- Was ist Crowdfunding?
- Wemakeit und die Gründer:innen im zeithistorischen Kontext
- Crowdfunding: Konstitutive Grenzziehungen
- Mittels »Pitch« zur Clickgabe – neue kulturelle Kompetenzen
Zum zehnjährigen Jubiläum 2022 offerierte die Schweizer Crowdfunding-Firma wemakeit Anteile an ihrem Unternehmen. Registrierte Nutzer:innen, die sich bereits an Crowdfunding-Kampagnen beteiligt hatten, konnten vor allen anderen Interessent:innen wemakeit-Aktien erwerben. Nüchtern betrachtet fand damit das für Startups typische Initial Public Offering (IPO) statt, der Gang an eine Art von Börse, mit dem Firmeneigentümer:innen einen Teil ihrer Investitionen und ihrer Arbeit in Gewinn verwandeln. Bei wemakeit geschah dies nicht über die Schweizer Börse, sondern über ein Startup namens »Aktionariat«, das mit Blockchain-Technologie operiert. Es war aber auch nicht von einem Börsengang oder von einem IPO die Rede, sondern von einem »Crowd Take Over«. Auf der bunten Website, die wemakeit anlässlich des zehnjährigen Jubiläums eingerichtet hat, ist oben eine Laufschrift zu sehen. Weiß auf grün steht dort »Revolution jetzt – Revolution jetzt – Revolution jetzt...«. Das Schriftband erinnert an einen Nachrichten- oder Börsenticker. Anstelle der Bindestriche finden sich grob gepixelte Fahnen: ein Symbol der Rebellion. Weiter unten heißt es: »Revolution! Wir gingen schon immer gerne auf die Barrikaden, haben Dinge anders angepackt und auf unsere eigene Art gemacht.« Es ist von Partizipation und Teilhabe die Rede: »Die Revolution geht weiter – und heisst Crowd Take Over: Wir werden die erste Crowdfunding-Plattform, die der Community gehört. Sei dabei!«1
Im folgenden Text dient uns die Geschichte dieser Crowdfunding-Plattform als Fallstudie, um die auf einer technischen Infrastruktur basierende neue soziokulturelle Praxis, das Crowdfunding, und das mit ihm verbundene Transformationsversprechen genauer unter die Lupe zu nehmen. Seit Mitte der 2000er-Jahre betraten größere Crowdfunding-Plattformen die öffentliche Bühne – in Europa zuerst 2006 SellaBand, ein niederländisches Unternehmen, das sich an Musiker:innen und ihre Fans richtete. Den Anfang allgemeinerer, nicht nur themenspezifischer Plattformen machte 2008 Indiegogo in den USA, gefolgt ein Jahr später vom langjährigen Marktführer Kickstarter. 2010 begannen unter anderem auch Gofundme (USA) und Startnext (Deutschland) ihre Aktivitäten. Mit leichter Verzögerung gründeten sich 2012 in der Schweiz wemakeit und 100-days.net (später Crowdify). Sie sind bis heute landesweit die wichtigsten Crowdfunding-Plattformen; wemakeit ist nach eigenen Angaben die viertgrößte in Europa.2
Solche Plattformen galten schnell als zukunftsweisende Modelle für die Finanzierung von Kunst- und Kulturprojekten, aber auch für andere Zwecke – für die Entwicklung neuer Produkte, für politische Kampagnen oder auch für unterversicherte Menschen, die teure Gesundheitsbehandlungen oder Anwälte benötigen. Die »Crowd Take Over«-Kampagne von wemakeit rückte nicht zufällig die Begriffe »Community« und »Crowd« ins Zentrum. Sie folgte damit der Rhetorik des Web 2.0 der 2000er- und 2010er-Jahre, in der das Internet mit Social Media wie Facebook (2004), YouTube (2005) oder Instagram (2010) eine digital vermittelte Community als Dienstleistung bzw. Ware in einem digitalen Kapitalismus anbietet.
Crowdfunding-Anbieter versprechen eine »Demokratisierung« von Finanzierungsmöglichkeiten – wobei nicht immer klar wird, was genau damit gemeint ist: eine neue Zugänglichkeit von Kommunikationskanälen und Netzwerken oder auch fundamentalere Mitbestimmungsmöglichkeiten. Begriffe wie »Community« und »Crowd« bezeichnen in diesem Kontext nicht einfach digital konstituierte Formen von Sozialität, sondern sie laden die Praxis des Crowdfundings zugleich mit Konnotationen von Gemeinschaftlichkeit und Modernität auf. Bemerkenswert an der Rhetorik auf der wemakeit-Website ist auch die (mehr oder weniger ironisch gefärbte) Übernahme der Sprache politisch-emanzipatorischer Bewegungen (»Revolution«). Es scheint um nichts Geringeres zu gehen als um ein besseres und gerechteres Wirtschaften auf der Basis wechselseitiger, solidarischer Unterstützung, das durch die digitale Infrastruktur der Crowdfunding-Plattformen erst möglich werde.3
Unsere Studie zu wemakeit behandelt eine spezifisch europäische, gewissermaßen nicht-kalifornische Ausprägung von Crowdfunding, zu einem spezifischen Zeitpunkt, den frühen 2010er-Jahren. Zugleich werden die Schweizer Crowdfunding-Plattform (die in der Stadt Zürich mit Fokus auf Kunst und Kultur gegründet wurde und neben der Schweiz auch in Österreich aktiv ist) sowie die an ihr Beteiligten als Seismograph verwendet, um mediale, politisch-ökonomische, semantische, rechtliche, kulturelle und in einem weiteren Sinne gesellschaftliche Verschiebungen, die das erste Viertel des 21. Jahrhunderts prägten, zeithistorisch und empirisch-kulturwissenschaftlich bzw. europäisch-ethnologisch4 zu diskutieren. Dies sind so aktuelle Entwicklungen, dass die Geschichtswissenschaft mit ihren Methoden dafür (noch) nicht direkt zuständig sein kann. Doch bietet gerade der kurze zeitliche Abstand die Möglichkeit, rezente Phänomene noch im Prozess der Entstehung historisch einzuordnen und mit weiterführenden Fragen zu verbinden.
Mit dem Begriff der »Clickgabe« beziehen wir uns auf den von Marcel Mauss 1925 geprägten Begriff der »Gabe«, der ein System von Austauschbeziehungen analytisch fasst, wobei das charakteristische Merkmal dieses Tausches darin besteht, dass Gaben zwingend erwidert, Leistungen (zeitverzögert) mit Gegenleistungen abgegolten werden müssen.5 Inwiefern solche Austauschbeziehungen den Click-Moment prägen, das heißt das technisch-infrastrukturell vermittelte Geben auf Crowdfunding-Plattformen, und welche Rolle die ethisch-symbolische Anmutung von Reziprozität für die soziokulturelle Praxis spielt, wurde bereits diskutiert.6 Ausgehend von diesen Überlegungen zielen wir auf mehrere Analyseebenen: Die erste versucht eine historische Einordnung und fragt danach, ob und wie sich die Praktiken des Gebens, die eine Crowdfunding-Firma wie wemakeit mit ihren Dienstleistungen anleitet, von anderen (d.h. älteren) Formen der Finanzierung durch Mäzene, Spenden, Subskriptionskäufe oder Subventionen unterscheiden. Die zweite Analyseebene beschäftigt sich mit den kulturellen und (kollektiv-)biographischen Kontexten, welche Crowdfunding-Firmen prägen. Die dritte Analyseebene verbindet historische und empirisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven; hier fragen wir nach den Rückwirkungen der untersuchten Praktiken auf die Organisation und das Verständnis von Kulturfinanzierung sowie auf das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Dabei verknüpfen wir wirtschafts-, wissens- und infrastrukturhistorische Zugänge (Dommann) mit empirisch-kulturwissenschaftlichen Perspektiven (Ege). Moritz Eges Studien zu popkulturnahen Ökonomien (z.B. dem Schlüsselkonzept des Supports)7 sowie Monika Dommanns Forschungen zu digitalen Infrastrukturen (etwa den lokalen Verankerungen von Kryptowährungen und Data Centers),8 zu Markttransaktionen und ihren Gegenkonzepten9 stellen Vorarbeiten dar. Sie verfolgten das Ziel, ökonomische und infrastrukturelle Praktiken als Teil von sozialen Welten zu verstehen und damit auch technik- und ökonomiedeterministische Kurzschlüsse zu hinterfragen.
Methodisch basiert der Beitrag auf einer Verbindung von halbnarrativen Interviews (mit den drei wemakeit-Gründer:innen sowie zwei Personen, die später ins Kernteam des Unternehmens kamen; zudem zwei Interviews mit den Gründern einer anderen Schweizer Crowdfunding-Plattform) und Quellenarbeit (der Auswertung von wissenschaftlicher Literatur, von Medienberichten, Branchendokumenten sowie der Analyse der Internet-Plattform). Die Gespräche fanden zwischen März 2023 und Januar 2025 statt; sie wurden in Schweizerdeutsch geführt und ins Hochdeutsche übersetzt.10 Unsere Forschung stützt sich auf gegenseitige Vertrauensbeziehungen, die zum Teil Nähe einschließen, aber eine kritische Haltung zulassen. Wir haben die Namen der drei Gründer:innen von wemakeit und der aktuellen Führungsriege sowie weiterer Interviewpartner:innen pseudonymisiert (in den Fußnoten markiert mit »p«).
In Abschnitt 1 diskutieren wir einige wesentliche Einsichten der interdisziplinären Forschung über Crowdsourcing und Crowdfunding, wobei wir zugleich die das Phänomen mit-konstituierende Wissensproduktion beleuchten. Abschnitt 2 stellt kurz die sozioökonomischen Konstellationen dar, die auf die Entstehung von Crowdfunding-Plattformen einwirkten. Dann begeben wir uns auf die Ebene konkreter Akteur:innen, sondieren den Zürcher Entstehungskontext und gehen den Biographien der Gründer:innen von wemakeit nach. Der Hauptteil des Textes (Abschnitt 3) widmet sich den Grenzziehungen von Crowdfunding. Inwiefern wurde diese neue soziokulturelle Praxis auch dadurch hervorgebracht, dass sie semantisch von anderen, älteren Praktiken abgegrenzt wurde? Wie wurde das Crowdfunding im Falle von wemakeit juristisch eingestuft und reguliert? Was gilt auf der Plattform als politisch »Crowdfunding-würdig« – und was nicht? In Abschnitt 4 werden die Ergebnisse der Fallstudie vor dem Hintergrund historischer Trends einer zunehmenden Vermarktlichung diskutiert. Wir argumentieren, dass Crowdfunding durch die Praxis des »Pitchens« einen Lern- und Normalisierungsprozess unter Kulturproduzent:innen anstieß.
Der Begriff Crowdfunding ist wie das Phänomen selbst ein Kind des 21. Jahrhunderts und entstammt dem amerikanischen Englisch. Das Online-Wörterbuch von Merriam-Webster datiert die Entstehung des Begriffs auf 2006 (jenes Jahr, als die Plattform SellaBand online ging) und schlägt ihn dem Unternehmer Michael Sullivan zu.11 Semantisch verwandt ist der Begriff Crowdfunding mit jenem des Crowdsourcing, der ebenfalls ins Jahr 2006 datiert wird und auf einen Artikel des Bloggers Jeff Howe in der Tech-Zeitschrift »Wired« zurückgehen soll.12 Am Anfang von »The Rise of Crowdsourcing« steht eine Zeichnung der Crowd-Idee – ein Knäuel von jungen Menschen, die mit ihren Händen nach der Welt greifen. Es finden sich auch Tauben (ein Verweis auf die Brieftauben des 19. Jahrhunderts oder auf Friedenstauben) und Sprechblasen (ein Verweis auf die zu Beginn der 1990er-Jahre ins Leben gerufenen Short Messages). Dabei handelt es sich um die in der Technikgeschichte bekannte Verankerung einer neuen Technologie in einer alten, wie sich das etwa im Begriff der Straßenbahn als Erweiterung der Eisenbahn oder des Luftschiffes als Wiedergeburt eines Wasserfahrzeuges in der Luft manifestierte.
Der Begriff Crowdsourcing wurde in Anlehnung an Outsourcing (der Verlagerung von Arbeit aus den USA nach Asien) kreiert. Er bezieht sich auf den Trend der Bereitstellung von Dienstleistungen und Inhalten durch eine Online-Crowd (d.h. einer großen Gruppe von verstreuten, durch Personal Computer vernetzten Individuen) statt durch Unternehmen und Angestellte. Während mit Crowdsourcing die internetvermittelte Arbeitsteilung gemeint ist, geht es bei Crowdfunding um die internetvermittelte, Community-basierte Finanzierung von Projekten.
Zur Historisierung sind wissensgeschichtliche Perspektiven aufschlussreich, da Crowdfunding in der Forschungsliteratur nicht einfach gespiegelt und analysiert, sondern auch mit Zuschreibungen und Visionen über Anwendungen und Geschäftsideen versehen wird. Der Begriff wird für recht unterschiedliche Phänomene verwendet: Crowdfunding dient als Investition, als Spende (ohne Gegenleistung), als Form von Mikrokredit, als Subskription (mit späterer Gegenleistung), im Gesundheitssektor als Ersatz für fehlende Sozialversicherungen und im Kulturbereich als Ersatz für ausbleibende Erlöse oder mangelnde Subventionen.13
Nach einer kursorischen Durchsicht lässt sich festhalten, dass zumindest ein Teil der Forschungsliteratur den Gegenstand nicht distanziert beschreibt, sondern selbst als Teil des untersuchten Phänomens zu begreifen ist. Blättert man in der um 2010 einsetzenden, fast ausschließlich sozialwissenschaftlichen, vornehmlich ökonomischen Literatur, fallen Narrative auf, welche die Kontinuität zu älteren, nicht-digitalen Praktiken betonen, etwa wenn die Finanzierung des Sockels der Freiheitsstatue Ende des 19. Jahrhunderts mittels eines Zeitungsaufrufs als erstes Crowdfunding bezeichnet wird.14 Zudem wird auf digitale Früh- und Vorläufer-Phänomene in den Internetkulturen der 1990er- und 2000er-Jahre verwiesen. Deren Unterschiedlichkeit erschwert eine klare sachliche Abgrenzung zum Beispiel von Crowdsourcing, Micro-Finance-Plattformen15 oder digitalem Fundraising von Startups.
Der Neuheitscharakter steht in der Literatur jedoch im Zentrum. Eine im Auftrag des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe erstellte Studie von 2010 hat beispielsweise die interaktiven, kollaborativen Möglichkeiten des Web 2.0 hervorgehoben. Das Potential einer massenhaften Mobilisierung von Internetnutzer:innen in sehr kurzer Zeit wird als etwas Neues erachtet, das das Crowdfunding von älteren Praktiken unterscheide.16 Die begrenzte Laufzeit der Kampagnen, das verbreitete All-or-Nothing-Prinzip, das die Auszahlung der Beiträge an das Erreichen des Finanzierungsziels koppelt, und die Sichtbarkeit der Zwischenstände (»89% von 20.000 Franken erreicht!«) verschärfen den Handlungsdruck und sorgen für zusätzliche Motivation (»gamification«). Die Studie betont allerdings auch, dass das Potential der Crowd bislang nur wenig ausgeschöpft werde; es ist von »Schläfern« die Rede, die bloß richtig adressiert werden müssten. Zudem wird den Projekten angesichts der kleinen Budgets eine geringe unternehmerische Ambition zugeschrieben.17 Die Studie des Fraunhofer-Instituts bilanziert, dass das in der Kreativindustrie verankerte Crowdfunding ein Wachstumspotential habe – falls die unternehmerische Orientierung in diesem Sektor gesteigert würde. Interessant an dieser Einschätzung ist, dass Crowdfunding als Instrument des Fundraisings und im Denkmuster einer betriebsökonomischen Fassung von Unternehmen diskutiert wird, die sich um Businesspläne, Marktanalysen, Patentsicherung, Steueroptimierung etc. kümmern sollten.
Einige anwendungsorientierte Studien untersuchen wiederum die Erfolgsfaktoren von Crowdfunding-Kampagnen und damit das Crowd-Verhalten. Sie betonen auch die primär immateriellen, ethischen und identitätsbezogenen Motivationen der Crowd-Mitglieder.18 Allerdings wird die Crowd in dieser Literatur eher implizit als explizit diskutiert. Sie wird vor allem als potentieller Investor gerahmt, der adressiert und aktiviert werden könne.
Eine Ausnahme ist in dieser Hinsicht die von Startup- und Investorenfirmen finanzierte Broschüre »A Framework for European Crowdfunding« von 2012, welche das Konzept der Crowd affirmativ ins Zentrum stellt. Ein nicht genauer spezifiziertes Zitat von Gustave Le Bon, einem Begründer der Sozialpsychologie und Autor des Werkes »Psychologie der Massen«,19 dient als Motto der Publikation: »While all our ancient beliefs are tottering and disappearing, while the old pillars of society are giving way one by one, the power of the crowd is the only force that nothing menaces, and of which the prestige is continually on the increase. The age we are about to enter will in truth be the era of crowds.«20 Während es bei Le Bon um ein psychoanalytisches Verständnis von Gemeinschaftsbildung und spezifisch um Gruppenmanipulation ging, wird die Crowd hier als Allheilmittel zur Erholung von der Finanzkrise seit 2008 und als Werkzeug einer »schöpferischen Zerstörung« verwendet, mit Verweisen auf Joseph A. Schumpeter.21 Schumpeter wird von Exponent:innen der Plattformökonomie gern als Stammvater ihres Disruptionsnarrativs recycelt. Schon beim Vater der modernen Unternehmenstheorie lässt sich eine Aneignung des Revolutionsbegriffs im kapitalistischen Selbstverständnis finden, wenn er davon spricht, dass die industrielle Mutation die ökonomische Struktur von innen her »revolutioniere«.22
Neben den von Investitionsbestrebungen geleiteten Publikationen bietet sich Crowdfunding auch als Studienobjekt für grundlegende wirtschaftspsychologische, verhaltensökonomische und businessethische Fragen an – etwa die Frage, ob die intrinsische Motivation zum Spenden durch Belohnungen geschmälert werde,23 oder ob sich die Grenzen zwischen Business und Philanthropie bzw. zwischen Eigennutz und Altruismus durch Crowdfunding aufweichen könnten. Es gibt Forschungen aus der Stadt- und Wirtschaftsgeographie zur urbanen Verankerung von Crowdfunding-Plattformen und zu Partnerschaften mit Städten und Gemeinden (»Civic Crowdfunding«).24 Andere Studien kritisieren das Narrativ einer »Demokratisierung der Finanzwelt« bzw. des Finanzierens dezidiert;25 sie weisen auf schwindende oder begrenzte Budgets von Kulturinstitutionen hin, welche Crowdfunding-Kampagnen motiviert hätten, und heben hervor, dass das Zahlen von Beiträgen noch keine substanzielle Mitbestimmung bedeute.26 Zudem gibt es Studien, die sich aus kulturökonomischer Perspektive mit den Auswirkungen von Crowdfunding auf die Karrieren von Künstler:innen und deren Selbstverständnis als Amateur:innen bzw. Profis beschäftigen.27
Spezifisch zur Situation in der Schweiz wurden einige Fallstudien erstellt,28 jedoch bislang keine Forschungen betrieben, die sich vertieft mit den sozioökonomischen Konstellationen, den biographischen Hintergründen sowie den politischen und gesellschaftlichen Positionierungen von Crowdfunding-Plattformen beschäftigt hätten, wie wir das am Beispiel von wemakeit hier tun möchten. Wir können uns jedoch auf die seit 2014 vorliegenden Erhebungen des Crowdfunding-Monitorings von Andreas Dietrich und Simon Amrein stützen29 sowie auf einige Studien über allgemeine Fragen des Crowdfundings (z.B. Erfolgsfaktoren oder Reichweite), die Schweizer Plattformen, darunter wemakeit, zum Ausgangspunkt nehmen.30
2. Wemakeit und die Gründer:innen im zeithistorischen Kontext
In den 1980er- und 1990er-Jahren verschränkten sich soziopolitische Entwicklungen (etwa die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Leitideen – vielfach eher als Rhetorik) in staatlichen Institutionen sowie im Sozial- und Kulturbereich (oft als Teil einer umfassenderen Neoliberalisierung verstanden) mit technologischen Veränderungen (der Verfügbarkeit von Personal-Computern als massenproduziertem Konsumgut und der Vernetzung von Rechnern durch das World Wide Web). Eine von Schweizer Non-Profit-Organisationen in Auftrag gegebene Studie unternahm den Versuch, künftige Finanzierungsmodelle angesichts der sinkenden Spendeneinnahmen und des politischen Drucks durch »ökonomisches Denken« zu skizzieren. Die Studie empfahl sowohl mehr »Marktorientierung« und »Qualitätsmanagement« als auch »Entmonetarisierung durch Tausch«.31 Seit Beginn des 21. Jahrhunderts – nach dem Platzen der Dotcom-Blase, der Entstehung von illegalen File-Sharing-Plattformen für Musik und Filme, der Finanzkrise, der Occupy-Bewegung sowie von Crowdfunding-Plattformen (die auch eine Reaktion auf sinkende Erträge im Musikbusiness darstellen) – stieg generell das öffentliche und akademische Interesse an weder kapitalistischen noch staatssozialistischen Wirtschaftsformen. Das setzte auch eine Welle von Forschungen über alternative, solidarische Ökonomien in Gang und begründete ein neues, teilweise utopisch motiviertes Interesse an der Ethnographie von Reziprozität.32 Darüber hinaus hat das Phänomen der durch den Plattformkapitalismus reich gewordenen und in die Philanthropie eingestiegenen Tech-Milliardäre wie Bill Gates der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Spenden Auftrieb gegeben.33 An der Universität Basel wurde von den SwissFoundations, dem Verband der Schweizer Förderstiftungen, 2008 das Center for Philanthropy Studies (CEPS) gegründet.34
Crowdfunding-Firmen sind zugleich ein Effekt und ein Treiber dieser sozioökonomischen und soziotechnischen Großwetterlagen. Sie sind generell der Welt der Technologie-Startups zuzurechnen. Doch sind einige von ihnen, wie zum Beispiel wemakeit, stärker als andere Unternehmen dieses Sektors durch die Nähe ihrer Akteur:innen zur Welt der Kunst- und Kulturproduktion – in der Wirtschaftsförderung oft als »Kreativindustrie« bezeichnet – und zu alternativen Wertesystemen geprägt. Von »Kultur« ist hier und im Folgenden viel die Rede: Wir benutzen das Wort meist im Sinne des dominanten Sprachgebrauchs in unserem Forschungsfeld, das heißt als Bezeichnung für einen Bereich gesellschaftlicher Praxis (wie in den Begriffen »Kulturförderung«, »Kulturschaffende« usw.), der darauf spezialisiert ist, ästhetische Erfahrungen zu produzieren. In diesen Fällen verstehen wir »Kultur« im Sinn der Geschichtswissenschaft als Quellenbegriff, im Sinn der Ethnologie als emischen Begriff. Gelegentlich nutzen wir »Kultur« aber auch als analytisches Werkzeug (»Gegenkultur«, »kulturelles Gedächtnis« usw.).
Wer sind nun (in einem kulturanalytischen Sinn) die Akteur:innen, die diese Ausprägung von Crowdfunding als digitale Ökonomie mit Fokus auf Kunst und Kultur vorangetrieben haben? Im Hintergrund der Frage steht die vielkommentierte Tatsache, dass prominente Cluster der sogenannten Kreativwirtschaft und auch der Technologiekonzerne in den USA aus sehr spezifischen städtischen Szenen und Milieus entstanden sind.35 Die bekannte Geschichte der für die Internet-Ökonomie grundlegenden »Californian Ideology« mit ihren Hippie-Wurzeln und zugleich ihren libertären Elementen in und um San Francisco und in der Bay Area illustriert, dass es in besonderem Maße gegenkulturelle, im weiteren Sinn kapitalismuskritische36 Strömungen der 1970er- bis 1990er-Jahre waren, die solche Milieus prägten, die dann um die Jahrtausendwende wiederum Spielarten des digitalen Kapitalismus stark beeinflussten. Mit dem Gegenkulturellen ist hier die Tradition der politisch oppositionellen, alternative Lebensweisen ausprobierenden Counterculture gemeint, die sich in den USA in den 1960er-Jahren formierte.37 Doch es gibt auch weitere Geschichten, die dieser bekannten Erzählung nicht in jeder Hinsicht entsprechen – eine davon ist die Entstehung von wemakeit.
Wemakeit wurde 2012 in Zürich gegründet und ist aktuell die umsatzstärkste Crowdfunding-Plattform der Schweiz. Trotz ihrer nur knapp 450.000 Einwohner:innen ist die Stadt Zürich mittlerweile nicht allein als Banken- und Versicherungsmetropole bekannt, sondern zugleich als digitaler Hub (auch für globale Konzerne), welche die Nähe zur Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) schätzen. Prägend für die Stadt ist aber auch, dass die heutige politische Elite der rot-grün regierten Wirtschaftsmetropole und das kulturelle bzw. kulturpolitische Feld sich zu nennenswerten Teilen aus der alternativen Szene der Zürcher Jugendbewegung der 1980er-Jahre rekrutieren, welche anlässlich der Wiederöffnung des Opernhauses am 30. Mai 1980 mit dem sogenannten Opernhauskrawall und Forderungen nach kulturellen Freiräumen ihren Anfang nahm.38
Die Biographien der Gründungsfiguren – wir nennen sie Michael Surber, Dinah Brügger und Stephan Gmür – sind mit der örtlichen Kunstszene, Bohème und Gegenkultur sowie mit ihrer spezifischen Geschichte verknüpft. Wemakeit präsentiert sich als politisch progressiv und eher dem linken als dem rechten politischen Lager zugehörig – darauf wird zurückzukommen sein. Die Biographie des wemakeit-Hauptgründers (und, vor dem »Crowd Take Over«, Haupteigentümers) Michael Surber (geb. 1960) ist mit der Zürcher 1980-Bewegung verbunden: Er war für sein Studium der Ethnologie und Geschichte Ende Mai 1980 in die Stadt gezogen, just an jenem Wochenende, an dem die Jugendunruhen ausbrachen.39 Die Wahl des Studienfaches war nicht zufällig: Die Zürcher Ethnologie war zu diesem Zeitpunkt ein Modefach für kultur- und gesellschaftskritisch gesinnte Student:innen und auch »der Ort innerhalb der Uni, der sich sehr stark mit der Jugendbewegung solidarisierte«. Zugleich passten die Inhalte des Ethnologie-Studiums, die Beschäftigung vorwiegend mit nichtwestlichen, nicht industrialisierten Kulturen, mit der Haltung der Bewegung zusammen, die von der Sehnsucht nach einem Ausbrechen aus der westlichen Moderne geprägt war. Surber beschreibt aber weniger den Exotismus als vielmehr den ethnologisch-befremdenden Blick auf die eigene Gesellschaft, den er im Studium erwarb, als richtungsweisend für sein Weltverständnis und seine berufliche Zukunft als »Kreativer«: »Die Ethnologie der eigenen Gesellschaft, das wurde ja in diesen Jahren so ein bisschen geprägt, das hat mich schon sehr beeindruckt. Und die Methode, das Eigene als etwas Fremdes anzuschauen, dieser Relativismus, das war für mich extrem wichtig.« Der in der Ethnologie erworbene, verstehende Zugang (»Ich weiß nichts«) habe ihm später geholfen, auch auf scheinbar so fremde Dinge wie FinTech und Blockchain offen zuzugehen und zu lernen. »Unideologisch. Das ist mein Vorgehen, das zeichnet mich aus.« In dieser Abgrenzung von als starr und einschränkend wahrgenommenen politischen Ideologien (der 1970er-Jahre) manifestiert sich ein linksalternativer 1980er-Jahre-Habitus von Selbstverwirklichung, Weltoffenheit und der Suche nach neuen Kollektiven.40
2011 begann Surber zusammen mit Dinah Brügger und mit finanzieller Unterstützung von Pro Helvetia, Migros Kulturprozent und der Ernst-Göhner-Stiftung eine Vorstudie zum wemakeit-Projekt. Inzwischen hatte er sowohl dem Studium (das er abbrach, weil er im formalen Abschluss keinen Nutzen sah) als auch dem im engeren Sinne politischen Teil der aus der 1980-Bewegung hervorgegangenen Szene längst den Rücken gekehrt. Er war als Musiker und Künstler tätig und verdiente Geld als Bildredaktor bei der Agentur Keystone. Ende der 1990er-Jahre war er mit der Gestaltung von Internet-Auftritten bei einem großen Medienhaus beschäftigt, aber auch an kollaborativen (Medien-)Kunst-Projekten beteiligt.
Die beiden weiteren Gründer:innen sind ein bzw. eineinhalb Jahrzehnte jünger und dadurch mit anderen kulturellen Bezugspunkten sozialisiert. Dinah Brügger (geb. 1972) war Kulturveranstalterin, Miteigentümerin der Kultur- und Kommunikationsagentur swissandfamous sowie Büronachbarin von Surber, als dieser sie für das Projekt ansprach.41 Sie war im Berner Oberland aufgewachsen. Nach einer kaufmännischen Ausbildung hatte sie zunächst in Hotels gearbeitet, bevor sie als Sekretärin und Geschäftsleitungs-Assistentin bei einem Kommunikationskonzern Karriere machte und sich schließlich auf das Literatur- bzw. Kulturfeld konzentrierte. Ausschlaggebend dafür war, wie sie berichtet, eine Begegnung mit dem Autor Christian Kracht während eines beruflichen Indienaufenthalts. Danach begann sie, in Zürich Lesungen mit »Popliteraten« wie Kracht oder Nick Hornby zu veranstalten. Partizipation und das Ermöglichen von kultureller Teilhabe seien die Leitmotive der eigenen Arbeitsbiographie. Die beiden Motive verbinden die Popularisierung von Popliteratur mit dem Crowdfunding: »Ich glaube, mich hat in meinem Leben immer die Herausforderung [gereizt], einen neuen Zugang zu schaffen für eine Zielgruppe, die diesen noch nicht hat, nicht kennt und vielleicht auch noch nicht das Bedürfnis hat danach, aber es zu wecken. [...] Ich habe mich sechs Jahre mit Letʼs Museum beschäftigt, wo ich einen Zugang für ein breites Publikum in Museen vorangetrieben habe. Also das ist so etwas, das bleibt. Das ist, glaube ich, mein roter Faden. Und da war wemakeit natürlich eine wahnsinnig spannende Zeit für mich. Da habe ich viel lernen können über die Menschen und ihre Bedürfnisse und wie man die triggert.«42
Zusammen mit Surber warb Brügger 450.000 Franken für die Vorbereitung des Crowdfunding-Anbieters ein. Bei wemakeit war sie mit ihrem umfangreichen Netzwerk in der Kulturszene dann vor allem für die Akquise und Beratung von Projekten zuständig, übernahm in der Geschäftsleitung aber auch viele weitere Funktionen. Sie vertritt eine emphatisch-positive Perspektive auf die partizipativen Elemente von Crowdfunding und versteht sie in diesem Sinn als demokratisierend. Inzwischen hat sie sich wie Surber aus dem operativen Geschäft herausgezogen.
Stephan Gmür (geb. 1978) war im Anfangsteam vor allem für die Gestaltung (»Frontend«) und zusammen mit »Backend«-Programmierern für die technische Seite von wemakeit verantwortlich.43 Unter den drei Gründer:innen ist Gmür der im engeren Sinne technisch Kompetenteste. Wie Surber verfolgt er aber auch einen künstlerischen Anspruch und ist als (Medien-)Künstler in prominenten Museumssammlungen vertreten. Er beschreibt sein Tätigkeitsfeld als »Rotation zwischen Technologie, Kunst und Gestaltung«. Schon mit acht Jahren habe er sich das Programmieren in der Sprache Basic beigebracht und dies sofort mit dem Künstlerischen verbunden: »Ich hatte als Kind diese Möglichkeiten aufgesogen und damit gespielt und von Anfang an verstanden, dass das eine Kulturmaschine ist und du dir das aneignen kannst, wie Sprache und wie jedes andere Material. Du kannst das formen und dich ausdrücken dadurch. [...] Eine Konstruktion, die sich selber erklärt. Ich suche da drin immer die Poesie. Mir geht’s darum, eine alternative Welt aufzuzeigen, wo Technik nicht von großen Firmen dazu genutzt wird, zum consumer zu machen, uns alle in subscription models abhängig zu machen, sondern eigentlich so die digitale Allmende als Idee. Aber nicht nur mit der Software, sondern auch mit der Hardware. Dass wir alle Mitbesitzer und Mitgestalter dieser Infrastruktur sind, idealerweise. Technologie als Teil der Kultur, innerhalb des kulturellen Diskurses, nicht außerhalb. Utopie.«44
Mit solchen Selbstbeschreibungen und mit dem Verweis auf die digitalen »Commons« bzw. die Allmende verortet sich Gmür in der Diskurswelt der Netzkunst und des Netzaktivismus der 1990er- und 2000er-Jahre – mitsamt deren antikommerzieller Orientierung. Gmür wuchs in der ländlich-kleinstädtischen Innerschweiz auf. Im Studium wollte er sich zunächst »Ingenieurwissen aneignen, um künstlerisch damit zu arbeiten« (mit dem Vorbild des MIT – das habe er an der ETH im Elektrotechnikstudium jedoch nicht verwirklicht gefunden). Mit seinem Interaction-Design-Abschluss von der Kunsthochschule in Lausanne (ECAL) ist er der einzige Hochschulabsolvent der drei Gründer:innen.
Gmür stieg als erster der drei Genannten aus dem Unternehmen aus und verkaufte seine Anteile günstig – finanziell betrachtet, deutlich »zu früh«, sodass ihm einige hunderttausend Franken entgingen, was er heute ambivalent einzuschätzen scheint: Er blieb sich treu, verpasste jedoch den monetären Freiheitsgewinn. Im Interview spricht er sehr viel kritischer als die anderen über Crowdfunding, betont aber auch Positives. An der »Tech-Kultur« findet er vieles »cringy«. Im Crowdfunding sieht er zugleich politisch libertäre Tendenzen, er bezeichnet es als das »Airbnb« oder das »Uber« der Kulturförderung, weil es die staatliche Kulturförderung ersetze, zumindest im Verständnis mancher Proponent:innen. Das Crowdfunding treibe einen problematischen Prozess voran, in dem die Selbstvermarktung für Kulturproduzierende und auch für viele andere Menschen zur Normalität, zur ständigen Anforderung geworden sei. Allerdings relativiert Gmür seine Kritik durch einen Verweis auf die eigenen Privilegien: »Also ich komme natürlich aus so einer Schweizer Position und bin es […] gewohnt, Kulturförderung zu erhalten. Wir haben dreimal den Swiss Design Award gewonnen, haben einen Beitrag der Stadt Luzern erhalten.« Positiv bewertet er die Türöffnerfunktion von Crowdfunding, die die Vorteile und Vorurteile der Privilegierten umgehen kann: »Wenn du aus einer marginalisierten Community bist, die zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, oder nicht produziert wird, keine Musikindustrie will dich aufnehmen, und auf Kickstarter erreichst du vielleicht plötzlich eine große Audience, die vielleicht auch diese Leute nicht sehen kommen haben, weil sie irgendwelche blind spots haben, ich meine das ist ein Riesenargument dafür, oder?«45
Sozialstrukturell betrachtet ist den drei Gründer:innen zunächst einmal gemeinsam, dass sie nicht aus dem städtischen Bürgertum kommen, das Zürich traditionell dominiert. Sie stammen aus ländlichen Regionen (Ostschweiz, Zentralschweiz, Berner Oberland), zogen von dort nach Zürich und reüssierten im wachsenden Feld der Kunst- und Kulturproduktion, absolvierten in diesem Sinn also einen gewissen sozialen Aufstieg. Sie agieren durch Netzwerke, die in der alternativen Szene entstanden, und handeln gleichzeitig zunehmend unternehmerisch. Sie sind Teil jener Schicht, die Pierre Bourdieu bereits 1979 als »neues Kleinbürgertum« titulierte und die später als »Creative Class« auch diskursiv Karriere machte.46 Die vielen Anglizismen, die sich in den Interviewpassagen finden, können sowohl als typisch für eine internationale Management- und Startup-Welt gelesen werden wie auch – mindestens ebenso wichtig – als typischer Sprachgebrauch einer (links-)alternativen Szene, die sich immer schon an Englischsprachigem orientierte und in der man sich selbst in fortgeschrittenem Alter noch die aktuelle, anglizismenaffine Jugendsprache aneignet.
Kulturanalytisch betrachtet fällt auf, dass alle drei innerhalb der kulturellen und unternehmerischen Felder, in denen sie sich beruflich bewegen, so etwas wie einen etablierten Außenseiterstatus innehaben, diesen auch betonen und ihn als in gewisser Weise avantgardistisch kennzeichnen: Für Surber beginnt dies bei der Ethnologie, die lange Zeit eine Art Außenseiterfach innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften war, und in der alternativen Szene; es setzt sich in seiner selbstständigen Tätigkeit für eine Bildagentur und ein großes Medienhaus fort. Bei Brügger ist es zunächst die eigene nichtakademische Bildungsbiographie, mit der sie im Literaturfeld zwar keine Außenseiterin in einem dramatischen Sinn wäre, aber doch potentiell stärker um Anerkennung zu kämpfen hat als Akteur:innen mit bildungsbürgerlicher Familiengeschichte und mehr ererbtem und »objektiviertem« (Bourdieu) kulturellem Kapital. Zugleich hat die Popliteratur, die Brügger propagiert, innerhalb dieses Literaturfeldes anfangs selbst einen eher marginalen Status, den die Veranstalterin auch kommerziell zu nutzen weiß – und gewinnt dann in diesem Feld allgemeiner an Bedeutung. Gmür wiederum betont seinen (bleibenden) oppositionellen Blick auf die Gesellschaft insgesamt; als Medienkünstler sitzt er im Kunstfeld (aber über die Disziplinen hinweg und somit auch zwischen den Stühlen) – was durchaus von Vorteil sein kann. Alle drei sind in etablierten Feldern des Kulturbetriebs tätig, sie engagieren sich jedoch in dessen Randbereichen, und zwar in solchen, die im frühen 21. Jahrhundert zentraler wurden.
Die Unternehmensgründung hatte dabei auch einen einfachen ökonomischen Hintergrund, der strukturell mit künstlerisch-bohèmehaft geprägten Biographien zusammenhängt, in denen oft keine soziale Absicherung für das Alter angespart werden kann. In diesem Sinn erzählt Surber im Interview, recht spät im Gesprächsverlauf: »Ich hatte zwar Freude am Ganzen, und ich fand das wahnsinnig spannend, da eine Firma aufzubauen, aber es hatte auch handfeste Gründe, weil ich […] fast das ganze Leben nicht angestellt gearbeitet [habe]. Meine Pensionskasse ist praktisch inexistent, und ich wollte einfach nicht arm alt werden. Ganz einfach. Und ich habe nicht irgendwie Geld von Haus aus oder so, also habe ich mir überlegt, was mache ich, damit das nicht passiert, und dann muss ich halt was gründen.«47 Damit spielt Surber auf den Verkauf von wemakeit-Anteilen der Gründer:innen über »Aktionariat« an, der es ihm ermöglichte, seine Arbeit für die Plattform zu monetarisieren und so seine Altersvorsorge zu sanieren.
Dieser kursorische Blick auf einige biographische Aspekte der drei Gründer:innen macht beispielhaft deutlich, wie sehr die Geschichte der digitalen Ökonomie und einer sich wandelnden Kulturförderpolitik mit lokalen Konstellationen verknüpft sein kann: nicht nur mit der »kalifornischen Ideologie« und Venture Capitalists, nicht nur mit Eliteuniversitäten und kreativen »Clustern«, sondern auch mit individuellen (Aufstiegs-)Biographien im Zeitalter der Bildungsexpansion, des technologischen Wandels, der politischen Gegenkulturen und Musikszenen (in denen eine Reihe von Praktiken der mehr oder weniger solidarischen Ökonomie und des »Supports« präsent waren und sind), mit der 1980-Bewegung, mit Stiftungen, mit dem ethnologischen Blick auf die eigene Gesellschaft, mit der Popliteratur, mit kritischer Medienkunst und mit der unternehmerischen Seite (ehemals) alternativer Milieus der 1980er-Jahre, die nicht nur in Zürich im Laufe der 1990er- und 2000er-Jahre zu einer etablierten Fraktion der urbanen Gesellschaft avancierten. Inwiefern dies nun als Erfolgs- oder als Niedergangsgeschichte zu erzählen ist, als Geschichte eines Beitrags zur Demokratisierung von Kultur und Wirtschaft oder als eine Geschichte der Anpassung an eine primär unternehmerische Handlungslogik und eine Ausweitung derselben, bleibt eine Frage der Perspektive; die Einschätzungen der Befragten selbst divergieren an diesem Punkt.
3. Crowdfunding: Konstitutive Grenzziehungen
Die Crowdfunding-Plattform wemakeit ging am 5. Februar 2012 »live«48 – kurz vor dem Konkurrenten 100-days.net. Wer die Seite besuchte, konnte zwischen 20 Projekten aus verschiedenen Sparten der Kunst- und Kulturproduktion wählen, die um finanzielle Unterstützung warben und dafür je nach Projekt und Geldbetrag – im Sinne eines »reward-based crowdfunding« – ganz unterschiedliche Gegengaben versprachen: »signierte Bücher, Einladungen zu speziellen Veranstaltungen, limitierte Fotoprints, ein Date mit einem Schauspieler, ein persönliches Skype-Konzert, ein noch nicht verfilmtes Drehbuch oder ein Geburtstags-Mixtape«.49 Wenn der Zielbetrag innerhalb der Frist, die je nach Projekt zwischen 30 und 90 Tagen umfasste, erreicht war, wurde er ausgezahlt; wenn nicht, wurde das Geld zurücküberwiesen. Im Erfolgsfall fiel eine Gebühr von insgesamt 10 Prozent an: 6 Prozent der gespendeten Summe verbuchte wemakeit als Kommission, 4 Prozent als Transaktionsgebühr, die an Zahlungsdienstleister weitergegeben wurde.50 Dieses Prinzip gilt bis heute.
Wie gezeigt, haben Wissenschaftler:innen betont, dass die emergente, infrastrukturgestützte soziokulturelle Praxis »Crowdfunden« eng mit älteren Formen des Unterstützens verwandt ist, zugleich aber auch neue soziale Rollen, Subjektpositionen, Verhaltensskripte und -erwartungen in Gang setzt. Dabei waren die Beteiligten selbst – auch die Betreiber:innen der Plattform – in verschiedenen Kontexten dazu angehalten, diese Praxis nicht einfach nur anzubieten bzw. auszuführen, sondern sie zu definieren und von anderen Praktiken zu unterscheiden.51 Klassifikations- und Grenzziehungsarbeiten waren für die Institutionalisierung von Crowdfunding als soziokulturellem Phänomen also konstitutiv, weshalb sie im Folgenden – am Beispiel von wemakeit – dicht beschreibend vorgestellt werden sollen. Dabei wird es um semantische, juristische, kulturelle und politische Grenzziehungen gehen. Sind die Zuwendungen gemeinnützig? Handelt es sich beim »Unterstützen« um politische Akte? Nach welchen Kriterien? Und wenn Crowdfunding-Firmen bis zum Ablauf der Kampagnenfrist das eingezahlte Geld verwahren, sind sie dann rechtlich als Banken einzustufen?
3.1. Semantische Grenzziehungen. Beginnen wir mit der Benennung – der Name der soziokulturellen Praxis spielt für ihr Verständnis offensichtlich eine zentrale Rolle. Auf der wemakeit-Website klicken Nutzer:innen auf »Unterstützen!«, um eine Zahlung an ein Projekt einzuleiten. Die Leitvokabel, mit der Crowdfunding-Plattformen die von ihnen ermöglichte Tätigkeit semantisch rahmen, lautete von Beginn an »Support« oder »Unterstützung«.52 Nun ist »Unterstützen« ein diffuser Begriff, der monetäre Zahlungen einschließt, aber eben nicht explizit benennt, und auch die Frage der Reziprozität, der Gegengabe im Mauss’schen Sinne, offenlässt. Diese Vagheit und die Ent-Nennung des Monetären sind im Fall des Crowdfundings nützlich, weil die Einordnung der Praxis in das tradierte kulturelle Klassifikationsschema und Vokabular auch Fragen aufwerfen kann, die durch den Begriff »Unterstützung« eher in den Hintergrund rücken.
Zunächst hatte das Crowdfunding-Angebot bei potentiellen Projekt-Initiator:innen aus dem Kunst- und Kulturbereich in der Schweiz, wie die drei Gründer:innen berichten, ein gewisses Unbehagen ausgelöst. Dies sei nicht zuletzt auf den nationalen Kontext zurückzuführen: auf Eigenheiten der Schweiz mit ihrem vielbeschworenen, speziellen Verhältnis zum Geld (haben, aber nicht darüber reden). So führt Stephan Gmür rückschauend aus: »[…] wir haben nie offen darüber gesprochen, aber es ist schon so, in der Schweiz musst du ziemlich mit der Berührungsangst kämpfen, die die Leute haben, mit halt diesem ›Betteln‹. Um Geld bitten, das ist nicht schweizerisch, oder? Also wir haben Mühe mit dieser Vorstellung.«53
Wie zentral schweizerische Besonderheiten hier nun tatsächlich gewesen sein mögen: Gmürs Formulierung impliziert, dass im Crowdfunding eine ältere soziokulturelle Praktik (»um Geld bitten«; pejorativ als »betteln« tituliert) in neuer technischer Form fortlebt. Gerade die im kulturellen Gedächtnis gespeicherten Formen, Bezeichnungen und Bedeutungen erscheinen dann als problematisch: Betteln ist mit Armut und symbolischer Unterwerfung assoziiert, in christlich-karitativen Kontexten mit Verpflichtung (aber auch mit Schadensabwehr, mit dem Heiligen und mit der Aufwertung der Gebenden).54 Dinah Brügger erzählt dieselbe Problematik mit anderen Akzenten: »Es war ja schon auch eine Angst da in der Kultur, dass es ein Betteln sein könnte« – und niemand habe betteln wollen. Ihre eigene praktische Arbeit habe nicht zuletzt darin bestanden, »mit vielen Gesprächen und vielen Podiumsdiskussionen, Präsentationen, diese Angst wegzunehmen, dass es eben nicht ein Betteln ist, sondern ein Partizipieren an Kultur«.55
Die Popularisierung des Crowdfundings erforderte seitens der Plattformen also auch eine neue semantische Rahmung, welche die Abgrenzung zwischen den Praktiken des Um-Geld-Bittens via Crowdfunding einerseits und dem Betteln andererseits möglich machte, sodass sich – idealerweise – niemand als Bettler:in empfinden musste, sondern sich als Person sehen konnte, die die Partizipation der »Community« ermöglicht. Konkret wird die Differenz zum Betteln jedoch nicht nur durch die Benennung, sondern insbesondere auch durch die »Belohnungen«, die ein höheres Maß von Reziprozität symbolisieren.
3.2. Juristische Grenzziehungen. Eine nicht unbedingt offensichtliche, aber wichtige Grenzziehung, mit der das Crowdfunding im laufenden Prozess definiert wurde, ist die rechtliche: zwischen Crowdfunding-Anbietern und Banken. Beide haben immerhin gemeinsam, dass sie Gelder anderer Leute sammeln, aufbewahren und weiterleiten. Wer bei wemakeit zu einem Crowdfunding beiträgt, transferiert Geld auf das Konto des wemakeit-Vereins (nicht der GmbH bzw. inzwischen AG, die die Plattform betreibt), wo es – im Fall des Erfolgs einer Kampagne – bis zum Auszahlungstag aufbewahrt wird.56 Falls die Kampagne ihren Zielbetrag nicht erreicht, wird das Geld wie erwähnt zurücktransferiert.
Crowdfunding-Plattformen betraten damit eine juristische Grauzone. Sollten die Vorgaben des Bankengesetzes Anwendung finden, also auch die Regulierungen und Bewilligungsverfahren betreffend Geldwäsche und Anti-Terrorismus?57 Um diese Fragen zu diskutieren, hatten Bundesrat Ueli Maurer (SVP) und Jörg Gasser, damals als Präsident des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) für die Regulierung von FinTech und Blockchain zuständig, unter anderem die wemakeit-Verantwortlichen in ihrem Zürcher Büro besucht.
Michael Surber betont beim Erzählen nicht zuletzt den kulturell-habituellen Kontrast zum Finanzminister Maurer und seinem Staatssekretär, wenn er darauf hinweist, dass Gasser und Maurer in der schmuddelig-alternativen Gegend einen wenig vorzeigbaren Gebäudeeingang nehmen mussten: »Wo immer die Junkies sind. Da mussten wir schauen, dass das da sauber ging.«58 Nicht nur, so scheint er damit zu sagen, ist wemakeit offensichtlich keine Bank. Das Unternehmen verortet sich im alten (inzwischen gentrifizierten) Arbeiter:innenquartier, wo auch die Zürcher Bohème zuhause ist, nicht am Paradeplatz; es markiert damit eine Unterscheidung zur Welt der Banken und zur rechtsliberalen Bundespolitik. Und trotzdem – ein gewisser Stolz ist erkennbar – wird wemakeit von diesen Akteuren ernstgenommen.
In der Besprechung mit Maurer und Gasser ließen sich die Vorbehalte zur Geldwäscheproblematik ausräumen, erzählt Surber, sodass der Bundesrat schließlich eine Crowdfunding-freundliche Verordnung verabschiedete und damit Crowdfunding von Banken abgrenzte. Am 1. August 2017 veröffentlichte die Eidgenössische Finanzaufsicht FINMA ein »Faktenblatt zu Crowdfunding«, in welchem festgehalten wurde, dass das schweizerische Aufsichtsrecht keine spezifischen Bestimmungen zum Crowdfunding kenne und daher die geltenden Bestimmungen in den Finanzmarktgesetzen anwendbar seien.59 Es wurde jedoch hervorgehoben, dass für die Betreiber von Crowdfunding-Plattformen bis zu einer Frist von 60 Tagen zur Weiterleitung oder Zurückzahlung des Geldes keine Bewilligung nach dem Bankengesetz notwendig sei, falls nicht mehr als eine Million Franken zur Weiterleitung entgegengenommen und kein Zinsdifferenzgeschäft betrieben wird. Explizit wurde an dieser Stelle nun der Spendencharakter hervorgehoben – und zugleich die Vieldeutigkeit dessen, was mit Crowdfunding gemeint ist: »So können die Beiträge beispielsweise als Spenden ausgestaltet sein, oder es wird für den Betrag eine Gegenleistung erbracht (z.B. Lieferung eines Produkts).« Das Kriterium der »Nichtgewerbsmäßigkeit« spielte aber die entscheidende Rolle. Crowdfunding-Plattformen wurden durch diesen Klassifikationsakt nicht dem Regulationsbereich für Banken unterstellt. Steuerlich absetzbar sind die Unterstützungen dennoch nicht. Hierfür müssen die Unterstützer:innen die (steuerbefreiten) Projekt-Initiator:innen direkt kontaktieren.
3.3. Sektorale Grenzziehungen. Für die Firmenstrategie von wemakeit zentral war in den Anfangsjahren der Fokus auf Crowdfunding »für die Kultur«, für Projekte mit »kulturelle[m] Anspruch« (Surber). In dieser Hinsicht ging man bewusst einen anderen Weg als beispielsweise die Konkurrenz von 100-days.net (später Crowdify), die ihre Tätigkeit nicht auf das Kulturfeld beschränkte und auch nicht in vergleichbarem Maße mit Stiftungen und Kulturpolitik verflochten war. »Wemakeit hat sich dann auch wirklich in diesem Kulturkuchen positioniert«, sagt ein Vertreter der anderen Firma. »Wir [d.h. Crowdify] haben gesagt, wir sind für alles, wir sind auch für das Unternehmertum.«60 Diese Grenzziehungen waren und sind ebenfalls folgenreich. Mit der Beschränkung auf den Kulturbetrieb waren für wemakeit anfangs symbolische und materielle Vorteile verbunden, vor allem die Förderung durch Stiftungen. Wemakeit nahm auch nicht alle Projekte auf, die von Initiator:innen vorgeschlagen wurden, sondern traf eine Auswahl. Durch diese kuratorische Verknappung des Angebots entstand die Aura einer gewissen Exklusivität.
Die Eigenheiten und Selbstverständnisse des Kunst- und Kulturfeldes waren für die Einführung der Crowdfunding-Praxis durch wemakeit von großer Bedeutung. Anhand dieser Debatten lassen sich auch Aspekte der vom Crowdfunding angestoßenen kulturellen Veränderungen aufzeigen. Der zentrale Punkt ist dabei der bereits von Max Weber unter dem Begriff »Marktvergesellschaftung« angesprochene Effekt der Entstehung neuer sozialer Beziehungen durch Markttransaktionen61 beziehungsweise der »geldmäßigen Beziehungen«, wie sie Georg Simmel in seiner »Philosophie des Geldes« diskutiert hat.62
Michael Surber erwähnt in diesem Sinn eine grundlegende Kritik, die wemakeit in den ersten Jahren entgegenschlug: Das Unternehmen treibe eine »Ökonomisierung von Beziehungen innerhalb der Kultur« voran. Aus seiner Sicht habe diese Kritik an Crowdfunding von einer Tabuisierung des Ökonomischen in der Kulturszene hergerührt, von einem Antikommerzialismus, den Surber auch aus der Musikszene kannte: »Für viele Leute kontaminiert Geld Kultur.«63 Dazu gehöre auch, dass nur solches Geld »sauberes Geld« sei, das der Staat über Steuern erhebt; nicht aber zum Beispiel das Geld von Sponsoren. Aus Surbers Perspektive ist das eine Reinheitsideologie: »Das ist etwas, da habe ich wirklich kein Pardon gekannt, weil ich finde, es ist sehr oft verlogen.« Das Argument, dass Künstler:innen sich mit der Tabuisierung materieller Zwänge und Interessen symbolisch überhöhen, aber damit – in vielen Fällen – sich finanziell selbst schaden oder ihr eigenes Erfolgsstreben verleugnen, hat die kritische Kunstsoziologie ebenfalls immer wieder vorgebracht.64
Surber stellt in diesem Zusammenhang auch die Logik der informellen Szenen-Netzwerke und ihren Wandel heraus, die den Kulturbereich prägen: »Es gibt Beziehungen, […] die sind organisch gewachsene Netzwerke von Leuten, die einander zugetan sind. Und es gibt Beziehungen, die dann je nachdem eben ökonomisch incentiviert sind. Oder es gibt auch eine Sperre, du bist nur dabei, wenn du das und das machst.«65 Crowdfunding ließ nicht nur die ökonomische Ebene sichtbarer werden, es brachte auch solche Unterscheidungen von Beziehungsformen in Bewegung – und die darauf basierenden Zugangskontrollen zu knappen Gütern. Wo Künstler:innen vorher vielleicht Gästelistenplätze an ihnen nahestehende Szene-Angehörige vergeben hatten, bitten sie Letztere nun auf Facebook um Zahlungen. Und: Sie fragen nicht nur die Angehörigen eines engen Kreises,66 sondern vielmehr alle, die den Crowdfunding-Aufruf sehen, alle, die auf welche Weise auch immer zum Beispiel durch Teilen auf Facebook erreicht werden – »schwache« und nur »latente« Verbindungen im Sinne der Netzwerktheorie.67 Zahlungen, nicht (allein) der Status in informellen Netzwerken, schaffen dann Zugänge – so zumindest der Eindruck, der entstehen konnte. Auch hier ist allerdings vor Verallgemeinerungen zu warnen: Tatsächlich stammen in den meisten Crowdfundings die Mittel überwiegend aus dem engeren, auch analogen sozialen Netzwerk (»friendfunding«).68
Das Crowdfunding stellt also nicht nur ein (ohnehin falsches) Bild von Künstler:innen, die jede ökonomische Logik ablehnen, infrage, sondern möglicherweise auch die Handlungslogik einer sozialen (Gegen-)Welt, einer – idealisiert gesprochen – gelebten Alternative zur Sphäre des Marktes, in der andere Währungen als monetäre zu dominieren schienen (etwa Zugehörigkeit, Coolness, Ethik). »Das war so das Unbehagen, das die Leute hatten. Ich glaube, das hat schon damit zu tun, dass diese informellen Netzwerke, dass da plötzlich Geld zirkuliert ist. [...] Und das, ja, die Ökonomisierung von persönlichen Beziehungen, von Tätigkeiten, das ist nicht unproblematisch, das sehe ich schon auch.«69 In diesem Sinn kann der Wandel von den Beteiligten als Entzauberung einer vormals geschützten Sphäre gedeutet und erfahren werden und damit als Teil einer problematischen gesellschaftlichen Entwicklung, einer fortschreitenden Vermarktlichung – auch wenn dies nicht bedeutet, dass die Beziehungen auf einmal nur noch ökonomisch wären.
Hier deutet sich an, dass das Crowdfunding im Kulturbereich sowohl neue Ressourcen schuf als auch »Unbehagen« erzeugte und Veränderungen anstieß. So oder so erwies sich dieser Sektor bald als zu klein für das Geschäftsmodell von wemakeit: In den Folgejahren erweiterte die Firma das Geschäft über den anfänglichen Bereich hinaus. Nach und nach wurden andere Geschäftsfelder eröffnet: Kampagnen für Kleinunternehmen, meist mit ethischem Anspruch (z.B. »Unverpackt«-Läden, ökologische Schokoladenanbieter, Mikro-Brauereien), Sportvereine, auch soziale Anliegen, zum Beispiel Kampagnen von NGOs, Nachbarschaftsgruppen und unterstützungsbedürftigen Individuen. Wemakeit avancierte zum führenden Schweizer Crowdfunding-Anbieter.70 Das Unternehmen hob damit auch die Grenzziehung auf, die das Kulturelle als besonders wert- und sinnvollen Zweck definierte: »Jetzt, heute, 2024« sei man an einem Punkt, »wo wir eigentlich sagen, hey, wir wollen allen die Möglichkeit geben, ein Projekt zu starten, es zu probieren, außer es hat irgendwie diffamierende Inhalte oder es verstößt gegen unsere Richtlinien, aber sonst sind wir mittlerweile sehr breit.«71
3.4. Politische Grenzziehungen. Auch diese Richtlinien enthalten Grenzziehungen – politische Grenzziehungen, die teils mit rechtlichen und sektoralen verknüpft sind. In den wemakeit-Richtlinien heißt es, man behalte sich vor, Projekte abzulehnen, »welche nicht den Vorgaben und unseren Werten entsprechen oder ungeeignet sind«. Zudem »dürfen keine diffamierenden, anstössigen und rechtswidrigen Informationen verbreitet werden. Insbesondere betrifft dies pornographische, rassistische, volksverhetzende, gewaltverherrlichende oder vergleichbare Inhalte.«72 Wemakeit präsentierte sich von Anfang an als politisch progressiv. Giorgio Miller, der bei dem Unternehmen unter anderem für eine neue Crowdinvesting-Plattform zuständig ist, fasst es so zusammen: »Wemakeit hat eine eigene Werthaltung. Und die ist definitiv mehr links- als rechtsorientiert.«73
Die Grenzziehungen um den politischen Markenkern zeichnen wir im Folgenden anhand von zwei kleinen causes célèbres der Unternehmensgeschichte nach – ein gewissermaßen positives und ein negatives Ereignis. Ein frühes Beispiel für ein politisches Crowdfunding, das zu wemakeit »passte«, war die Aktion des Studenten Donat Kaufmann, der im Herbst 2015 unter der Überschrift »Mir langets!« (Mir reicht es) knapp 150.000 Franken sammelte, um eine Anzeige auf der Titelseite der Gratis-Zeitung »20 Minuten« zu platzieren: »Aufmerksamkeit kann man kaufen. Unsere Stimmen nicht« war auf der ersten Seite zu lesen, sowie auf einer zweiten Seite die Namen aller Crowdfundenden. Die Aktion reagierte auf eine Titelseiten-Anzeige der rechtsnationalen SVP, die im September 2015 vor den nationalen Parlamentswahlen im selben Medium erschienen war und mit bunten Bildern für ihren Wahlsong »Welcome to SVP« geworben hatte.

(<https://wemakeit.com/projects/mir-langets/show/news?locale=de>;
siehe auch <https://www.youtube.com/watch?v=4SPcUJtzrlA>)
Der Crowdfunding-Aufruf, den Kaufmann auf wemakeit startete, enthält ein einfach produziertes Video. »Hallo zusammen, ich bin der Donat«, heißt es dort zu Beginn. Man sieht Kaufmanns mit einer roten Wollmütze bedeckten Kopf; der langhaarige junge Mann sitzt auf einem Sofa vor einer weißen Backsteinwand. »Und ich glaube, ein großer Teil von mir wäre jetzt lieber nicht vor dieser Kamera, aber ein noch größerer Teil von mir sagt sich gerade: Mir langets.« Inhaltlich richtete sich Kaufmanns Aufruf, wie das Video und der Begleittext erläuterten, gegen die intransparente Wahlkampffinanzierung, die den rechten Parteien zugutekomme, und gegen einen »inhaltsleeren« Wahlkampf. Kaufmann wurde damit »über Nacht berühmt«, er hatte »das erfolgreichste Schweizer Crowdfunding-Projekt aller Zeiten« gestartet.74
Das Crowdfunding-Prinzip, dass selbst kleine Spenden einen Unterschied machen können, wenn nur eine große Anzahl davon zusammenkommt, war der Ausgangspunkt der Kampagne: Standard sollten hier fünf Franken sein; über 12.000 Personen beteiligten sich. Die Crowdfunding-Titelseite von »20 Minuten« schrieb sich drei Jahre nach der Gründung von wemakeit in die mediale Öffentlichkeit ein und damit auch in den nationalen Wahlkampf vom Herbst 2015. Dies geschah sowohl auf dem neuen Medium der Crowdfunding-Plattform als auch im traditionellen Medium der Printzeitung. Damit half diese Kampagne, das Crowdfunding-Prinzip selbst zu popularisieren. Die Episode machte zugleich die These einer Demokratisierung von Finanzierungsoptionen plausibler – schließlich hatte es hier ein »ganz normaler« Student ohne eigenes Geld verstanden, erheblichen politischen und medialen Wirbel zu erzeugen. (Dass daraus keine längerfristige Ressourcenverschiebung im Wahlkampf folgt, ist allerdings ebenso zutreffend.)
Es gibt aber auch das Gegenbeispiel einer politischen Kampagne, welche zwei Jahre später zu Diskussionen um politische Grenzziehungen mit massenmedialer Resonanz führte. Wemakeit ließ im Jahr 2017 ein Crowdfunding für die rechtsliberale »Volksinitiative No Billag« anfangs zu, nahm die Kampagne jedoch nach kurzer Zeit wieder von der Website. »No Billag« strebte die Abschaffung der Empfangsgebühr für Radio und Fernsehen an und hätte das Ende der öffentlich-rechtlichen Medien in der Schweiz bedeutet. Die Initiative wurde im März 2018 mit 71,6 Prozent abgelehnt. Die Initiative ging von den Jungfreisinnigen (FDP-Jungpartei) aus und wurde von der SVP sowie vom Schweizerischen Gewerbeverband unterstützt, nicht jedoch von den anderen Parteien. Hier zog wemakeit also eine politische Grenze, man »zensurierte aus politischen Gründen« (Surber) – wobei diese Gründe von den Beteiligten unterschiedlich erzählt werden: Zwei Personen aus dem wemakeit-Team stellen heraus, dass die Kampagne den Werten des Unternehmens widersprochen habe. In diesem Sinn war damals auch das öffentliche Statement formuliert: Die Initiative sei zu extrem für wemakeit; sie sei »staatspolitisch gefährlich«, und man wolle ihr »auf keinen Fall eine Plattform« bieten.75 Surber hingegen meint im Interview, dass seine Motivation vor allem ökonomisch begründet gewesen sei: »Ich habe einfach gesagt, wenn wir das zulassen, dann machen wir so viele von unseren Kunden hässig [= wütend], dass ich lieber den Shitstorm in Kauf nehme von der rechten Seite, weil die machen sowieso kein Crowdfunding.«76 Als private Firma, zu der es Alternativen gibt, könne man solche Entscheidungen treffen, solche Grenzziehungen vornehmen.
Surbers Aussage, die politische Rechte nutze ohnehin kein Crowdfunding, mag überraschen. Seine Begründung für diese These ist aufschlussreich: Das Solidaritätsprinzip sei auf der Linken eben wichtiger. »Auf der rechten Seite« seien Investitionen und Spenden akzeptiert, die einer profitorientierten oder karitativen Logik folgen, aber »wenn du etwas machen willst [eine Kampagne, ein Kunstprojekt…]: entweder du hast das Geld – sonst musst du es halt bleiben lassen«. In diesem Sinn deutet wemakeit-Gründer Surber das Crowdfunding als soziokulturelle Praxis, die sich vom liberalen Prinzip einer Ressourcenallokation durch den Markt unterscheide. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, wie sich Crowdfunding in größere sozioökonomische Transformationen der Kulturfinanzierung am Beginn des 21. Jahrhunderts einordnen lässt.
4. Mittels »Pitch« zur Clickgabe – neue kulturelle Kompetenzen
Die Entstehung von digitalen Infrastrukturen wie Crowdfunding-Plattformen wurde durch Erzählungen popularisiert, die um Konzepte wie Innovation, Revolution, Disruption oder Netzwerkbildung kreisen. Unser Beitrag zeigt: Durch eine Perspektivenverschiebung, die Infrastrukturen als soziokulturelle Praktiken lokal erfasst und dicht beschreibt, geraten spezifische Konstellationen und Biographien sowie politische, kulturelle und rechtliche Konflikte ins Blickfeld. Hinter der Clickgabe stecken aber auch Tätigkeiten wie Programmier- und Gestaltungsarbeit, Begriffsarbeit, politische Lobbyarbeit, rechtliche Aushandlungsprozesse, die Auseinandersetzung mit kulturell tradierten Einstellungen (wie die Abneigung gegen »Betteln«) und die Versuche ihrer Umpolung (etwa durch digital vermittelte Formate wie die Belohnungsangebote). Um zu verstehen, wie die Clickgabe technisch etabliert, juristisch legitimiert, sozial akzeptiert und ökonomisch validiert werden konnte, müssen die populären Technologie-Diskurse radikal kontextualisiert, historisiert und lokalisiert werden. Hinter einer Clickgabe stecken, wie unsere titelgebende Wortschöpfung andeutet, voraussetzungsreiche und mit ortsspezifischen Kontexten verwobene Verbindungen von Infrastruktur, Soziabilität und Ökonomie.
Dabei fällt der Aufstieg des Crowdfundings historisch tatsächlich mit einer stärkeren Vermarktlichung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche zusammen und ist auf unübersichtliche Weise mit ihr verschränkt. Die Ausführungen zum Wandel der kulturpolitischen Governance und zur Diskussion um die Ökonomisierung sozialer Beziehungen haben dies bereits angedeutet. Plattformen wie wemakeit, die sich in einem weiteren Sinne als alternativ, sozialunternehmerisch und progressiv positionieren, artikulieren in ihrer ganzen Selbstdarstellung zugleich ein Unbehagen etwa gegenüber rücksichtsloser ökonomischer Profitorientierung und Top-Down-Prozessen. Sie versprechen Demokratisierung, Gemeinschaftlichkeit und Solidarität, gewissermaßen abseits oder gar jenseits von Markt und Staat. Dabei ist das Verhältnis zu Markt und Staat indes kooperativ und nicht antagonistisch. Wenn Feindseligkeit zum Vorschein kommt, richtet sie sich eher gegen einen politischen Gegner. Mit den angeführten konstitutiven Grenzziehungen und solchen Einbettungen in Makroprozesse ist wemakeit nicht repräsentativ für das Feld der Crowdfunding-Firmen insgesamt, bringt aber einige Motive und Verstrickungen der Clickgabe als kultureller Praxis der Gegenwart besonders deutlich zum Vorschein.
Der politisch-ökonomische Kontext all dessen ist nicht immer derjenige einer radikalen Austeritätspolitik, wie dies in der kritischen Literatur gelegentlich den Anschein hat: So zentral die Spar- und Kürzungspolitik auch beispielsweise für die wachsende Bedeutung des individuellen Health Crowdfunding in Ländern wie den USA ist, so spielt Letzteres in der Schweiz aktuell keine große Rolle, selbst wenn der Bereich des Crowdfundings für soziale Themen wächst, was tatsächlich auf ungedeckten Bedarf verweist. Die kulturpolitische Förderung in der Schweiz wiederum wird von vielen Kulturschaffenden als unzureichend bzw. zu stark auf große Flaggschiffe ausgerichtet empfunden; allerdings ist hier eher Kontinuität zu beobachten als radikaler Abbau. Das Budget der Abteilung Kultur der Stadt Zürich beispielsweise blieb im letzten Jahrzehnt – mit gewissen Schwankungen – bei ungefähr 1,6 Prozent des städtischen Gesamtaufwandes.77 Crowdfunding hat die traditionelle Kulturfinanzierung nicht ersetzt – aber es war und ist doch Teil eines laufenden Wandels.
Dieser Wandel, so möchten wir abschließend argumentieren, spielt sich nicht zuletzt auf der Ebene konkreter Praktiken, »Subjektivierungstechniken« (Foucault) und sozialer Beziehungen ab. Der Aufstieg des Crowdfundings ist in den Aufstieg der sogenannten Social Media eingebettet: Facebook, Twitter/X, Instagram etc. erleichtern das Bewerben von Kampagnen, auch wenn de facto nur selten tatsächlich der Sprung aus den eigenen engeren Netzwerken heraus stattfindet. Dennoch gehört das Versprechen, dass das geschehen kann (wie bei Donat Kaufmanns »20-Minuten«-Kampagne), zum Crowdfunding dazu. Zugleich – und dies ist fast schon ein Klischee – haben Social Media altersübergreifend, aber vor allem unter jüngeren Menschen, ganz generell spezifische Formen des Von-sich-selbst-Berichtens, der Selbstdarstellung und des Darüber-Kommunizierens etabliert. Wer ein Crowdfunding sucht, muss sich zu den eigenen inhaltlichen und ökonomischen Zielen bekennen und sich damit auch stärker als ein »unternehmerisches Selbst« präsentieren, als viele Kulturschaffende es zuvor gewohnt waren.78
Mit diesen Geschichten von Medien und Subjektivierungstechniken ist das Crowdfunding eng verflochten, und es hat sie in gewisser Weise vorangetrieben, wie die Erzählungen der wemakeit-Gründer:innen und ihrer Nachfolger:innen über die Lerneffekte der ersten Zeit beim Crowdfunding – vor allem unter Kulturproduzent:innen – zeigen. Sie beschreiben diese Zeit als gemeinsamen Lern- und Normalisierungsprozess, in dem neue Kompetenzen angeeignet wurden: Alle Beteiligten mussten eine neue Handlungslogik einüben, ungewohnte Formen der Selbstdarstellung ausprobieren und eine neue Ansprache von Menschen aus ihrem Umfeld praktizieren.
Grundlegend war die Aufgabe, ein Projekt bereits in einem frühen, halbfertigen Stadium seiner Entwicklung der Öffentlichkeit schmackhaft zu machen, wie Dinah Brügger betont: »Das war auch ein Learning für die Kultur. Es war ein Pitch, das kannte man auch noch nicht wirklich.«79 Damit ist die Veralltäglichung der Praxis des »Pitchens« gemeint, das in dieser Zeit durch Venture-Capital-Investoren popularisiert wurde. Vorher war es unter anderem im Filmgeschäft etabliert. Etwas allgemeiner gefasst, besteht die zu lernende Lektion in der Hinwendung zum Publikum und der Orientierung an dem, was dieses tatsächlich anspricht – und darin, sich selbst als Subjekt zu präsentieren, das sich daran orientiert. Dazu kann man nun früher Rückmeldungen bekommen und gewissermaßen interaktiver agieren.80 Zugleich ist damit – vor dem Hintergrund der Affordanzen von Social Media – auch ein Übergang beschrieben: von einer eher bürokratischen Handlungslogik, die auf Textmedien (Gesuche/Anträge/Formulare) basiert, hin zur audiovisuell inszenierten Performance von Charisma und Authentizität (Pitch-Videos). Darauf weist Brügger ausdrücklich hin: »Man war sehr gut darin, Gesuche zu schreiben, aber selber vor der Kamera zu stehen und für sein Projekt Werbung zu machen, in einer sehr authentischen, ehrlichen Art und Weise, das war auch sehr neu. Der Schweizer ist auch ein bisschen kamerascheu. Das brauchte etwas Überwindung für viele.« Brügger spricht von einem »Umdreh«: »[…] jetzt das umzudrehen und zu sagen, hey, wenn du das toll findest, was ich mache, dann sei Teil davon und unterstütze, aber du kriegst ja auch was Tolles dafür. Dieser Umdreh war für uns alle neu. Und wir hatten keine Ahnung, wie der ankommt.«81
In solchen Praktiken verschränken sich die Geschichte der Kulturfinanzierung durch Crowdfunding sowie eine breitere kultur-, medien-, wissens- und wirtschaftsgeschichtliche Perspektive wohl am stärksten. Crowdfunding dient zu unterschiedlichen Zwecken, nimmt verschiedene Formen an, ähnelt mal mehr der Spende, mal der Subskription, mal einer Investition, mal einem schlichten Kauf. Der damit verbundene soziokulturelle Wandel besteht nicht zuletzt in einer »molekularen« Veränderung von Verhaltensweisen.
Bei all dem sollte aber auch die materielle Seite nicht in Vergessenheit geraten: Das Crowdsupporting bzw. Crowddonating wuchs dem Schweizer Crowdfunding-Monitor zufolge bis 2017 schnell an (auf ca. 29 Mio. CHF im Jahr), verblieb dann auf dem Niveau von ca. 25 Mio., stieg 2020 in der Pandemie auf knapp 45 Mio., um 2022 wieder auf ca. 29 Mio. zu sinken. Auf diesem Wert pendelte es sich auch 2023 ein.82 Anders gesagt: Inzwischen ist die Clickgabe eine weitgehend normalisierte, veralltäglichte soziokulturelle Praxis, die indes eher Lücken füllt und komplementär wirkt, ohne herkömmliche Finanzierungswege zu ersetzen.
Anmerkungen:
2 Die Jahreszahlen stammen von den Websites der Firmen.
3 Vgl. zum Community-Begriff in solchen Zusammenhängen z.B. Silke van Dyk/Tine Haubner, Community-Kapitalismus, Hamburg 2021.
4 Die Empirische Kulturwissenschaft bzw. Europäische Ethnologie – die ehemalige Volkskunde – ist gewissermaßen die Schwesterdisziplin der Ethnologie/Sozialanthropologie – der ehemaligen Völkerkunde.
5 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Vorwort von Edward E. Evans-Pritchard, Frankfurt a.M. 1968 (frz. Erstveröffentlichung 1925).
6 Vgl. z.B. Kévin André u.a., Beyond the Opposition Between Altruism and Self-interest. Reciprocal Giving in Reward-Based Crowdfunding, in: Journal of Business Ethics 146 (2017), S. 313-332; Michael Hutter/Birger P. Priddat, Einleitung, in: dies. (Hg.), Geben, Nehmen, Teilen. Gabenwirtschaft im Horizont der Digitalisierung, Frankfurt a.M. 2023, S. 9-12.
7 Moritz Ege/Simon Zeitler, »Support« – Eine Schlüsselvokabel zwischen Szene-Ethos, Crowdfunding und popkulturnaher Ökonomie, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 118 (2015), S. 203-233.
8 Monika Dommann/Hannes Rickli/Max Stadler (Hg.), Data Centers. Edges of a Wired Nation, Zürich 2020.
9 Monika Dommann, Markttabu, in: Christof Dejung/Monika Dommann/Daniel Speich Chassé (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014, S. 183-205.
10 Die Interviews wurden von Monika Dommann, Moritz Ege und Linda Mülli geführt. Ege und Mülli sind im Schweizer Teilprojekt eines europäischen Forschungsverbundes tätig, der den Titel »Redistributive Imaginaries. Digitalization, Culture and Prosocial Contribution« trägt und u.a. vom SNSF im Rahmen der Förderlinie CHANSE finanziert wird (2022–2025): <https://redigim.arts.ac.uk/>. Wertvolle inhaltliche Diskussionen u.a. mit Lara Gruhn, Kathrin Ottovay, Julia Weisz, Rebecca Bramall und Mercè Oliva haben die Entstehung des Beitrags begleitet. Für Unterstützung bei Transkription und Literaturrecherche danken wir darüber hinaus Noëmi Barz und Simon Eugster.
12 Jeff Howe, The Rise of Crowdsourcing, in: Wired, Juni 2006, S. 176-183. Vgl. auch dieses Interview mit Michael Sullivan aus dem Jahr 2015: <https://www.crowdfunding.de/magazin/crowdfunding-wortschoepfer-michael-sullivan-im-interview/>.
13 In der Literatur über Crowdfunding wird meist zwischen Crowdsupporting (mit festgelegtem »reward«) und Crowddonating (ohne klaren »reward«) unterschieden, wobei diese Typologie durch Crowdinvesting und Crowdlending ergänzt wird. Vgl. Andreas Dietrich/Simon Amrein, Crowdfunding Monitoring Schweiz 2014, Hochschule Luzern 2014, S. 5; dies., Crowdfunding Monitor Schweiz 2024, Hochschule Luzern 2024, S. 3.
14 Ying Zhao/Phil Harris/Wing Lam, Crowdfunding Industry – History, Development, Policies, and Potential Issues, in: Journal of Public Affairs 19 (2019) H. 1, e1921. Vgl. auch <https://www.crowdfunding.de/projekte/freiheitsstatue-new-york/>.
15 Vgl. z.B. Thomas H. Allison u.a., Crowdfunding in a Prosocial Microlending Environment. Examining the Role of Intrinsic versus Extrinsic Cues, in: Entrepreneurship Theory and Practice 39 (2015), S. 53-73.
16 Joachim Hemer, A Snapshot on Crowdfunding, Working Papers Firms and Region No. R2/2011, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe 2011, S. 8.
17 Ebd., S. 25.
18 Vgl. z.B. Alexandra Harzer, Erfolgsfaktoren im Crowdfunding, Ilmenau 2013; Paul Belleflamme/Thomas Lambert/Armin Schwienbacher, Crowdfunding: Tapping the Right Crowd, in: Journal of Business Venturing 29 (2014), S. 585-609.
19 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen. Übersetzt von Rudolf Eisler, Leipzig 1908 (frz. Erstausg. 1895).
20 Kristof De Buysere u.a., A Framework for European Crowdfunding, 2012, S. 6.
21 Ebd., S. 5.
22 Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, London 1943, S. 83.
23 Vgl. z.B. Allison u.a., Crowdfunding in a Prosocial Microlending Environment (Anm. 15).
24 Zu Berlin vgl. Paul Langley u.a., Crowdfunding Cities. Social Entrepreneurship, Speculation and Solidarity in Berlin, in: Geoforum 115 (2020), S. 11-20.
25 Vgl. z.B. David S. Bieri, Crowdfunding the City: the End of ›Cataclysmic Money‹?, in: Environment and Planning A: Economy and Space 47 (2015), S. 2429-2435.
26 Amanda J. Porter/Marcel Veenswijk, Narrative »End States« and the Dynamics of Participation in Civic Crowdfunding, in: International Journal of Communication 12 (2018), S. 2367-2386. Kritisch zum Solutionismus vgl. Evgeny Morozov, To Save Everything, Click Here. The Folly of Technological Solutionism, New York 2013.
27 Z.B. Carolina Dalla Chiesa/Erwin Dekker, Crowdfunding Artists. Beyond Match-making on Platforms, in: Socio-Economic Review 19 (2021), S. 1265-1290.
28 Vgl. z.B. Simon Amrein/Andreas Dietrich, Crowdfunding und Fundraising, in: Michael Urselmann (Hg.), Handbuch Fundraising, Wiesbaden 2024, S. 853-867; Tizian Troxler, Crowdfunding in Switzerland, in: Caroline Kleiner (Hg.), Legal Aspects of Crowdfunding, Cham 2021, S. 421-449; dazu kommen Studien, die gewissermaßen in der Schweiz spielen: Valerie Hase u.a., Engaging the Public or Asking Your Friends? Analysing Science-related Crowdfunding Using Behavioural and Survey Data, in: Public Understanding of Science 31 (2022), S. 993-1011.
29 Vgl. die Website: <https://hub.hslu.ch/retailbanking/download/crowdfunding-monitor-schweiz/>.
30 Michael Beier/Kerstin Wagner, Das Verhalten von Nutzern in Crowdfunding-Kampagnen – Herding und Social Proof, in: Social Science Research Network, 2.9.2015; Hase u.a., Engaging the Public or Asking Your Friends? (Anm. 28).
31 Dieter Pfister, Sozialmarkt Schweiz zwischen Unter- und Überversorgung. Befunde, Ursachen, Reformen, Basel 1996. Vgl. auch Thomas A. Becker und Institut für gesellschaftsbezogenes Management, Zukunft der Hilfswerke zwischen Marktgesellschaft und Solidarität. Modernisierungsperspektiven intermediärer Institutionen, Presse-Information, Buchs 1996.
32 Frank Adloff/Steffen Mau (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt a.M. 2005; Frank Adloff, Politik der Gabe. Für ein anderes Zusammenleben, Hamburg 2018; Alain Caillé, Das Paradigma der Gabe. Eine sozialtheoretische Ausweitung. Übersetzt aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Bielefeld 2022; David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer, Stuttgart 2012; zur Reflexion dieser Konjunktur vgl. u.a. Timo Luks, Die Ökonomie der Anderen. Der Kapitalismus der Ethnologen – eine transnationale Wissensgeschichte seit 1880, Tübingen 2019, und die Beiträge in Hutter/Priddat, Geben, Nehmen, Teilen (Anm. 6).
33 Vgl. z.B. Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich, Stuttgart 2009.
35 Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago 2006; Richard Barbrook/Andy Cameron, The Californian Ideology, in: Science as Culture 6 (1996), S. 44-72; Andreas Hepp/Anne Schmitz/Nathan Schneider, Afterlives of the Californian Ideology. Tech Movements, Pioneer Communities, and Imaginaries of Digital Futures – Introduction, in: International Journal of Communication 17 (2023), S. 4142-4160.
36 Zumindest im Sinn der »Künstlerkritik« im Verständnis von Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann, Konstanz 2003.
37 Vgl. Theodore Roszak, The Making of a Counter Culture. Reflections on Technocratic Society and Its Youthful Opposition, New York 1969.
38 Vgl. z.B. Heinz Nigg (Hg.), Wir wollen alles, und zwar subito! Die achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen, Zürich 2001; Christian Schmid/Daniel Weiss, The New Metropolitan Mainstream, in: INURA/Raffaele Paloscia (Hg.), The Contested Metropolis. Six Cities at the Beginning of the 21st Century, Basel 2004, S. 252-260.
39 Interview mit Michael Surber (p), 23.3.2023; auch die folgenden Zitate.
40 Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.
41 Interview mit Dinah Brügger (p), 13.1.2025.
42 Ebd.
43 Interview mit Stephan Gmür (p), 13.5.2024.
44 Ebd.
45 Ebd.
46 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.M. 1982 (frz. Erstausg. 1979); Richard Florida, The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2002.
47 Interview mit Michael Surber (p), 23.3.2023.
49 Wemakeit-Medienmitteilung vom 23.1.2012.
50 Vgl. Dietrich/Amrein, Crowdfunding Monitoring Schweiz 2014 (Anm. 13), S. 12.
51 Vgl. zur Begriffsbestimmung soziokultureller Praktiken und zur Frage ihrer »Neuheit« in digitalen Kontexten u.a. Klaus Schönberger, Persistenz und Rekombination. Digitale Kommunikation und soziokultureller Wandel, in: Zeitschrift für Volkskunde 111 (2015), S. 201-213.
52 Zur kulturellen Semantik dieser Begriffe und ihrem Wandel vgl. Ege/Zeitler, »Support« (Anm. 7).
53 Interview mit Stephan Gmür (p), 13.5.2024.
54 Zu historischen und aktuellen Praktiken des Bettelns vgl. z.B. Beate Althammer (Hg.), Bettler in der europäischen Stadt. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform, Frankfurt a.M. 2007.
55 Interview mit Dinah Brügger (p), 13.1.2025.
57 Zur Regulierung von Crowdfunding generell vgl. Troxler, Crowdfunding in Switzerland (Anm. 28). Vgl. auch das Bundesgesetz über die Schweizerischen Banken und Sparkassen (Bankengesetz, BankG).
58 Interview mit Michael Surber (p), 23.3.2023.
59 FINMA Faktenblatt Crowdfunding, Stand: 1.7.2020.
60 Interview mit Urs Küster (p), CEO der Firma Crowdify, 1.3.2024.
61 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1922, Studienausg. der 5. rev. Ausg., Tübingen 1980, S. 382-385.
62 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900.
63 Interview mit Michael Surber (p), 23.3.2023.
64 Vgl. Angela McRobbie, Reflections on Precarious Work in the Cultural Sector, in: Bastian Lange u.a. (Hg.), Governance der Kreativwirtschaft. Diagnosen und Handlungsoptionen, Bielefeld 2009, S. 123-137; Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.M. 1999.
65 Interview mit Michael Surber (p), 23.3.2023.
66 Vgl. Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360-1380.
67 Vgl. Irma Borst/Christine Moser/Julie Ferguson, From Friendfunding to Crowdfunding. Relevance of Relationships, Social Media, and Platform Activities to Crowdfunding Performance, in: New Media and Society 20 (2018), S. 1396-1414.
68 Dies wurde in allen Interviews mit Vertreter:innen von Crowdfunding-Firmen geäußert (auf der Grundlage eigener Beobachtungen); der Sprung in weitere Netzwerke ist demnach möglich, kommt aber nicht häufig vor.
69 Interview mit Michael Surber (p), 23.3.2023.
70 So die Selbstdarstellung: <https://wemakeit.com/pages/best-crowdfunding-platforms-switzerland?locale=de>.
71 Interview mit Joëlle Strasser (p), Geschäftsführerin von wemakeit, 10.4.2024.
73 Interview mit Giorgio Miller (p), 10.4.2024.
74 Interview von Rafaela Roth mit Donat Kaufmann, 25.9.2015.
75 Zit. nach Sermîn Faki, Wemakeit stoppt Crowdfunding von No Billag, in: Blick.ch, 6.11.2017. Die Billag AG war von 1998 bis 2018 für die Erhebung der Rundfunkgebühren in der Schweiz zuständig.
76 Interview mit Michael Surber (p), 23.3.2023.
77 Präsidialdepartment der Stadt Zürich, Kulturleitbild 2024–2027. Ausgangslage, Strategie, Zahlen, Kulturförderung, Zürich 2023.
78 Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007.
79 Interview mit Dinah Brügger (p), 13.1.2025.
80 Crowdfunding-Skeptiker wie Evgeny Morozov kritisierten wiederum, dass damit die Erfolgschancen vor allem für Projekte stiegen, die sich relativ leicht erklären ließen, z.B. für thesenhafte Dokumentarfilme, die im Sinne eines speziellen Publikums angelegt sind: Morozov, To Save Everything (Anm. 26), S. 25-27.
81 Interview mit Dinah Brügger (p), 13.1.2025.
82 Dietrich/Amrein, Crowdfunding Monitor Schweiz 2024 (Anm. 13), S. 9. Zum Vergleich: Das Privatspendenvolumen in der Schweiz betrug 2023 rund 2,25 Mrd. CHF; siehe <https://zewo.ch/de/news-spendenstatistk-2023/>.