Der Markt der Zeitgeschichtsschreibung

Ein Plädoyer für mehr Empirie

Anmerkungen

Welchen Einfluss haben die Marktbedingungen auf die geschichtswissenschaftliche und speziell auf die zeitgeschichtliche Buchproduktion? Wie haben sich diese Bedingungen in den letzten Jahren/Jahrzehnten gewandelt?

Die folgende Skizze verzichtet ganz auf normative Stellungnahmen. Wie man „gute“ Zeitgeschichte schreiben und welche Aufgaben sie haben sollte – solche Proklamationen sind eine allzu verbreitete Übung von Historikern, zumal sie ohne die Anstrengung empirischer Forschung von der Hand gehen. Stattdessen soll hier gefragt werden, inwieweit wir es uns überhaupt erlauben können, Diagnosen über Wandel und Kontinuität in der Zeitgeschichtsschreibung aufzustellen und daran Empfehlungen zu knüpfen, solange wir nicht auf empirisch gesichertem Grund stehen. Wohlgemerkt, es geht um Anfragen, nicht um Resultate oder Lösungen. Sind die oft behaupteten Tendenzen – zunehmende Marktabhängigkeit, Emotionalisierung, Internationalisierung, mangelnde Selbstreflexion der Zeitgeschichte, teleologische und gegenwartslegitimatorische Geschichtsschreibung à la Treitschke – typisch für die Zeitgeschichte? Vorausgesetzt, die Elemente des Merkmalskatalogs treffen überhaupt zu: Was davon betrifft die Zeitgeschichte, was die gesamte Geschichtsschreibung?

Statt sich bei der Ergründung solcher Tendenzen auf zwei oder ein halbes Dutzend Bücher zu konzentrieren, müsste man sich alle Genres der (Zeit-)Geschichtsschreibung einmal empirisch vornehmen: von der wissenschaftlichen Zeitschrift, die sich an eine kleine Fachöffentlichkeit richtet, über Spezialstudien und Dissertationen, Sammelbände, Synthesen und Handbücher wie von Wehler, Winkler und vielen anderen, Fachbücher für Studierende wie solche im UTB-Verlag bis hin zu Sachbüchern, die sich an Laien richten, schließlich popularisierende Umsetzungen wie das, was man im Bahnhofsbuchhandel bekommt. Rechnet man nur seit 1945, kommt man bereits auf 120.000 unterschiedliche Geschichtstitel allein auf dem westdeutschen Buchmarkt. Angesichts der schieren Masse wäre die kritische Sichtung dieser Produkte, ja allein schon ihre korrekte Erfassung nach Epochenschwerpunkten, eine Herkulesaufgabe. Aber erst davon ausgehend ließen sich Tendenzaussagen treffen.

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Die These, Zeitgeschichte sei zunehmend der Öffentlichkeit ausgesetzt und unterliege einem steigenden Publikationsdruck, lässt sich mit der Koppelungsthese von Peter Weingart verbinden: In seinem Buch „Die Stunde der Wahrheit“ vertrat er die These der zunehmenden Koppelung, der Verflechtung von Wissenschaft mit Politik, Wirtschaft und Medien. Neben der Verwissenschaftlichung der Politik beobachtete er eine zunehmende Abhängigkeit der Wissenschaft von politischen Entscheidungen. Uns interessiert besonders die Wissenschaftspopularisierung durch die Medien und die „Medialisierung der Wissen-schaft“. Diese Koppelungen können fatale Folgen haben, wie Weingart am Beispiel Daniel J. Goldhagen deutlich gemacht hat.1 Wenn die Rezeptionsbedingungen sich ändern, erfolgen Rückkoppelungen auf den Prozess des Forschens und Schreibens. Die Autonomie der Wissenschaft ist gefährdet. Sie wird allerdings ebenso durch die „Evaluationitis“ manipuliert, weil diese die Produktion wissenschaftlicher Leistung, die sie zu messen vorgibt, eigentlich selber erst provoziert.

Gleichwohl bleibt es schwer zu sagen, was sich seit dem 19. Jahrhundert oder in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Im Vergleich zu Großbritannien war das deutsche Historikerfeld traditionell politisierter und mehr in Lager zerfallen, die sich mit bestimmten Verlagen verbündeten. Schon im frühen 19. Jahrhundert kämpften Hegelianer und Junghegelianer mit ihren jeweiligen Verlagen (Duncker & Humblot vs. Otto Wigand) gegeneinander, wie in den 1970er-Jahren die Sozialhistoriker (Vandenhoeck & Ruprecht) gegen die Historisten. Noch im Historikerstreit 1986 ließen sich die divergenten Positionen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Ernst Nolte) bzw. der „ZEIT“ (Jürgen Habermas u.a.) zuschreiben. Diese Polarisierungen sind vorbei, hier ist die deutsche „Zunft“ anglobalisierter geworden.2 Aber eines ist sicher: Die Rezeptionsbedingungen und die Produktionsverhältnisse haben sich verändert. Einfach gesagt: Es gibt viel mehr Text als je zuvor. Selbst Experten können nicht mehr alles verarbeiten, was in ihrem Gebiet erscheint. Zum Nationalsozialismus sind bis 1994 über 37.000 Titel publiziert worden, darunter 17.609 Monographien. Im Durchschnitt erscheint damit jeden Tag ein Buch zum Nationalsozialismus, mit steigender Tendenz.3 Die Zeitschriftentitel hat noch niemand gezählt. Aber wir wissen, dass 50 Prozent aller wissenschaftlichen Artikel niemals zitiert und wohl von fast niemandem je wahrgenommen werden. 80 Prozent aller Zitate entfallen auf nur 20 Prozent aller Aufsätze.4

 

Grafik 1: Bundesdeutsche Geschichtstitel und ihr Anteil an der Jahresproduktion in Prozent 1945–2003

Die Produktion von Geschichtstiteln insgesamt hat enorm zugenommen, die in der Zeitgeschichte noch mehr. Während ein Historiker im Jahre 1960 noch jährlich mit rund 1.000 Neuerscheinungen in Geschichte konfrontiert wurde, erscheinen heute rund 3.000 Titel in dieser Rubrik. Und das sind nur die bundesdeutschen Titel. Damals konnte die „Historische Zeitschrift“ in ihrem Rezensionsteil noch fast jedes Buch würdigen, heute kann sie nur jedes fünfte besprechen. Die Ressourcen für Aufmerksamkeit sind knapper geworden. Also, denken manche, müssen sie sich stärker anstrengen, um wieder Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das kann gefährliche Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung haben.5

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Zu diesen etwa 3.000 Geschichtstiteln kommen die der Deutschen Bibliothek gemeldeten Titel der bis 1985 geführten Rubrik „Politik, Wehrwesen“, in der sich die meisten zeitgeschichtlichen Titel finden. In der Branche wurde „Politik, Zeitgeschichte, Wehrwesen“ als eine Kategorie wahrgenommen.6 Die Sachgruppen lassen sich nicht genau voneinander trennen. In Grafik 2, die bis zur Kategorienumstellung im Börsenverein reicht, sind beide Rubriken aufgeführt. Dort beschreibt die hellgraue Fläche die Anzahl der Geschichtstitel wie in Grafik 1, während die darunter liegende dunklere Fläche Politik, Wehrwesen und Zeitgeschichte anzeigt. Zusammengenommen erscheinen rund 5.000 Geschichtstitel pro Jahr, weil zu den 3.000 Geschichtstiteln nochmals die Titel in der Rubrik „Politik, Wehrwesen, Zeitgeschichte“ hinzukommen. Kein DFG-Projekt hat bislang jemals gezählt, wie hoch darin der Anteil von „Zeitgeschichte“ selber ist. Prozentual nimmt Zeitgeschichte jedenfalls einen immer größeren Raum ein, verglichen mit allen Geschichtstiteln (Grafik 3). Genauere Angaben, zumal über 1985 hinaus, sind für die Rubrik Zeitgeschichte leider nicht zugänglich, schon gar nicht über Auflagenzahlen, wie jeder Buchwissenschaftler zu Recht bedauert. Der Trend ist jedoch eindeutig. Für die besondere Erfolgskurve von Zeitgeschichte seit den 1960er-/1970er-Jahren lassen sich Indizien finden, etwa in den Lehrstuhldenominationen. In den 1970er-Jahren wurden mehr und mehr Lehrstühle für Zeitgeschichte eingerichtet. 1954 gab es nur einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte, dreißig Jahre später aber 31. Dazu kamen die Lehrstühle für Neuere und Neueste Geschichte, die ja ebenfalls die Zeitgeschichte beinhalten (vgl. Grafik 4).7

 

Grafik 2: Bundesdeutsche Titelproduktion in Sozialwissenschaften, Politik, Geschichte 1945–1985

 

Grafik 3: Anteil der Titel in Sozialwissenschaften, Politik, Geschichte an der bundesdeutschen Titelproduktion 1945–1985

 

Grafik 4: Lehrstuhldenominationen in Geschichte 1954–1984

Die Multiplikation der Akteure führte auf natürlichem Wege zu einer vermehrten Produktion von Zeitgeschichtstiteln. Das Angebot wuchs parallel zur steigenden Nachfrage. Am Beispiel des Verlages C.H. Beck (Grafik 5) lässt sich das sehr deutlich erkennen. Eine Auswertung seiner Kataloge erhellt, dass Zeitgeschichte alle anderen Epochen in den 1970er-Jahren abhängt. Vormals war die Produktion zwischen Alter Geschichte, Mittelalter, Frühneuzeit und Zeitgeschichte recht gleichmäßig verteilt. Dann erleidet besonders die Alte Geschichte massive Einbußen, und die Zeitgeschichte überflügelt alle anderen Epochen.

 

Grafik 5: Epochenschwerpunkte beim Verlag C.H. Beck 1950–2000

Zeitgeschichte leidet seit etwa 1960 an keinem Legitimationsproblem mehr. Bis dahin musste sie sich mühsam erklären. Die Einrichtung des außeruniversitären Instituts für Zeitgeschichte in München 1949 mit seinen „Vierteljahrsheften“ hat viel dazu beigetragen. Trotzdem weigerte sich die „Historische Zeitschrift“ (wie auch die „Revue Historique“), zeitgeschichtliche Beiträge aufzunehmen. Die Zeit ab 1917, also Zeitgeschichte im Sinne von Hans Rothfels, stellte bis Mitte der 1950er-Jahre nicht einmal 5 Prozent der Beiträge in der „Historischen Zeitschrift“. Erst in den späten 1970er-Jahren stieg der Anteil auf über 20 Prozent.8

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Wohin führt die Hochkonjunktur der Zeitgeschichte, dieses, man könnte im Vergleich zur Zurückhaltung und Politikskepsis in den 1950er-Jahren fast sagen, Überangebot an Zeitgeschichte seit den 1960er-Jahren? Freilich trug es dazu bei, das Bildungsniveau der Leser zu erhöhen, das gesellschaftliche Aufklärungspotenzial zu steigern, und es hat zweifellos die Reputation der Autoren gemehrt. Doch verringert das Überangebot zugleich die Aufmerksamkeit gegenüber dem einzelnen Titel, und zwar sowohl auf der Produktionsstufe (einige Geschichtslektoren in renommierten Verlagen betreuen 30 Titel im Jahr – können sich also manchem Manuskript kaum eine Woche lang widmen), als auch in der Breitenrezeption. Dieses Dilemma wiederum hat zur Folge, dass die Autoren und Verlage die Aufmerksamkeit bei gestiegenem Publikations- und Selektionsdruck wieder erlangen wollen, etwa durch Skandalisierung, Sensationalisierung und Emotionalisierung. Damit sind wir nicht nur mit einem Nachfrageproblem konfrontiert, weil das Gros der Kunden nicht das lesen will, was Berufshistoriker lesen und was diese für seriös und sachkundig einstufen. Wir haben zugleich auch ein Angebots- und Selektionsproblem. Das ist relativ neu. Aus diesem Inszenierungsdruck heraus erklärt sich meines Erachtens der Fall Goldhagen 1996, dem eine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die sich umgekehrt proportional zur Qualität des Buches verhielt. Und so erklärt sich auch, warum manche Autoren und Verleger glauben, ohne Hitler könnten sie nichts mehr verkaufen. Zurzeit findet man in Bahnhofsbuchhandlungen das hier abgebildete Buch, das eindeutig vom Ersten Weltkrieg handelt, der eindeutig von 1914 bis 1918 ging. Hitler hat da oben in der linken Ecke nichts zu suchen, schon gar nicht mit einem Portrait aus dem Jahre 1933 (Künstler: Hermann Jacobs), es sei denn, man unterstellt den Machern erneut eine teleologische Geschichtsschreibung. Kann man nicht einmal mehr den Ersten Weltkrieg ohne Hitler verkaufen?

 

Hitlers Reich scheint die Zeitgeschichte und die Wahrnehmung der deutschen Geschichte absolut zu dominieren. Manche Leser, gar manche Bibliothekare haben offenbar längst die Orientierung verloren – als ginge die deutsche Geschichte im „Dritten Reich“ auf. Diese Verengung endete in einer Bibliothek in einer grotesken Systematik mit doppelter Asymmetrie: Deutsche Geschichte ist identisch mit dem Nationalsozialismus. Und das „Dritte Reich“ steht gleichsam als „Land“ der Geschichte aller anderen Länder gegenüber.9

 

Von der Illusion, der Nationalsozialismus sei alles, sollten Berufshistoriker und Berufszeithistoriker sich nicht hinreißen lassen. Der Eindruck, den Alexander Nützenadel und Wolfgang Schieder formulieren, liegt nahe: „Wer heute in Deutschland auf den wissenschaftlichen Buchmarkt blickt, wird feststellen, dass mehr Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte erscheinen als zu allen übrigen Epochen der Geschichte zusammen.“10 Das ist klar übertrieben. Der Zeitgeschichte zuzurechnen sind nicht über 50 Prozent, aber immerhin wohl an die 30 Prozent der historischen Titel. Wenn es zutrifft, dass – wie schon im 19. Jahrhundert – auch der Markt, dass auch Angebot und Nachfrage den Schreibprozess steuern und in die Autonomie wissenschaftsinterner Diskurszusammenhänge eingreifen, brauchen wir zur belastbaren Tendenzbeobachtung jedoch viel mehr valide Daten.

Anmerkungen: 

1 Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001.

2 Vgl. Olaf Blaschke, Sind deutsche Verlage anders? Ein überfälliges Plädoyer für den Einzug der internationalen Komparatistik in die Buchhandelsgeschichte, in: Monika Estermann/Ute Schneider (Hg.), Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung, Wolfenbüttel 2007, S. 179-197.

3 Michael Ruck, Bibliographie zum Nationalsozialismus, Darmstadt 2000.

4 Weingart, Stunde der Wahrheit? (Anm. 1), S. 105.

5 Die Datengrundlage für die folgenden Grafiken findet sich in: Olaf Blaschke, Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen 2010. Vgl. für die Produktionsdaten bereits ders./Hagen Schulze (Hg.), Geschichtswissenschaft und Verlagswesen in der Krisenspirale? Eine Inspektion des Feldes in historischer, internationaler und wirtschaftlicher Perspektive, München 2006.

6 Vgl. Curt Vinz/Günter Olzog (Hg.), Dokumentation deutschsprachiger Verlage, München 1962, die in der Reihenfolge dieselben Kategorien vom Börsenverein übernimmt, aber Zeitgeschichte explizit nennt.

7 Daten für Lehrstuhldenominationen: Peter Weingart u.a., Die sogenannten Geisteswissenschaften: Außenansichten, Frankfurt a.M. 1991.

8 Vgl. Oliver Simon, Das Profil der Historischen Zeitschrift 1949–1984. Mitarbeiter und Themen, Magisterarbeit Trier 2003, S. 102.

9 http://www.spiegel.de/spam/0,1518,556876,00.html (31.5.2008, ohne näheren Hinweis zum Ort).

10 Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder, Zeitgeschichtsforschung in Europa. Einleitende Überlegungen, in: dies. (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 7-24, hier S. 12.

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