist, während sich die Administration offenkundig zurückhält.15
Damit dürfte einsichtig geworden sein, warum die US-amerikanische, aber zum Teil auch die von proamerikanischen Atlantikern geführte Diskussion über Gestalt und Charakter des amerikanischen Imperiums sich oft in gekünstelt wirkenden Bahnen bewegt. Demgegenüber soll hier aus analytischer Perspektive von der Existenz eines amerikanischen Imperiums ausgegangen werden. In einem ersten Schritt werde ich die strukturellen Ursachen und Möglichkeitsbedingungen des amerikanischen Imperiums seit dem 18. und 19. Jahrhundert beschreiben. Hier liegt der systematisch ausgerichtete Schwerpunkt meiner Interpretation, bei der diachrone und synchrone Elemente im Interesse historischer Tiefenschärfe miteinander gekoppelt werden. In einem zweiten Schritt werde ich den historischen Ausbau und die Strukturprobleme der USA in ihrer Funktion als globaler Ordnungsmacht im 20. und 21. Jahrhundert diskutieren. Dabei gehe ich von der These aus, dass die USA ein Imperium mit der Seele eines Nationalstaates sind, um ein bekanntes Wort des britischen Publizisten Gilbert Keith Chesterton abzuwandeln. Die dialektische Spannung zwischen universalem Anspruch und nationaler, oft selbstbezüglicher Realität der politischen Kultur verleiht dem politischen Handeln der USA eine große Dynamik, macht es aber fraglich, ob sie die von Peter Bender eingeforderte „augusteische Wende“ in ihrer imperialen Entwicklung wirklich zu vollziehen vermögen.16
2. Grundlagen und Voraussetzungen des amerikanischen Imperiums
Wenn in der Folge von strukturellen Ursachen und Bedingungen für das Entstehen des amerikanischen Imperiums die Rede ist, dann sind damit allenfalls hinreichende, aber keine notwendigen Voraussetzungen gemeint. Imperien verdanken sich stets zu einem guten Teil historischer Kontingenz. Gleichwohl wird zu zeigen sein, wie wichtig die historische Dimension für das Selbstverständnis und das Handeln des amerikanischen Imperiums ist. Man griffe methodisch entschieden zu kurz, wollte man den Aufstieg der USA bloß vor dem Hintergrund von Ereignissen der jüngeren Zeitgeschichte begreifen.
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2.1. Die geographischen Faktoren. In den 1780er-Jahren und auch später hätte kaum ein europäischer Staatsmann auf den Eintritt der jungen amerikanischen Republik in den Kreis der Weltmächte gewettet. Etwas überspitzt gesagt, hätte man die Vereinigten Staaten über einen längeren Zeitraum des 19. Jahrhunderts als Krisenfaktor betrachten können, wenn sie nicht so abgelegen gewesen wären. Nach heutigen Maßstäben wären sie sogar ein Kandidat für eine UN-Intervention gewesen: Drei unprovozierte Angriffskriege in einem Jahrhundert (1812, 1846 und 1898), beständige Interventionen in den lateinamerikanischen Nachbarstaaten, ein blutiger Bürgerkrieg mit 700.000 Toten, massive, rassistisch motivierte Menschenrechtsverletzungen durch die Sklaverei, ein Genozid (an den Indianern), die offenkundige gesellschaftliche Benachteiligung ethnisch-religiöser Minderheiten sowie ständige innere Gewalt (zum Beispiel die gang wars der Großstädte) - all dies legte den Gedanken an eine künftige globale Führungsrolle der USA nicht unbedingt nahe.
Trotzdem wäre eine derart finstere Sicht bereits im 19. Jahrhundert strukturell unangemessen gewesen. Die USA verfügten über ein großes sozioökonomisches und kulturelles Potenzial, das durch naturräumliche Gegebenheiten noch begünstigt wurde. Dazu gehörte in erster Linie die Lage der amerikanischen Republik an der Peripherie des europäisch definierten und dominierten Mächtesystems der Zeit nach dem Wiener Kongress. Die Abgeschiedenheit beruhte erkennbar auf der Weite des Atlantischen Ozeans, der die USA, aber auch ihre lateinamerikanischen Nachbarstaaten vor möglichen Interventionen schützte. Dieser Effekt wurde durch den Schutz der meerbeherrschenden britischen Royal Navy noch verstärkt. Obwohl die Briten und die US-Amerikaner bis in die 1890er-Jahre beständig am Rande eines bewaffneten Konflikts lebten, hatte Großbritannien aus ökonomischen und politisch-weltanschaulichen Gründen ein genuines Interesse daran, die eben gewonnene Unabhängigkeit der amerikanischen Freistaaten vor dem Zugriff der konservativ-antirevolutionären und protektionistischen Mächte Kontinentaleuropas zu schützen. Hier lag der Hintergrund für die Monroe-Doktrin.17 Insgesamt ist die Funktion geographischer Abgeschiedenheit vom machtpolitischen Zentrum einer Epoche beim Aufstieg zu imperialer Größe kaum weiter verwunderlich, nachdem die Peripherie als Ausgangspunkt des imperialen Zyklus schon lange Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung geworden ist.18
Allerdings darf man periphere Abgeschiedenheit nicht mit Isolation verwechseln. Peter Bender beispielsweise überzieht diesen Punkt.19 Zum einen deuten die Untersuchungen von David Landes und Christopher A. Bayly darauf hin, dass Konkurrenz und nicht Isolation strategische Wettbewerbsvorteile im Ringen um Hegemonie mit sich bringen kann.20 Die USA waren nie wirklich isoliert; sie sahen sich von Beginn an mit lateinamerikanischen, aber auch europäischen Angelegenheiten konfrontiert.21 Infolge ihrer ökonomischen und handelspolitischen Verflechtungen waren die USA auch in sämtliche Weltwirtschaftskrisen der Epoche eingebunden (1837, 1857, 1873 und 1893). Sogar auf der militärischen und machtpolitischen Ebene waren die USA präsent: Im Zeitraum von 1803 bis 1934 brachten die USA 180 Auslandseinsätze ihrer Truppen hinter sich - besonders in Lateinamerika, aber auch in Übersee.22 Obwohl es nur 1812 und 1898 zum Krieg kam, war man sich in Washington bewusst, in das weltweite Gefüge der europäischen Mächtepolitik integriert zu sein. Es lässt sich also schlussfolgern, dass die naturräumliche Abgeschiedenheit des Territoriums der USA im Kontext des europäischen Mächtesystems zwar Vorteile brachte, aber womöglich nur, weil sie gerade keine Isolation von einer globalen Konkurrenzsituation beinhaltete.
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2.2. Migration und Wirtschaftsleben. Andere strukturelle Faktoren für den Aufstieg der Vereinigten Staaten zum Imperium sind klarer zu bestimmen.23 Der durch die transatlantische Migration bedingte rapide Bevölkerungszuwachs in Verbindung mit einer spätestens im Gefolge des Amerikanischen Bürgerkriegs dynamisch wachsenden Industrie gehörten ohne Zweifel zu den zentralen Impulsgebern der Wandlung der USA von der Regional- zur Weltmacht.24 Während sich die Immigration nach Nordamerika innerhalb der Vorgaben der allgemeinen Wanderungs- und Bevölkerungsentwicklungen im nordatlantischen Raum abspielte, finden sich bei der industriellen Entwicklung einige Besonderheiten. Entgegen landläufigen Vorstellungen verdankte sich die industrielle Entwicklung nicht ausschließlich einer Mischung aus großzügig vorhandenen natürlichen Ressourcen von Kohle und Eisenerz über Silber bis hin zum Gold, das in der internationalen Währungspolitik des 19. Jahrhunderts von hohem Wert war, mit den Kapazitäten eines freien Marktes, der seinerseits ein freies, produktives Unternehmertum hervorgebracht habe. Ganz im Gegenteil dürfte der ökonomische Aufstieg der Vereinigten Staaten eher darin begründet sein, dass die USA sich nicht an marktliberale Rezepte hielten. Wieder war es jene ambivalente Mischung aus dynamischer Offenheit und Abschottung, die oben bereits skizziert wurde. Ohne das Moment einer moderaten Isolation hätte sich die Industrie des Landes kaum gegen die britische Konkurrenz durchsetzen können. Seitdem die USA mit den handelspolitischen Folgen der napoleonischen Kontinentalsperre konfrontiert wurden, arbeiteten sie am Aufbau eigener industrieller Strukturen im Norden des Landes. Hier adaptierten die „Yankees“ einerseits die marktliberale Mentalität, die notwendig war, um sich in einem liberalkapitalistischen Weltsystem zu behaupten. Andererseits half die Regierung, indem sie den nationalen Markt und damit die eigene Industrie durch Hochzollpolitik gegen auswärtige Konkurrenz abschottete.25 In den 1890er-Jahren erreichte diese Politik mit den McKinley Tariffs einen nie gekannten Höhepunkt. Der marktliberale Protektionismus stieß zwar immer wieder auf heftige Opposition der weltmarktabhängigen Südstaaten, setzte sich aber letztlich durch.
Schließlich waren es Kriege, beginnend mit dem Bürgerkrieg, welche die Grundlage für eine enge Kooperation von Industrie und Regierung legten. Wie in anderen Entwicklungsländern waren diese Beziehungen nicht frei von mitunter skandalösen Formen der Korruption und Interessenverflechtung. Im Kern aber garantierte der gehegte Markt in den USA eine durchaus effiziente Verbindung von Unternehmergeist, Produktivität und Innovation, zumal die staatlichen Eingriffe lange darauf beschränkt blieben, die Rahmenbedingungen für industrielles Wachstum sicherzustellen. Dadurch wurde die Kapitalakkumulation in privater Hand nie behindert. Mit den 1870er-Jahren wurde somit eine wirtschaftliche Dynamik entfesselt, die weltweit ihresgleichen suchte und dank derer die USA im frühen 20. Jahrhundert erst zur stärksten Industriemacht und ab 1917 auch zur führenden Finanzmacht der Welt avancierten. Erst danach gingen die USA dazu über, den weltweiten Freihandel zu fordern, und folgten damit dem Vorbild des britischen Empire. Im Unterschied zur Sowjetunion, deren imperialer Status im Kalten Krieg wesentlich von ihrer Militärmacht abhing, verfügten die Vereinigten Staaten über eine solide und erstaunlich anpassungsfähige Wirtschaftsweise, als sie zum Imperium wurden.
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2.3. Kontinentale Expansion und demokratischer Siedlungsimperialismus. Abgeschiedenheit und wirtschaftliche Potenz allein reichen kaum aus, um den Erfolg der Vereinigten Staaten zu erklären. Ein weiterer wichtiger Faktor dürfte in der kontinentalen Expansion des Landes liegen. Dabei geht es nicht allein um die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Ausdehnung der Vereinigten Staaten als solche, sondern vorrangig um die verfassungsrechtlichen, soziokulturellen und weltanschaulichen Begleitumstände dieses Prozesses. Prinzipiell stellte die kontinentale Expansion der USA für sich genommen bereits einen imperialen oder zumindest hegemonialen Akt dar. Indem es gelang, rivalisierende europäische Mächte wie Frankreich, Spanien und sogar Großbritannien als Konkurrenten im Westen des nordamerikanischen Kontinents auszuschalten, sicherten sich die USA dort das Herrschaftsmonopol. Gleichzeitig wurde potenziellen Rivalen wie Mexiko verdeutlicht, dass die USA die eigentliche politisch-militärische Ordnungsmacht der Region waren.
Einen erheblichen Teil ihrer Dynamik bezog die Expansion der Vereinigten Staaten aus dem spezifischen Charakter als demokratischer Siedlungsimperialismus. Hierin ähnelt sie dem angelsächsischen Kolonialismus in Südafrika, Australien und Neuseeland.26 Besonders wichtig war dabei die Fähigkeit der Neusiedler, ihre Interessen in der Politik des Mutterlandes oder gegenüber den Kolonialbehörden zum Ausdruck zu bringen. Für die USA bedeutete dies ferner, dass es einen konstitutionellen Rahmen gab, der seit den Ordinances von 1784 und 1787 klare Regularien für die Integration neu erworbener Gebiete in das Mutterland vorsah. In diesem Punkt entsprach das amerikanische Modell, wenn man vom Sonderfall der russischen Expansion absieht, keinem der europäischen Muster. Infolge der rechtlichen Normen und des demokratisch-republikanischen Erbes, das die Siedler in den amerikanischen Westen mitbrachten, existierte dort ein großer Spielraum für Selbstorganisation und weitere, staatlich kaum regulierte Ausdehnung, die oft gegen den Willen der Administrationen in Washington durchgeführt wurde.27 Ein klassisches Beispiel war das Scheitern der Verständigungspolitik mit den Indianern nach den Vertreibungen der 1830er-Jahre. Bereits ab 1840 machte das Vorgehen der Siedler sämtliche Pläne der US-Regierung wieder zunichte. Das Ergebnis war der Vernichtungskrieg gegen die Indianer Kaliforniens und der Great Plains, der bis 1890 anhielt.28
Der demokratische Siedlungsimperialismus war aber nicht nur problematisch. Er gab vielmehr den Siedlern und der Regierung ein Instrumentarium an die Hand, das es erlaubte, die neuen Territorien ziemlich reibungslos in das Mutterland einzugliedern. Alle neuen Gebiete wurden Bestandteil der Vereinigten Staaten und nie auf den Status von Kolonien herabgesetzt. Dies erlaubte es, auf kostspielige Unterdrückungsmechanismen zu verzichten, nachdem durch die weitgehende Vernichtung der Urbevölkerung eine gewisse ethnische Kohäsion geschaffen war. Aus diesem Grunde konnten die USA über weite Strecken des 19. Jahrhunderts auf eine große stehende Armee verzichten und stattdessen ihre Ressourcen auf die interne Entwicklung des Landes konzentrieren. Erst mit dem Übergang zum Imperialismus um 1900 erwiesen sich die rechtlichen Regelungen der 1780er-Jahre für die weitere Expansion als ungeeignet. Damit begann zugleich ein neues Kapitel auf dem Weg der USA zum Imperium.
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2.4. Nationale Mythen: „frontier“ und „manifest destiny“. Die kontinentale Expansion trug nicht allein auf der „harten“ ökonomischen Ebene zum weiteren Machtgewinn der Vereinigten Staaten bei. Sie hatte überdies in den „weichen“ Bereichen von politischer Kultur und nationalintegrativer Ideologie erhebliche Auswirkungen, indem sie expansionistische und agonale Formen nationaler Mythologie in ihrer gesellschaftlichen Rezeption begünstigte.29 Es ist dabei nur schwer zu klären, ob der Expansionismus schon vom Beginn der ersten puritanischen Siedlungen im 17. Jahrhundert an zum Kernbestand amerikanischer Identität gehörte.30 Das berühmte Bild von der City upon a Hill deutet eher auf ein passives Selbstverständnis der frühen Siedler hin. Dies änderte sich aber rasch im Laufe der fortschreitenden Ausdehnung. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte dann der Wille zur weiteren Expansion zum festen ideologischen Kernbestand der US-amerikanischen Eliten. John L. O’Sullivan hat dieser Ideologie mit seinem Konzept der manifest destiny markant Ausdruck verliehen. Demnach hatte Gott den USA den Auftrag gegeben, auf dem gesamten amerikanischen Kontinent aktiv und zur Not mit Gewalt Fortschritt, Zivilisation und Handel zu verbreiten. Bereits vor 1845 wurde dies als hemisphärische Hegemonie begriffen. O’Sullivan redete in einem berühmten Artikel in der „Democratic Review“ ganz offen von den USA als „nation of many nations“ und „Union of many Republics“.31 Mit benevolenter Hegemonie hatte all dies nur am Rande zu tun. Da die Idee der Ausdehnung der USA auf der Basis des manifest destiny vor dem Hintergrund der Expansion der Sklaverei entwickelt worden war, ging es um handfeste Interessenpolitik der Südstaatler und rassistische Kalküle, die mit säkularen nationalistischen Konzepten im Stile des zeitgenössischen europäischen Liberalismus verknüpft wurden.32 Erst nach dem Bürgerkrieg übernahmen die Republikaner und damit die alten Gegner des Sklavenhalterexpansionismus diese weltanschaulichen Vorgaben, nun aber umso konsequenter und erkennbar mit kapitalistischen Interessen verknüpft.33
Eng mit der Idee des manifest destiny war zudem die Debatte um die amerikanische frontier verbunden. Hier ist nicht der Ort, diesem für die US-amerikanische politische Kultur so außerordentlich prägenden Diskurs genauer nachzuspüren.34 Für unseren Kontext ist vorrangig ein Punkt von Interesse: Die frontier bezeichnete keine präzise definierbare Grenze; im Prinzip nahm sie die imperiale Entgrenzung des Raumes ideell vorweg. Zum Wesen der frontier gehörte die Bewegung, die permanente, aggressiv-dynamische Selbsttranszendierung. Was heute Grenze war, konnte morgen fester Bestandteil des eigenen Landes sein. Die Grenze aber würde weiter vorrücken. Sie musste sogar weiter vorrücken, damit das System nicht erstarrte. Wie sehr dieser Diskurs das amerikanische Denken prägte, belegen die Versuche, die Kerngehalte der frontier auch nach ihrem offiziellen Ende 1890 im 20. Jahrhundert als new frontier beständig neu zu beleben, bis schließlich der Weltraum zur final frontier wurde.35
Die frontier-Ideologie war indes keineswegs überall identisch mit dem Ziel der direkten Herrschaft. Vielmehr dürfte weithin das Modell der 1899/1900 für China entwickelten open door-Politik maßgeblich gewesen sein.36 Im Mittelpunkt dieser zeitgemäß angepassten, kapitalistischen Variante der frontier und des manifest destiny stand die ökonomische und kulturelle Durchdringung fremden Raums. Der machtpolitische oder gar militärische Konflikt sollte demgegenüber ebenso vermieden werden wie Formen unmittelbarer Herrschaft über Territorien außerhalb der eigenen Hemisphäre. Besonders die Antiimperialisten des frühen 20. Jahrhunderts, aber im Anschluss an sie auch sämtliche innenpolitischen Gegner eines offenen US-amerikanischen Imperialismus vor 1945, wiesen beständig auf die mit direkter imperialer Herrschaft verbundenen Gefahren hin. Sie betonten, eine überseeische Ausdehnung werde nach innen zu einem despotischen Machtstaat führen, in dem der egalitäre Partizipationsanspruch weißer Männer nicht mehr garantiert werden könne.37
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2.5. Ideologische Faktoren: Liberalismus, Republikanismus und evangelikale Religion. Über den frontier-Gedanken mit seinen verschiedenen Varianten hinaus finden sich in der US-amerikanischen politischen Kultur weitere tief verankerte Überzeugungen, die der imperialen Entwicklung des Landes zuträglich waren. Im Gegensatz zu dem unmittelbar expansionistischen Programm des manifest destiny und der gleichermaßen auf Ausdehnung bedachten Idee der frontier können diese Ideen jedoch nicht als konkrete Ursachen für einen imperialen Habitus angesehen werden. Eher wird man von zusätzlichen Bedingungen sprechen müssen, die den Weg zum Imperium begünstigten. Dies gilt in erster Linie für die hohe Wertschätzung, die individuelle Freiheit und demokratische Massenpartizipation in der Geschichte der Vereinigten Staaten seit den 1820er-Jahren erfahren haben - ein Ausfluss jenes Amalgams von Aufklärungsliberalismus und Tugendrepublikanismus, das zu den Grundlagen der Revolution von 1776 gehörte. Langfristig konnte sich daraus der Anspruch ergeben, diese Ideale weltweit zu verbreiten.
Das säkular-liberale oder republikanische Sendungsbewusstsein erfuhr durch religiöse Impulse noch einmal eine maßgebliche Intensivierung. Insbesondere die so genannte zweite evangelikale Erweckungsbewegung der Jahrzehnte zwischen 1790 und dem Bürgerkrieg verstärkte den ohnehin vorhandenen missionarischen Impetus.38 Durch zwei Punkte erhielt die evangelikale Erweckungstheologie allgemeinpolitische Relevanz: Zum einen war dies die postmillennaristische Grundmotivation der Evangelikalen des 19. Jahrhunderts. Sie waren davon überzeugt, dass es ihre ganz eigene Aufgabe sei, die Welt auf die Wiederkunft Christi vorzubereiten. Durch radikale Gesellschaftsreform müsse die Welt und müssten vor allem die Vereinigten Staaten (als das neue Israel) von der Sünde gereinigt werden.39
Zum anderen wurde der soziale Reformismus der Evangelikalen durch ein weiteres religiöses Motiv verstärkt. Gnade spielte in der evangelikalen Theologie ebensowenig eine Rolle wie der eng begrenzte Erwähltheitsgedanken der Puritaner. Die Evangelikalen glaubten demgegenüber an einen Heilsuniversalismus: Nach ihrer Überzeugung hatte Gott alle Menschen zum Heil bestimmt. Dadurch entfaltete sich in den Reihen der Evangelikalen ein missionarisches Moment, das dem Puritanismus gänzlich fremd gewesen war. Verstärkt wurde der Drang zu Mission und Gesellschaftsreform durch die tiefe Überzeugung, alle zum Heil erwählten Menschen könnten zur Perfektion gelangen.40 Im Endeffekt führte dies zum Glauben an eine aus individueller Anstrengung heraus entstehende neue, perfekte Welt mit einem neuen, gleichermaßen perfekten Menschen, der sich dann im eschatologischen Millennium der Herrschaft Christi unterstellen werde. Auch in diesem Zusammenhang wurde die Akzeptanz der kapitalistischen Wirtschaftsweise und der demokratischen politischen Ordnung der USA zum Grundpfeiler einer neuen Glaubenswelt,41 die mit dem traditionellen Christentum kaum noch etwas zu tun hatte. Die amerikanische Religion, wie sie sich im beginnenden 19. Jahrhundert formte, war eine zutiefst moderne Religion, und sie teilte die immanente Aggressivität der modernen Kultur.
Indes agierte die evangelikale Bewegung, ganz analog zu den Aufklärungsliberalen in den Vereinigten Staaten, anfangs eher nach innen gerichtet. Nicht der Kontinent und schon gar nicht die ganze Welt, sondern die eigene Nation war in ihrem Blickfeld. Erst nach dem Bürgerkrieg sickerten Heilsuniversalismus und Perfektionismus so weit in säkulare Kreise in den USA, dass sie selbstverständlicher Bestandteil der politischen Kultur und der Außenpolitik der USA werden konnten. Von den 1870er-Jahren an gingen sie ein enges Bündnis mit sozialdarwinistischen und rassistischen Komponenten ein. Auf diese Weise wurden die säkularisierten Impulse der evangelikalen Erweckung zu maßgeblichen Möglichkeitsbedingungen einer imperialen Ideologie.42
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Die weltanschauliche Gemengelage, die sich in den USA spätestens um 1880 herausgebildet hatte, war ebenso eigentümlich wie bemerkenswert stabil. Sie begünstigte den Weg zur imperialen Macht erheblich, indem sie die dynamischsten Momente der liberalen Moderne - individualistische Freiheitsmission, massenpartizipatorische Demokratie, sozialdarwinistisch-rassistische Überlegenheitsgefühle und utilitaristischen Marktkapitalismus - mit radikalisierten und modernisierten Varianten vormoderner Ideologien kombinierte - kommunitäre, Tugend- und religiöse Perfektionslehren, Auserwähltheitstopik sowie Heilsuniversalismus. Dadurch wurde der politische Diskurs in den USA zugleich langfristig disponiert. Wenn etwa im Umfeld des gegenwärtigen Kriegs im Irak des Öfteren Reden des US-amerikanischen Präsidenten in der europäischen Öffentlichkeit als unangemessen kritisiert werden - zum Beispiel über die crusade oder den war on terror bzw. die manichäisch-dualistische Rede von der axis of evil -, dann übersieht man, dass diese Semantik weniger auf ein internationales Publikum abhebt, sondern auf einen amerikanischen Verstehenshorizont. Solche offenkundigen diplomatischen Fehlleistungen sind ein notwendiges Resultat der Selbstreferentialität des amerikanischen Medienbetriebs und der amerikanischen Innenpolitik.
Gerade der Begriff crusade ist in den USA weniger auf das Mittelalter bezogen als auf die sozialen Reformbewegungen der Evangelikalen des 19. Jahrhunderts. Ein Kreuzzug wäre für Amerikaner demnach in erster Linie eine Bewegung, die der Perfektion der Welt dient. Ähnliches gilt für das Konzept des war on terror. Es schließt sich semantisch an die Begrifflichkeiten Lyndon B. Johnsons vom war on poverty oder George W.H. Bushs vom war on drugs an, beides eher soziale Ameliorationsvorhaben. Die Sprachgebung signalisiert dabei Entschlossenheit, Führungskraft (leadership) und Machbarkeit. Im Grunde geht es erneut um Perfektion, diesmal aber vor einem säkularisierten, militärischen Hintergrund, der eng mit dem modernen Nationalismus gekoppelt ist. Dieser militarisierte, universalistische Erweckungspatriotismus gehört zu den stärksten Elementen imperialen Denkens in der amerikanischen Kultur.43
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2.6. Informal Empire: Die Funktion der Populärkultur. Bereits mit der politischen Kultur hatten wir den Bereich der klassischen Analyse außenpolitischer Faktoren verlassen. Sowohl der entgrenzte Machtanspruch von Imperien im Allgemeinen als auch die demokratisch-nationale Spezifik der USA im Besonderen zwingen dazu, auch die populärkulturellen Bedingungen dieses Imperiums präziser zu bestimmen. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die US-amerikanische Populärkultur erst im 20. Jahrhundert eine imperiale Note bekam. Sie weist zudem jene Ambivalenz auf, die als generelles Kennzeichen des amerikanischen Imperiums gelten kann: die Spannung zwischen universalistischem Anspruch und nationaler Realität. Am besten lässt sich dies an der Erfolgsgeschichte Hollywoods ablesen, die als pars pro toto amerikanischer kultureller Hegemonialpolitik verstanden werden kann.
Der weltweite Erfolg der American Popular Culture hängt maßgeblich davon ab, wie es gelingt, deviante Gegenkulturen und soziokulturelle Opposition in den mainstream zu integrieren. Die Lebendigkeit und damit auch die Globalisierbarkeit dieser Kultur zeigt sich in ihrer Fähigkeit, Vielfalt zu integrieren und umzugestalten, ohne sie vollends einzuebnen.44 Dabei kommt Marktmechanismen wiederum eine wichtige Funktion zu - das amerikanische Imperium ist ein kapitalistisches Imperium, und seine Kultur funktioniert nach den Gesetzen des Marktes. Dies gilt entsprechend für die Globalisierungsprozesse, innerhalb derer hybride Formen kultureller Amerikanisierung seit den 1920er-Jahren eine immer größere Rolle spielen.45 Allerdings verlief die kulturelle Amerikanisierung zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend unabhängig von staatlichem Handeln. Indem Kultur von US-amerikanischer Seite vorwiegend als außenwirtschaftliche commodity verstanden wurde, war sie von vornherein in einen privatwirtschaftlichen Zusammenhang gestellt. Der Staat schuf hauptsächlich Rahmenbedingungen, die es privaten Institutionen erlaubten, den American Way of Life profitorientiert, aber in vollem Bewusstsein der kulturellen Bedeutung der tradierten Inhalte zu vermarkten.46 Im Gegenzug waren die beteiligten Konzerne und Organisationen durchaus bereit, sich in den Dienst amerikanischer Interessenpolitik zu stellen. Erst mit der Epoche der Weltkriege und vor allem im Kalten Krieg, der in den USA frühzeitig als Kulturkonflikt eigener Art begriffen wurde, mischte sich der Staat aktiver in kulturelle Belange ein.47 Es kam zu einem massiven Export US-amerikanischer Populärkultur, wobei die Filmindustrie eine besondere Bedeutung gewann.48 Im Erfolg lag stets zugleich eine Wurzel für Spannungen, ging es bei dieser Form des Kulturaustausches doch nicht allein um wirtschaftliche Interessen, sondern um Probleme nationaler Identität. Diese Aporie verweist wiederum auf das fundamentale Problem der US-amerikanischen Kulturpolitik - die niemals aufgelöste Spannung zwischen dem Universalismus und dem Partikularismus der amerikanischen Wertewelt.
Dies wird besonders deutlich, wenn man nach den Gründen für den weltweiten Erfolg der US-amerikanischen Populärkultur fragt. Hollywoodfilme wurden von Beginn an für ein multiethnisches und klassenmäßig fragmentiertes Publikum hergestellt. Sie waren zu keinem Zeitpunkt ausschließlich für eine herrschende Elite gedacht. Ihr kapitalistischer Warencharakter wirkte egalitär.49 Ähnliches könnte man für die amerikanische populäre Musik ausführen. Es entstanden populärkulturelle Formen, deren Bildersprache oder deren musikalische Prinzipien zumindest theoretisch universal verstehbar waren. Insbesondere zeichneten sie sich durch eine ungemein fruchtbare, kulturübergreifende mythopoietische Kraft aus. Amerikanische Filme, Romane und Melodien sprachen Menschen unterschiedlichster Kulturen mit einer Unmittelbarkeit an, die sich ihrer antielitären Herkunft verdankte. Trotzdem wäre es ein Missverständnis, diese Formen als schlechthin universal anzusehen. Sie entwickelten sich in einem spezifischen nationalen Kontext; sie stifteten eine multiethnische, rassisch und sozial fragmentierte, kapitalistische Identität, die derart nur in den USA existierte und funktionierte, obwohl sie vorgab, universal zu sein. Es waren eine genuin amerikanische Werte- und Warenwelt, ein genuin amerikanischer Patriotismus und ein genuin amerikanisches Gesellschaftsverständnis, die in Hollywoodfilmen verhandelt wurden. Selbst noch der Weltraum US-amerikanischer Science Fiction-Filme war erkennbar von der Lebenswirklichkeit der USA geprägt.
Im Gegensatz zu den Hoffnungen US-amerikanischer Kulturpolitiker und zu den Befürchtungen antiamerikanischer Kulturpessimisten gestaltete sich der Umgang mit amerikanischer Populärkultur auf Seiten der Empfänger wesentlich aktiver als erwartet. Die neuere kulturhistorische und literaturwissenschaftliche Forschung fasst dies unter den Stichworten Hybridität und Kreolisierung.50 Gemeint ist der durchaus selektive Umgang mit den Angeboten US-amerikanischer Alltags- und Populärkultur in unterschiedlichen Gesellschaften. Während der Kulturexport der USA einerseits zu der für Imperien charakteristischen Entgrenzung von Herrschaftsansprüchen führt, bleibt diese Entgrenzung auf der kulturellen Ebene ambivalent, ja paradox, weil sie den Kern ihrer eigenen Subversivität und damit ihrer eigenen Überwindung in sich trägt, indem sie den jeweiligen nationalen Kulturen anverwandelt wird. Die Hollywood-Rezeption der indischen Filmindustrie könnte hierfür als Beispiel dienen. Diese Grundaporie des amerikanischen Imperiums dürfte auch in Zukunft nicht auflösbar sein - es sei denn, es gelänge der US-amerikanischen Marktkultur, die divergierenden Momente von Hybridität und Kreolisierung ihrerseits zu kommodifizieren und damit langfristig in den eigenen mainstream einzubauen. Beim Hip Hop sind solche Prozesse derzeit zu verfolgen. Auf alle Fälle wird man weiterhin zu beachten haben, wie sehr gerade im Bereich der Kultur das Verhältnis von Universalität und Partikularität nur in dialektischen, nicht aber in linearen Formen zu fassen ist.
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3. Ausbau und Strukturprobleme des amerikanischen Imperiums
In der Zeit zwischen 1890 und 1920 verdichteten sich die unterschiedlichen genannten Faktoren; es vollzog sich ein Übergang von der hemisphärischen Hegemonie zum globalen Imperium.51 Die sozioökonomischen und ideellen Elemente waren zu dieser Zeit schon festgefügt, die kulturellen Faktoren kamen allmählich hinzu und wurden im Laufe der folgenden Jahrzehnte noch ausgebaut. Auf der machtpolitischen Ebene wurde dieser Übergang an mehreren Beispielen sichtbar: dem amerikanisch-spanischen Krieg von 1898, der endgültig den Eintritt der USA in die Welt der imperialistischen Mächte markierte,52 dem großen Realignment mit Großbritannien um 1900, ihrer Rolle in der Chinapolitik um 1900 unter dem Stichwort open door sowie der Tatsache, dass die europäischen Mächte die USA auf der Konferenz von Algeciras 1906 als Schiedsrichter akzeptierten. Dieser Prozess vollzog sich allerdings nicht ohne Zwischenschritte. Waren die USA bereits um 1900 als regionales oder hemisphärisches Imperium und aktive Kolonialmacht vollständig in das System der europäischen Großmächte eingebettet, so folgte der Schritt zur globalen Großmacht im Kontext des Ersten Weltkrieges. Selbst die anschließende Phase des so genannten Isolationismus änderte an diesem Faktum wenig. Zum einen blieben die Vereinigten Staaten für Lateinamerika der unangefochtene Hegemon, zum anderen wirkten sie über ihre Außenhandelspolitik und ihre Populärkultur äußerst aktiv auf das Verhalten der europäischen Mächte ein. Insofern trifft die Bezeichnung Isolationismus die Realitäten US-amerikanischer Machtentfaltung nur unzureichend. Sicher ist allerdings, dass die militärische Macht der USA, die in unseren Tagen den wohl imposantesten Bereich amerikanischer imperialer Politik ausmacht, erst mit dem Zweiten Weltkrieg und dem anschließenden Kalten Krieg zu einer Schlüsselkategorie des amerikanischen Herrschaftsanspruchs mutierte. Unter den Auspizien des globalen Systemkonflikts mit der Sowjetunion war es für eine Mehrheit der Amerikaner unumgänglich geworden, sich weltweit im Interesse von individueller Freiheit und kapitalistischer Marktgesellschaft zu engagieren. Insbesondere das globale Netz von Verteidigungspakten und militärischen Stützpunkten sowie die konventionelle wie thermonukleare militärische Kapazität der USA sicherten ein auf demokratisch-liberale Werthaltungen gegründetes Imperium. Die im Zusammenhang mit dem New Deal in den 1930er-Jahren entwickelte ökonomische und gesellschaftliche Reformfähigkeit der USA trug dazu bei, den imperialen Führungsanspruch der USA gegenüber den vom Kommunismus bedrohten oder umworbenen Verbündeten glaubwürdig zu legitimieren.
Seit dem Wegfall des von der Sowjetunion angeführten Ostblocks als dem Hauptrivalen im Ringen um globale Macht ist das imperiale System der USA mit neuen Konstellationen konfrontiert. Angesichts des Fehlens einer auch nur ansatzweise gleichwertigen Gegenmacht fiel die Rolle der imperialen „Hypermacht“ den USA wie eine reife Frucht in den Schoß. Bereits lange vor den Anschlägen vom 11. September 2001 entgrenzten sich die Sicherheitsbedürfnisse, aber auch die Handlungsoptionen der USA. Allerdings blieben die Versuche, eine „neue Weltordnung“ zu etablieren, notwendig Stückwerk, weil sämtlichen Ansätzen ein formierendes Element fehlte. Die gescheiterten Versuche des liberalen nation building der Ära Clinton (Haiti, Somalia und der Balkan) belegen dies ebenso wie der wenig effektive Irak-Krieg von 1991. Erst der islamistische Terrorismus verschaffte den imperialen Eliten der USA wieder einen kohärenzstiftenden Bezugspunkt.
Dies aber führt uns zu den strukturellen Problemen des US-amerikanischen Imperialismus. Dabei geht es nicht so sehr um die Themenkomplexe, die in der aktuellen Diskussion ständig präsent sind (Gefahr eines imperial overstretch, negative Folgen des Budgetdefizits etc.). Mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfte es sich hierbei um zyklische Krisen handeln, welche die USA von Zeit zu Zeit heimsuchen. Selbst ein militärisches Scheitern der Vereinigten Staaten im Irak würde ähnlich wie die Niederlage in Vietnam mit hoher Wahrscheinlichkeit mittel- bis langfristig nichts am imperialen Status der USA ändern, solange das Potenzial zur weltweiten Ressourcenkontrolle erhalten bleibt. Dafür sind die politischen, militärischen, kulturellen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes derzeit einfach zu groß. Dies gilt umso mehr, als die Konflikte in Afghanistan, im Irak oder mit Al Qaida gerade nicht Ausdruck von innerer Stärke der islamischen Welt sind, sondern ganz im Gegenteil auf die interne Schwäche und Zerrissenheit vor allem der arabischen Kultur verweisen. Der Konflikt ist nicht primär ein Zusammenstoß der Kulturen im Sinne Huntingtons,53 sondern eher ein innerislamischer Kulturkampf um den rechten Weg im Umgang mit der westlichen Moderne. Er bedroht die imperiale Stellung der USA nur dann, wenn diese sich aufgrund entgrenzter Sicherheitsvorstellungen zu tief und zu langfristig in den Konflikt einlassen.
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Die eigentlichen Strukturprobleme amerikanischer Imperialherrschaft liegen vor allem auf zwei Ebenen - die eine ist eher kultureller Natur, die andere das Resultat konventioneller machtpolitischer Erwägungen. Beginnen wir mit der kulturellen Problematik: Aus der oben schon angedeuteten Dialektik von Partikularität und Universalität ergeben sich in der politischen Praxis erhebliche und nur schwer aufzulösende Schwierigkeiten. Dies gilt hauptsächlich für die rivalisierenden Handlungslogiken, an denen sich amerikanisches Handeln orientieren kann. Was für die Populärkultur ausgeführt worden ist, trifft noch viel mehr auf die Ebene der politischen Kultur zu. Da die Vereinigten Staaten eine Demokratie mit einer ausgeprägten Tradition von Massenpartizipation sind, stellt sich die Frage, wie die von Peter Bender angemahnte „augusteische Wende“ zu einer imperialen Legitimation des Nationalstaates USA gewährleistet werden kann. Insbesondere betrifft dies das Problem einer übernationalen Machtteilhabe. In einem dynastischen oder autoritären System ist dieser Übergang erheblich leichter zu gewährleisten als in einer Demokratie, in der die nationale Handlungslogik der zur Partizipation berechtigten Bevölkerung durchweg relevant bleibt und mit den langfristigen imperialen Legitimationsinteressen der politisch Verantwortlichen kollidieren kann.
Für das Römische Reich etwa war die Fähigkeit, Nichtrömer über ein gegliedertes und flexibel gehandhabtes Staatsbürgerrecht in den Herrschaftsprozess des Reiches einzubinden, ein zentrales Moment im Übergang von der regional hegemonialen Republik zum ökumenischen Imperium. Dabei wurde die republikanische, partizipatorische Struktur der Republik allerdings im Bürgerkrieg und danach nahezu vollkommen zerstört. Im Gegenzug gelang es, imperiale Legitimität herzustellen.54 In späteren Imperien - etwa in Spanien, in Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und dem zarischen Russland - erfolgte diese Integrationsleistung über eine nicht national fixierte Aristokratie, das Heer und die Beamtenschaft, oft auch über die Religion. Als der Nationalstaat zum beherrschenden Paradigma europäischer und später globaler Politik wurde, war an diese Form der imperialen Integration nicht mehr zu denken. Folgerichtig zerfielen die supranationalen Imperien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die UdSSR bemühte sich, dieses Anliegens über eine transnational organisierte, aber von Moskau aus straff und zentral gelenkte Ideologie gerechtzuwerden - letztlich ebenso erfolglos wie das britische Empire und das französische Weltreich des 19. Jahrhunderts.
Auch für die USA ist nicht absehbar, wie sie das Problem der supranationalen Integration lösen können, ohne die eigene nationalstaatlich-demokratische Identität aufzugeben.55 Zwischen einer national ausgerichteten, demokratisch legitimierten Interessenpolitik und einer universal-imperialen Handlungslogik existiert derzeit kein praktikabler Vermittlungsweg. Ohne einen solchen wird es aber keine dauerhafte imperiale Legitimität für die USA geben.56 Auch die Vereinten Nationen, die nach Ansicht liberaler Internationalisten den permanenten Widerspruch zwischen Nation und Imperium hätten überwinden sollen, können hierbei nicht helfen. Die UNO erwies sich nur zu bald als zweischneidiges Schwert, da ihre formalen Mehrheiten oft genug von nichtdemokratischen Staaten hervorgebracht wurden. Überdies sahen viele amerikanische Konservative in der UNO eine Gefahr für die eigene Souveränität. Sie erkannten viel früher als die Liberalen, vor welche Probleme und Widersprüche die USA als demokratisch verfasstes Imperium gestellt sind.
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Flankiert wird diese Schwierigkeit auf der im engeren Sinn kulturellen Ebene. Wenn beispielsweise in US-amerikanischen Kinofilmen und Fernsehserien, die ja auf ein weltweites Publikum zielen, seit dem 11. September 2001 auf ausschließlich patriotische Werte abgehoben wird, so ist dies für die kulturelle Legitimation des amerikanischen Imperiums kontraproduktiv. Es kommt zu einer Verengung des Horizonts, durch den die rivalisierenden Handlungslogiken gewissermaßen offensichtlich gemacht werden, ohne dass dieses Phänomen explizit diskutiert würde. Die Gefahr besteht, dass die für die US-amerikanische Kultur charakteristische Fähigkeit der Assimilation devianter Ansichten gemindert wird, was zu Erstarrung und weiterer imperialer Delegitimation führen kann. Für ein Imperium, das wesentlich von seiner Elastizität und Flexibilität im Umgang mit dem „Anderen“ lebt, wäre dies verheerend. Insofern wussten die Terroristen des 11. September vermutlich besser als die Amerikaner, was sie taten, als sie den Vereinigten Staaten den war on terror mit all seinen Gefahren für die offene Gesellschaft förmlich aufzwangen. Mit ihrem Handeln machten sie die antiimperialen Zwänge des patriotischen, nationalen und demokratischen Sicherheitsstaates für alle Welt sichtbar. Hier liegt das tiefere Problem der Konfrontation mit Al Qaida begründet. Unter den gegenwärtigen Umständen ist die für die dauerhafte Integration des Imperiums notwendige „augusteische Wende“ faktisch nicht vermittelbar und deswegen ohne Bruch mit eingewurzelten demokratischen Gepflogenheiten auch nicht vollziehbar.
Eher in konventionellen machtpolitischen Bereichen ist die andere Ebene struktureller Probleme der USA angesiedelt. Je stärker die USA werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich Koalitionen und Konstellationen anderer, bislang sekundärer Mächte herausbilden, die dem imperialen Anspruch der Vereinigten Staaten entgegentreten. In der Debatte um den Irak-Krieg hat man erstmalig sehen können, wie eine derartige Koalitionsbildung unter Umständen aussehen könnte. Solange alle beteiligten Gesellschaften in nationalen Kategorien denken und handeln, wird es für die USA äußerst schwierig sein, ihre Stellung dauerhaft unangefochten zu behaupten. Da aber das Imperium selbst diesen Kategorien verpflichtet bleibt, verfügt es momentan über kein geeignetes Integrationsmoment, um die Reaktion der sekundären Mächte abzufedern. Insbesondere verliert die bislang durch den Rekurs auf die Überlegenheit freiheitlich verfasster Gesellschaften im Umgang mit Modernisierungskrisen gekennzeichnete universalistische Legitimations- und Integrationsstrategie der USA ihre Funktion. Die aus einem imperialen Habitus und dem damit verbundenen Sicherheitsbedürfnis resultierenden Ereignisse um Guantanamo Bay oder Abu Ghraib sind für die USA deswegen so problematisch, weil sie nach innen den Prozess der schleichenden Entdemokratisierung symbolisieren, während sie nach außen die bislang behauptete moralische Überlegenheit gegenüber konkurrierenden gesellschaftlichen Ordnungsmodellen massiv in Frage stellen.
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Die vorangegangenen Erörterungen führen zu einer Reihe von Schlussfolgerungen, die es erlauben, die Fragen nach dem spezifischen Charakter, den historischen Ursachen und der Stabilität des amerikanischen Imperiums stärker als bislang durch historische Voraussetzungen und weniger durch Ereignisse der nahen Zeitgeschichte zu beantworten. Die USA entwickelten sich bereits um 1900 von einer regionalen Großmacht zu einem hemisphärischen Imperium, das insbesondere für den lateinamerikanischen und pazifischen Raum erhebliche Ordnungsfunktionen einnahm. Insbesondere die Idee der räumlichen Entgrenzung diente dabei frühzeitig als ideelle Grundlage der imperialen Expansion. Seit 1917, verstärkt aber seit 1941 und 1947, wurden die USA dann zum globalen Imperium, dem seit dem Zusammenbruch der UdSSR und ihres eigenen imperialen Systems die weltweite Konkurrenz abhandengekommen ist.
Bei aller historischen Kontingenz ist diese Entwicklung nicht das Resultat von ad-hoc-Maßnahmen und Zufällen, sondern basiert auf strukturellen Ursachen und Bedingungen, die tief in das 18./19. Jahrhundert zurückreichen und bis heute relevant sind. Dies gilt insbesondere für die (populär)kulturellen und weltanschaulichen Faktoren, die stets eng mit massenpartizipatorischen und ökonomischen Anliegen gekoppelt waren. Sie konstituierten amerikanische nationale Identität und gleichzeitig die legitimatorischen Grundlagen eines expansionistischen imperialen Systems. Aus dieser doppelten Funktion hat sich zugleich ein strukturelles Hauptproblem des amerikanischen Imperiums ergeben: der permanente Widerspruch von nationaler und universaler Integration, von Sicherheitsbedürfnis und Reichsbewusstsein, von Inklusion und Exklusion. Dies betrifft sowohl die faktische als auch die normative Ebene.
Daraus ergibt sich ferner, dass die Stabilität und Dauerhaftigkeit des amerikanischen Imperiums weniger von seiner ökonomischen und militärischen Leistungsfähigkeit abhängt - die nach wie vor ungebrochen ist -, sondern primär von seiner Fähigkeit, weiterhin integrativ zu wirken. Je ausgeprägter aber das Sicherheitsbedürfnis auf nationaler Ebene wird, umso desintegrativer wirkt sich dies auf der imperialen Ebene aus. Damit stehen die USA in der Kontinuität der letzten gescheiterten Imperien des 19. und 20. Jahrhunderts, die allesamt nicht in der Lage waren, den Antagonismus von Nation und universalem Imperium zu bewältigen. Angesichts dieses Systemwiderspruchs zeichnet sich der Kollaps des Imperiums mit dem Herzen eines demokratischen Nationalstaates bereits heute ab.
1 Siehe dazu z.B. Peter Rudolf, Rückkehr des liberalen Hegemon. Warnungen vor Überdehnung und Isolationismus sind unangebracht, in: Internationale Politik 61 (2006) H. 1, S. 6-15, bes. S. 7f.
2 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807-831.
3 Vgl. Stephen Peter Rosen, Ein Empire auf Probe, in: Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München 2003, S. 83-103, hier S. 84ff. Siehe auch Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 16-21, der einen umfangreichen Merkmalskatalog erstellt, um imperiale und (national)staatliche Dominanzformen voneinander zu unterscheiden.
4 Niall Ferguson, Das verleugnete Empire, in: Speck/Sznaider, Empire Amerika (Anm. 3), S. 38-59, hier S. 45-56.
5 Vgl. z.B. Akira Iriye, Culture, in: Journal of American History 77 (1990), S. 99-107; Richard H. Immermann, The History of U.S. Foreign Policy: A Plea for Pluralism, in: Diplomatic History 14 (1990), S. 574-583; Wilfried Loth /Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000.
6 Vgl. z.B. Emanuel Todd, Weltmacht Amerika. Ein Nachruf, München 2003.
7 Paradigmatisch ist z.B. Max Boot, Plädoyer für ein Empire, in: Speck/Sznaider, Empire Amerika (Anm. 3), S. 60-70. Durchaus typisch für die Neokonservativen ist ein ausgeprägter Glaube an militärische Gewalt bzw. militärische Stärke als zentrales Moment des amerikanischen Imperiums; siehe etwa James J. Hentz (Hg.), The Obligation of Empire. United States’ Grand Strategy for a New Century, Lexington 2004.
8 Zu den liberalen Apologeten des amerikanischen Empire gehörten u.a. Tony Smith, America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century, Princeton 1994, und Geir Lundestad (Hg.), The American „Empire“ and other Studies of U.S. Foreign Policy in a Comparative Perspective, Oxford 1990. Zu den heutigen Verfechtern des liberalen Imperialismus zählen z.B. Andrew J. Bacevich, Neues Rom, neues Jerusalem, in: Speck/Sznaider, Empire Amerika (Anm. 3), S. 71-82, und Joseph P. Nye, Jr., Amerikas Macht, in: ebda., S. 156-172, sowie - wenngleich nicht ohne kritische Impulse gegenüber der aktuellen Administration - Jim Garrison, America as Empire. Global Leader or Rogue Power, San Francisco 2004.
9 Richard Hofstadter, The American Political Tradition and the Men who Made It, New York 1989; Louis Hartz, The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Thought since the Revolution, San Diego 1991.
10 Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge 1992; Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776-1787, New York 1972; Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in the Historical Imagination, Cambridge 1992.
11 Catherine McNicol Stock, Rural Radicals. From Bacon’s Rebellion to the Oklahoma City Bombing, New York 1996; Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963.
12 Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt a.M. 1989; William Fulbright, The Price of Empire, New York 1989; James Petras/Morris Morley, Empire or Republic? American Global Power and Domestic Decay, New York 1995; Jack Snyder, Myths of Empire. Domestic Politics and International Ambition, Ithaca 1991.
13 Vgl. dazu Michael Hochgeschwender, God’s Own Nation. Der gerechte Krieg im Selbstbild der USA, in: Nikolaus Buschmann/Dieter Langewiesche (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt a.M. 2003, S. 286-319. Zur imperialen Tradition in der Denkschule Jeffersons siehe Peter S. Onuf, Jefferson’s Empire. The Language of American Nationhood, Charlottesville 2000.
14 Michael Ignatieff, Empire Amerika?, in: Speck/Sznaider, Empire Amerika (Anm. 3), S. 15-37, hier S. 15.
15 Normalerweise fällt es Amerikanern nur im Blick auf die eigene Westexpansion leicht, vom empire zu sprechen; siehe z.B. William G. Robbins, Colony & Empire. The Capitalist Transformation of the American West, Lawrence 1994; Eugene P. Moehring, Urbanism and Empire in the Far West, 1840-1890, Reno 2004.
16 Peter Bender, Weltmacht Amerika. Das neue Rom, Stuttgart 2003.
17 Vgl. Walter LaFeber, The American Age. U.S. Foreign Policy at Home and Abroad, 1750 to the Present, New York 1994, S. 83-88, sowie das Standardwerk von Ernest R. May, The Making of the Monroe Doctrine, Cambridge 1975. Zum Zusammenhang von Monroe-Doktrin und hemisphärischer Hegemonie der USA siehe jetzt Gretchen Murphy, Hemispheric Imaginings. The Monroe Doctrine and the Narratives of U.S. Empire, Durham 2005.
18 Siehe bes. Michael Sommer, Die Phönizier. Handelsherren zwischen Orient und Okzident, Stuttgart 2005, S. 145-148.
19 Bender, Weltmacht Amerika (Anm. 16), S. 24-59.
20 David Landes, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, Köln 1973; ders., Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen arm und die anderen reich sind, Berlin 2004; Christopher A. Bayly, The Birth of the Modern World, 1780-1914, London 2004.
21 Günter E. Krug, Amity & Commerce. Freundschafts- und Handelsverträge der USA mit europäischen Staaten in der Phase der Konföderation, 1776-1789, Trier 1999.
22 Boot, Plädoyer für ein Empire (Anm. 7), S. 64f.
23 Vgl. Ursula Lehmkuhl, Der Aufstieg zur Weltmacht. Die USA im 20. Jahrhundert, in: Praxis Geschichte 18 (2005) H. 6, S. 4-11, hier S. 4f.
24 Roger Daniels, Coming to America. A History of Immigration and Ethnicity in American Life, New York 2002; Stuart Bruchey, Enterprise. The Dynamic Economy of a Free People, Cambridge 1990; Charles Sellers, The Market Revolution. Jacksonian America, 1815-1846, New York 1991.
25 Vgl. Walter Licht, Industrializing America. The Nineteenth Century, Baltimore 1995, S. 80-96.
26 Vgl. hierzu in vergleichender Perspektive z.B. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2003, S. 16ff., oder mit Blick auf Afrika Christoph Marx, Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2004, S. 169-182.
27 Zur Siedlungsgeschichte siehe Walter Nugent, Into the West. The Story of its People, New York 1999; Ray A. Billington/Martin Ridge, Westward Expansion. A History of the American Frontier, Albuquerque 2001; Clyde A. Milner u.a. (Hg.), The Oxford History of the American West, New York 1994.
28 Vgl. u.a. Richard Slotkin, The Fatal Environment. The Myth of the Frontier in the Age of Industrialization, 1800-1890, Norman 1994; Francis Paul Pruha, The Great Father. The United States Government and the American Indians, 2 Bde., Lincoln 1984.
29 Vgl. Hochgeschwender, God’s Own Nation (Anm. 13); Slotkin, Fatal Environment (Anm. 28); ders., Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, Norman 1992.
30 Vgl. Charles M. Segal/David C. Stineback, Puritans, Indians, and Manifest Destiny, New York 1977.
31 United States Magazine and Democratic Review 6 (1839), S. 429.
32 Vgl. Reginald Horsman, Race and Manifest Destiny. The Origins of American Racial Anglosaxonism, Cambridge 1981.
33 Ernest N. Paolini, The Foundations of the American Empire. William Henry Seward and American Foreign Policy, Ithaca 1973.
34 Vgl. dazu Matthias Waechter, Die Erfindung des amerikanischen Westens. Die Geschichte der Frontier-Debatte, Freiburg 1996; Michael Hochgeschwender, Raum und nationale Identität in der US-amerikanischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, in: Anke Köth u.a. (Hg.), Building America. Die Erschaffung einer neuen Welt, Dresden 2005, S. 21-41.
35 Aus kulturwissenschaftlicher Sicht vgl. Daniel L. Bernardi, Star Trek and History. Race-ing toward a White Future, New Brunswick 1998, S. 105-136, wo der neokonservative Hintergrund der in der Fernsehserie „Star Trek - Next Generation“ vertretenen, expansionistischen frontier-Ideologie betont wird. Zu imperialen Aspirationen der USA in Luft- und Weltraumfahrt siehe auch den Beitrag von Anke Ortlepp in diesem Heft.
36 Vgl. Delber L. McKee, China Exclusion versus the Open Door Policy, 1900-1906. Clashes over China in the Roosevelt Era, Detroit 1977.
37 Vgl. Philip S. Foner/Richard C. Winchester (Hg.), The Anti-Imperialist Reader. A Documentary History of Anti-Imperialism in the United States, New York 1964.
38 Vgl. dazu die ausgezeichneten neueren Darstellungen von Mark A. Noll, America’s God. From Jonathan Edwards to Abraham Lincoln, New York 2002; E. Brooks Holifield, Theology in America. Christian Thought from the Age of Puritans to the Civil War, New Haven 2003.
39 Ronald G. Walters, American Reformers, 1815-1860, New York 1978; Steven Mintz, Moralists & Modernizers. America’s Pre-Civil War Reformers, Baltimore 1995.
40 Douglas M. Strong, Perfectionist Politics. Abolitionism and the Religious Tensions of American Democracy, Syracuse 1999.
41 Vgl. z.B. Melvyn Stokes/Stephen Conway (Hg.), The Market Revolution in America. Political, Social, and Religious Expressions, 1800-1866, Charlottesville 1996; Nathan O. Hatch, The Democratization of American Christianity, New Haven 1989.
42 Diesen Prozess hat Ernest L. Tuveson, Redeemer Nation. The Idea of America’s Millennial Role, Chicago 1980, detailliert nachgezeichnet. In den 1970er-Jahren kam es dann zu einem neuerlichen Qualitätssprung. Nun etablierte sich jene Koalition aus Neofundamentalisten, Neokonservativen, Fiskalkonservativen und Traditionalisten, die bis heute für die außenpolitische Orientierung der Republikanischen Partei maßgeblich ist.
43 Vgl. zu diesem Problembereich Stefan Halper/Jonathan Clarke, America Alone. The Neo-Conservatives and the Global Order, New York 2004.
44 Siehe bes. Berndt Ostendorf, Why is American Popular Culture so Popular? A View from Europe, in: Amerikastudien 46 (2001), S. 339-366.
45 Zu dieser Diskussion siehe aus amerikanistischer Perspektive z.B. Gerhard Bach u.a. (Hg.), Americanization - Globalization - Education, Heidelberg 2003.
46 Emily S. Rosenberg, Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890-1945, New York 1982; dies., Financial Missionaries to the World. The Politics and Culture of Dollar Diplomacy, 1900-1930, Durham 2003; Frank Ninkovich, The Diplomacy of Ideas. U.S. Foreign Policy and Cultural Relations, 1938-1950, Cambridge 1981.
47 Vgl. z.B. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; Richard Kuisel, Seducing the French. The Dilemma of Americanization, Berkeley 1993.
48 Vgl. David Caute, The Dancer Defects. The Struggle for Cultural Supremacy during the Cold War, New York 2005; Richard Pells, Not Like Us. How Europeans Loved, Hated, and Transformed American Culture since World War II, New York 1997.
49 Vgl. Robert Sklar, Movie-Made America. A Cultural History of American Movies, New York 1994; Ruth Vasey, Foreign Parts. Hollywood’s Global Distribution and the Representation of Ethnicity, in: American Quarterly 44 (1992), S. 617-642.
50 Edouard Glissant, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg 2005.
51 Vgl. neuerdings Klaus Schwabe, Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart, Paderborn 2005; Victoria de Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe, Cambridge 2005.
52 Mit Blick auf die imperialistischen Aktivitäten der USA besonders auf den Philippinen siehe Frank Schumacher, The American Way of Empire: National Tradition and Transatlantic Adaption in America’s Search for Imperial Identity, 1898-1910, in: Bulletin of the German Historical Institute, Washington, D.C. 31 (Fall 2002), S. 35-50.
53 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997.
54 Karl Christ, Geschichte der römischen Kaiserzeit, München 2005.
55 Im Ansatz diskutiert dies Garrison, America as Empire (Anm. 8).
56 Welche Schwierigkeiten allein schon die weitere Integration hispanischer Einwanderer in den USA, die Anbindung an die ökonomische Globalisierung etwa im Rahmen der NAFTA etc. den imperialen Eliten des Landes bereiten, belegen z.B. Claus Leggewie, America First? Der Fall einer konservativen Revolution, Frankfurt a.M. 1997; Michael Lind, Up from Conservatism. Why the Right is Wrong for America, New York 1997; Christopher Lasch, The Revolt of the Elites and the Betrayal of Democracy, New York 1996; Samuel P. Huntington, Who Are We? Die Krise der amerikanischen Identität, Hamburg 2004.