Der Artikel betrachtet die späten 1960er- und die 1970er-Jahre als eine Umbruchszeit, in der in West- wie in Osteuropa fundamental neue Gesellschaftsentwürfe formuliert wurden. Ausgehend von 1968 als transnationalem Protestjahr wird gefragt, inwieweit sich die an Bedeutung zunehmenden Oppositionsbewegungen im östlichen Teil Europas von den neuen sozialen Bewegungen in Westeuropa unterschieden. Dabei werden die Geschlechterbeziehungen in den staatssozialistischen Gesellschaften ins Zentrum der Analyse gerückt, und es wird herausgearbeitet, inwieweit die Formung der Geschlechterverhältnisse durch staatliche wie oppositionelle Politik neue Gesellschaftsentwürfe beeinflusste. Die Konservierung traditioneller Geschlechterverhältnisse war sowohl für die Regime als auch für die oppositionellen Bewegungen funktional. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im östlichen Europa - im Gegensatz zu Westeuropa und den USA - aus den gesamtgesellschaftlichen Protestbewegungen keine einflussreiche Frauenbewegung hervorging.
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The article focuses on the late 1960s and 1970s as a period that witnessed political and societal changes as well as the rise of fundamentally new concepts of society in both Western and Eastern Europe. Taking 1968 as a starting point of transnational significance, it investigates differences between new oppositional movements in Eastern Europe and new social movements in the West. The article focuses in particular on gender relations within societies of the Eastern bloc. It demonstrates how the conceptions of these relations in policies of the regimes and within oppositional groups influenced projects for political change. Both regimes and oppositional movements preserved traditional gender relations in order to attain their respective political goals. Since gender relations played a key role in the formation of an oppositional identity, a women’s movement could hardly develop out of the broader movements which challenged the authorities of the socialist countries.
In Auseinandersetzung mit Jörn Rüsens „vier Typen des historischen Erzählens“ (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) wird ein fünfter Idealtypus zu begründen versucht, der sich aus gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie der Emergenz digitaler Medien ergibt. Das „situative Erzählen“ als neuer Modus der historischen Sinnbildung antwortet zum einen auf Formen der Identitätskonstruktion innerhalb einer „flüchtigen Moderne“, deren Kennzeichen die Absage an „große Erzählungen“ und die Auflösung stabiler Identitäten sind. Zum anderen wird diese Erzähl- und Sinnbildungspraxis durch hypertextuelle Kulturtechniken codiert, ausgestaltet und prämiert. Der Beitrag nennt einige historiographische Ansätze des „situativen Erzählens“ und fragt nach den Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft.
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In his theory of historical culture in 1982, Jörn Rüsen developed four ideal types of historical ‘meaning formation’ (Sinnbildung). This article extends Rüsen’s approach with an additional type, which takes into account current cultural and societal changes as well as the emergence of digital media. On the basis of theoretical considerations of media and following a sketch of Rüsen’s typology, the article maps the parameters of a new, so-called ‘situative narrative’. This new type of historical ‘meaning formation’ correlates with and responds to forms of identity construction in ‘liquid modernity’, a period characterised by fluid identities and the rejection of master narratives. At the same time, web 2.0 as narrative praxis is coded and formed by hypertextual cultural techniques. The article concludes with remarks on historiographical approaches to this model of ‘situative narrative’ and points out possible consequences for the study of history.
Der Beitrag befasst sich mit dem „Peckham-Experiment“, einem Forschungsprojekt, das in den 1930er- und 1940er-Jahren im „Pioneer Health Centre“ (PHC) durchgeführt wurde, einem Freizeit- und Gesundheitszentrum im Londoner Stadtteil Peckham. Im Fokus der Fallstudie steht die Genese neuen präventionsmedizinischen Wissens und neuer vorsorgebezogener Praktiken. Die beteiligten Experten versuchten, das „natürliche“ Potential von Individuen und die sozialen Beziehungen zwischen Familien zu nutzen, um ein gesundheitsförderliches Verhalten zu stimulieren. Das „Peckham-Experiment“ wird im Kontext der britischen wohlfahrtspolitischen Debatten und der biologisch-medizinischen Theorien seiner Gründungszeit analysiert. Gezeigt wird aber auch, dass der neue, stark auf Selbstverantwortung gerichtete Ansatz des PHC sich zudem aus den spezifischen Herausforderungen der „Laborsituation“ ergab, die im Laufe des Experiments zur Revision interventionistischer Vorannahmen führten. Allerdings waren andere Wissenschaftler skeptisch gegenüber den in Peckham gewonnenen Erkenntnissen. Zudem ließ sich das PHC nicht in den neuen „National Health Service“ integrieren. Beides bewirkte 1950 letztlich die Schließung des Centres.
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The article explores the ‘Peckham Experiment’, a research project conducted in a London health and leisure club in the 1930s and 1940s. The ‘Pioneer Health Centre’ (PHC) at Peckham serves as a case study, tracing changes in the practices and knowledge of preventive medicine. In the ‘Peckham Experiment’, experts aimed at tapping the ‘natural’ potential of individuals and the social relations between families for the purposes of health promotion. The article situates the Experiment within the context of British welfare policies and the bio-medical theories of the time. Further, it argues that the hands-off attitude that could be witnessed in Peckham evolved partly out of the challenges of the experimental setting itself, which in the course of the Experiment led to changes in its interventionist presuppositions. But this also made the Experiment vulnerable to criticism by other scientists and incompatible with the new National Health Service, resulting in its closure in 1950.
Waren die Publikationen des Historikers und Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf umstritten, so war es auch seine Initiative für die Errichtung eines „Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen“ in West-Berlin. Insbesondere der vorgesehene Standort im Haus der Wannsee-Konferenz von 1942 wurde 1966/67 über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus kontrovers diskutiert. Ein symptomatischer Teil dieses Streits war der erbitterte Briefwechsel zwischen Wulf und dem Berliner Propst Heinrich Grüber. Beide waren Verfolgte und Gegner des Nationalsozialismus gewesen, vertraten 1966/67 aber konträre Positionen; Grüber setzte sich dafür ein, die Wannsee-Villa weiterhin als Schullandheim zu nutzen. Der Aufsatz beschreibt den persönlichen Konflikt und interpretiert ihn vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit dem Nationalsozialismus Mitte der 1960er-Jahre. Die Haltung zu historischen Orten wie dem Haus der Wannsee-Konferenz war damals eine grundsätzlich andere als heute.
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The publications of the historian and Auschwitz survivor Joseph Wulf were controversial, as was his initiative to establish an ‘International Documentation Center for the Investigation of National Socialism and its After-effects’ in West Berlin. In particular, the designated location, the house in which the Wannsee Conference had taken place in 1942, led to heated debate which spilled beyond the borders of the Federal Republic in 1966-67. Symptomatic of this dispute was the bitter correspondence between Wulf and the provost of Berlin, Heinrich Grüber. Both men, who had opposed National Socialism and had been persecuted, took different sides on the debate; Grüber advocated keeping the Wannsee villa as an educational youth hostel. The article describes this personal clash and interprets it in relation to political and social discourse about National Socialism in the mid-1960s, a time when attitudes towards historical sites like the House of the Wannsee Conference were fundamentally different than they are today.
Welches Maß an Gleichheit muss eine sozialistische Gesellschaft garantieren, und wie viel Ungleichheit benötigt sie, um nicht in Stagnation zu versinken? Solche Fragen beschäftigten die sowjetischen Bürger nicht erst seit der perestrojka, aber in dieser Phase wurde der von der Kommunistischen Partei vorgegebene Diskursrahmen erweitert und schließlich gesprengt. Die Privilegien der Nomenklatura boten das Feld, auf dem über Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit gestritten wurde. Briefe von Bürgern an die Deputierten des Obersten Sowjets aus den Jahren 1989/90, die in diesem Aufsatz erstmals näher erschlossen werden, geben Einblick in unterschiedliche Positionen. Deutlich wird, dass nicht die Prinzipien der Verteilung als ungerecht galten (Leistungen für Staat und Gesellschaft als primäres Kriterium), aber ihre Ergebnisse. Ausgehend von Fragen sozialer Gerechtigkeit erweiterte sich die Debatte um Fragen politischer Gerechtigkeit; sie mündete in eine grundlegende Kritik an der Parteiherrschaft und beschleunigte den Zusammenbruch der bisherigen Ordnung.
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Does a socialist society have to guarantee equality and, if so, to what degree? Or does it also require inequality to some extent in order to avoid stagnation? Already before perestrojka, Soviet citizens were very preoccupied with these questions. However, since then the frame within which the Communist Party defined the discourse steadily expanded and, finally, exploded. The privileges of the nomenclatura were the crux that sparked discussions of inequality and distributive justice in the Soviet Union. Citizens’ letters to the deputies of the Supreme Soviet dating from 1989/90, which are analysed here for the first time, illustrate the different positions. It becomes clear that the results of distribution were considered unjust – rather than its very principles (benefits for state and society as the primary criterion). Initially only concerned with questions of social justice, the debate soon also came to encompass questions of political justice. Eventually it turned into a fundamental critique of one-party rule and thus accelerated the collapse of the existing order.