- Die Privatisierung durch die Hintertür und
die »Petite Bourgeoisie« der Altenpflege in England - Pflegeunternehmen und Privatisierung im
bundesdeutschen Sozialstaat bis Anfang der 1990er-Jahre - Vermarktlichung per Gesetz und Pflege als Wirtschaftsgut
- Fazit
»Little Oaks is a family run residential home owned by Monica & Andy Tillotson. Monica is a registered nurse with a strong vocation for caring and taking charge of the day to day needs of the residents. Andy’s background is in management and makes for an efficient running of the home. He is also a favourite in the kitchen as he is an accomplished cook.«1 Seit über 25 Jahren besteht das privatwirtschaftliche Altenpflegeheim des Ehepaars Tillotson in High Wycombe, 50 Kilometer westlich von London, das bis zu 35 alten Menschen einen Platz bietet. In England sind familiengeführte stationäre Alteneinrichtungen keine Seltenheit. Immer schon gab es solche Heime, in den 1980er-Jahren stieg ihre Zahl jedoch rasch an. Sie gehören heute ebenso zum Pflegemarkt wie etwa Orchard Care Homes, derzeit eines der größten Pflegeunternehmen.
Privatisierung und Vermarktlichung der Altenpflege sind zentrale Themen der Zeitgeschichte. Die Forschung konstatiert übereinstimmend, dass sich in den Ländern des Globalen Nordens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und im beginnenden 21. Jahrhundert eine Transformation im Zeichen des Wirtschaftsliberalismus vollzog.2 Dieser Befund lässt sich vor allem auch mit Blick auf die Sozialpolitik begründen. Studien beschäftigen sich mit neoliberalen »Think Tanks« und deren Einfluss auf Organisationen wie die OECD und die Weltbank. Historiker*innen haben überdies herausgearbeitet, wie Politik und Ökonomie bei der Gestaltung des Sozialstaates zu einem neuen Verhältnis fanden, wobei man aber keineswegs von einer Entflechtung sprechen kann.3
An diese Forschungen knüpft der vorliegende Beitrag an. Ökonomisierung ist ein vieldeutiger Begriff.4 Im hier zu betrachtenden Kontext ist vor allem dreierlei gemeint: Erstens wird damit der steigende Anteil gewerblicher, profitorientierter Heime und ambulanter Pflegedienste beschrieben, was den Wettbewerb zwischen den Anbietern erhöhte und als Privatisierung gelten kann. Zweitens geht es darum, dass die Sozialpolitik per Gesetz marktförmige Anreizsysteme und Verteilungsmechanismen in der Altenpflege stärkte. Drittens lässt sich von Ökonomisierung sprechen, um zu beschreiben, dass Effizienz- und Rentabilitätsprinzipien mehr und mehr die Organisation und Praxis der Altenpflege bestimmten.
Das Ergebnis wurde als Wohlfahrtsmarkt bezeichnet,5 ein Spannungsbegriff, der die neuen Mischformen zwischen staatlichen Regulierungsmechanismen und liberalen Marktlogiken zu fassen versucht. Doch zur Geschichte der Wohlfahrts- oder hier konkreter der Pflegemärkte gehören neben den wirtschaftsliberalen Denker*innen und den Politiker*innen, die ihnen zuhörten und entsprechende Gesetze schufen, auch Akteur*innen, die in der Praxis dafür sorgten, dass Altenpflege zum Wirtschaftsgut wurde.
Im Zentrum des Beitrags stehen die profitorientierten Anbieter sozialer Dienste für pflegebedürftige alte Menschen. Wer betätigte sich gewerblich in der Altenpflege? Warum wuchs die Zahl der Anbieter, und welche Anreize bzw. Zumutungen hielt der Markt für sie bereit? Welche Impulse setzte die Politik, und welche tatsächlichen Effekte hatte dies? Mit Blick auf die privatwirtschaftlichen Träger der Altenpflege soll die Dynamik der Vermarktlichung sozialer Verhältnisse im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erfasst werden. Die Eigentümer*innen von Heimen und Pflegediensten, die hier im Fokus stehen, lassen sich vielfach als kleingewerbliche, manche sogar als »prekäre Unternehmer*innen« verstehen, d.h. als dritte und vierte Reihe in der Gestaltung des Pflegemarktes.6 Ihre jeweiligen Interessen und Wahrnehmungen kann man mit Hilfe von Stellungnahmen rekonstruieren, die sie an Regierungen und parlamentarische Gremien richteten. Als weitere Quellen dienen zeitgenössische Studien der empirischen Sozialforschung, die sich der gewerblichen Altenpflege bereits in den 1980er-Jahren widmeten. Sie geben Einblick in das Klein-Klein der Privatisierung und in die Vermarktlichung des Sozialen als alltägliches Handlungsfeld.
Mit England und der Bundesrepublik Deutschland steht ein klassisches Vergleichspaar im Zentrum, wenn es um die Geschichte der Fürsorge und sozialen Sicherung geht.7 In beiden Ländern gab es einen Trend zur wirtschaftsliberalen Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates, der sich schließlich in tiefgehenden Reformen niederschlug – National Health Service and Community Care Act (1990) und Pflegeversicherungsgesetz (1995) –, die das Pflegesystem auf eine neue Grundlage stellten. In England allerdings setzten sich Stimmen, die den Rückzug des Staates aus der Wohlfahrtsproduktion zugunsten des Marktes befürworteten, früher durch als in Deutschland.8 Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen ökonomisch motivierte Reformen erfolgten, lenken den Blick darauf, was die Privatisierung und Vermarktlichung der Altenpflege jeweils begünstigte und wer diese Prozesse vorantrieb.
Der Beitrag gliedert sich in drei Teile. Im ersten geht es um die stationäre Altenpflege in England, die in den 1980er-Jahren eine rasche Privatisierung erlebte. Im zweiten Teil rückt die Situation in der Bundesrepublik Deutschland in den Vordergrund, wo vor allem der Bereich der häuslichen Pflege gewerbliche Anbieter anzog – viele waren Soloselbstständige oder Kleinstunternehmer. Schließlich wird diskutiert, wie sich der in den 1990er-Jahren durch Gesetze geschaffene Pflegemarkt in beiden Ländern auf den privatwirtschaftlichen Sektor auswirkte.
1. Die Privatisierung durch die Hintertür und
die »Petite Bourgeoisie« der Altenpflege in England
Bis Ende der 1970er-Jahre gab es nur wenige privat geführte, gewinnorientierte Heime in England. Erste Zahlen lieferte Peter Townsend in seiner Pionierstudie »The Last Refuge«, für die er Ende der 1950er-Jahre systematische Untersuchungen in Altenheimen durchführte.9 Die große Mehrheit stand demnach unter der Leitung von kommunalen Verwaltungseinheiten, den Local Authorities,10 und gemeinnützigen Organisationen (Voluntary Organisations). Dagegen befanden sich zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 9 Prozent der Einrichtungen in privater Hand.
Der Soziologe Townsend traf auf eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, als er die Eigentümer*innen der gewerblichen Heime interviewte. Typisch für den Weg in die private Altenpflege schien Townsend eine von ihm befragte 60-jährige Witwe zu sein, die ein Heim mit sieben Bewohner*innen in Burnham-on-Sea führte, einer Küstenstadt im Südwesten Englands: »First of all, for a few months I was matron of a voluntary home in Somerset but one of my children was mentally deficient and epileptic and had been in an institution for 14 years. He got pneumonia and I had to make a home for him, acting on the psychiatrist’s advice. That’s why I started this home.«11 Selbstständig ein Heim zu leiten gab der Witwe Freiheiten, die sie als Angestellte nicht gehabt hätte, zum Beispiel um ihren behinderten Sohn mitzubetreuen. Die private Altenpflege war ein Auffangbecken für sehr verschiedene Menschen; viele von ihnen waren Frauen. Die 55-jährige ehemalige Rotkreuzschwester, die sich nach eigenen Angaben schon immer der Pflege von Menschen gewidmet hatte, gehörte genauso zu den Heimleiter*innen wie der 45-jährige Witwer, der seine Anstellung aufgab, um das einst von seiner Frau geführte Boarding House in ein Altenheim umzuwandeln.12 Erstaunlich viele waren selbst bereits im Ruhestandsalter und versuchten, dürftige Renten aufzubessern, indem sie ihre Privathäuser als Heime registrieren ließen.13 Die Mehrheit hatte keine Vorerfahrungen in der Pflege; solche waren auch nicht verlangt. Die formalen Anforderungen, die im National Assistance Act von 1948 niedergelegt waren, ließen sich leicht erfüllen.14
Viele pflegebedürftige alte Menschen, so zeigten Townsends Erhebungen, wählten Privatheime, weil sie glaubten, damit einen Rest an Selbstbestimmung bewahren zu können. Zudem konnten alle, die sich für ein privates Heim entschieden, damit rechnen, dass ihnen die Erfahrung von Massenunterkünften erspart blieb. Nur eine kleine Zahl der Heime bot mehr als 30 Plätze an, aber keines mehr als 60. Die meisten waren für 10 bis 15 Personen ausgelegt; auch Kleinstheime für bis zu 5 Bewohner*innen waren keine Seltenheit. Die Einrichtungen des gemeinnützigen Sektors und der öffentlichen Hand gehörten hingegen häufig zu den Großen, d.h. sie verfügten über mehr als 100, Letztere sogar über mehr als 250 Plätze. Wenngleich die Zahl privater Altenpflegeheime deutlich hinter denen öffentlicher und gemeinnütziger Einrichtungen zurücklag, waren sie mehr als eine Randerscheinung. In der Blütezeit des expandierenden englischen Wohlfahrtsstaates füllten sie Lücken im Versorgungsangebot.15 Große Gewinne konnten die Eigentümer*innen der erste Stunde nicht erwarten, aber die Eröffnung eines Altenheimes bot ihnen Möglichkeiten, die ihnen aufgrund ihrer Qualifikationen und Lebensumstände ansonsten verwehrt gewesen wären.
Rund 20 Jahre nach der Veröffentlichung von Townsends Studie hatte sich die Situation entscheidend geändert. Der Wandel schlug sich deutlich in den Statistiken nieder: In kaum einem anderen Land wuchs der privatwirtschaftliche Pflegesektor so rasant wie in England. Bereits in den 1970er-Jahren konnten die privatwirtschaftlichen Anbieter ihren Anteil erhöhen. Schließlich verdreifachten sie die Zahl der angebotenen Plätze in den Jahren zwischen 1983 und 1993. Etwa 59 Prozent der etwa 224.000 Heimplätze im Jahr 1993 entfielen auf privatwirtschaftliche Anbieter, während die öffentliche Hand nur noch knapp 26 Prozent bereitstellte.16
Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Einen ersten Ansatz bieten ideengeschichtliche Zugänge. Mehr als in anderen Ländern und sogar mehr als in den USA prägten wirtschaftsliberale Ideen die englische Tagespolitik.17 Deutliche Kürzungen sozialpolitischer Programme einerseits und eine vor allem in der zweiten Amtsperiode Thatchers (1983–1987) forcierte Privatisierung von Staatsunternehmen wie British Gas oder British Telecom andererseits gehörten zu den Folgen.18 Im Zeichen einer »Property-Owning Democracy« stieg die Eigentumsquote durch den Verkauf der Council Houses signifikant.19 Die neuen Altenpflegeunternehmer*innen, die überall im Land, besonders aber in Mittelengland in die Branche einstiegen, trugen das Ihre zur breiteren Streuung des Eigentums bei.
Doch ein Blick auf die ordnungspolitische Ebene offenbart eine Überraschung. Die Privatisierung der Altenpflege war weit weniger intendiert und weniger verordnet, als die gängige Deutung von Thatchers neoliberaler Wende es nahelegt. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Weichen für das Wachstum gewerblicher Altenpflege bereits vor dem Amtsantritt der »Eisernen Lady« gestellt worden waren. Schon Mitte der 1970er-Jahre schrumpfte das Budget, das die Local Authorities für den Ausbau der stationären Altenhilfe zur Verfügung hatten. Die kommunalen Social Service Committees mussten seither Neubauprojekte auf Eis legen und sahen sich sogar zum Verkauf einzelner Heime genötigt, um mit dem Erlös dringend anstehende Modernisierungsmaßnahmen in den verbleibenden Einrichtungen finanzieren zu können.20 Den privaten Altenpflegesektor tangierte dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen bedeutete es, dass der größte Konkurrent sein Angebot einschränken musste, d.h. gewerbliche Anbieter konnten sich wachsender Nachfrage sicher sein. Zum anderen profitierten Letztere davon, dass viele Zweckbauten für die Altenpflege günstig auf den Immobilienmarkt gelangten.21
Aus den Sparzwängen, denen die Local Authorities seit Mitte der 1970er-Jahre unterworfen waren, ergab sich eine weitere folgenschwere Weichenstellung. Das Department of Health and Social Security (DHSS) in London veränderte den Zugang zu den vermögensabhängigen Unterstützungsleistungen der Sozialhilfe. Alle, die sich für den Umzug in ein privatwirtschaftlich oder gemeinnützig betriebenes Heim entschieden, konnten seit 1979 Gelder beantragen – vorausgesetzt, ihr eigenes Einkommen reichte nicht aus, um die monatlichen Gebühren zu bezahlen. Die zuständigen Ämter prüften nur die wirtschaftliche Bedürftigkeit. Eine Bewertung, ob die Pflege in einem Heim nötig war, fand hingegen nicht statt. Hatte es 1979 nur etwa 11.000 Bezieher*innen dieser Form der Unterstützungsleistung gegeben, lag die Zahl gut zehn Jahre später bei etwa 280.000.
Wie wenig geplant die daraus folgende Privatisierungswelle startete, wird klar, wenn wir uns anschauen, wie es dazu kam, dass Pflegebedürftige Leistungen des DHSS erhielten. Die Idee, DHSS-Töpfe für Bewohner*innen nichtstaatlicher Heime zugänglich zu machen, war nämlich erst ersonnen worden, als Akteure des gemeinnützigen Sektors Unterstützung einforderten, um mit den Geldern der Sozialhilfe finanzielle Einbußen ausgleichen zu können. Seit die Budgets der Local Authorities gekürzt worden waren, von denen sie bis dahin umfänglich Zuwendungen erhalten hatten, hatten sie um ihre Existenz bangen müssen.22 Zunächst handelte es sich um Fall-zu-Fall-Entscheidungen; erst 1983 formalisierte das DHSS diese Antragsmöglichkeit. Das geschah sehr lautlos, ohne dass die breitere Öffentlichkeit davon Notiz nahm. Damit war der Weg für eine »Privatisation by Default« oder eine »Back Door Privatisation« geebnet.23
Doch die steigende Zahl der Anträge bedeutete auch steigende Kosten. Innerhalb von sieben Jahren (1978–1985) kam es nach Angaben einer Labour-Abgeordneten zu einem beachtlichen Anstieg: von 6 auf 280 Millionen Pfund.24 Die Kostensteigerung setzte sich überdies noch fort, trotz der Maßnahmen seitens des DHSS, um die Leistungen zu deckeln. Anfang der 1990er-Jahre betrugen die jährlichen Ausgaben schließlich 2,6 Milliarden Pfund.25 Ein solcher Kostenanstieg blieb nicht lange unbemerkt. Labour-Abgeordnete sprachen kritisch vom staatlich geförderten »Mushrooming Private Profit-Making Sector«.26 Doch nicht nur die Mitglieder der Oppositionspartei hielten dies für eine Fehlentwicklung. Auch die Regierung steuerte gegen den Trend, indem regional spezifische Höchstgrenzen für solche Geldleistungen der Sozialhilfe festgelegt wurden.27 Schließlich beauftragte die Regierung 1986 den Manager Roy Griffiths damit, Pläne für eine Neuordnung der Pflegepolitik vorzulegen.28 Die daraufhin verabschiedeten Reformen des National Health Service and Community Care Act besiegelten das Ende der Privatisierung durch die Hintertür.
Die frühe Privatisierungswelle in England, so lässt sich an dieser Stelle festhalten, bestätigt diejenigen Forscher*innen, die betonen, dass Ökonomisierung nicht immer mit Leistungsabbau einherging. Denn die wachsende Zahl gewerblicher Heimbetreiber*innen war größtenteils staatlich finanziert. Privatwirtschaftliche Heime nahmen immer mehr Bewohner*innen auf, deren Gebühren das DHSS zahlte. Die Sozialausgaben für Pflegebedürftige waren in den Regierungsjahren Thatchers nicht gesenkt worden, vielmehr hatte eine Verschiebung der Kosten im Staatshaushalt stattgefunden: Während die Ausgaben der Local Authorities sanken, stiegen diejenigen des DHSS.
Überdies gilt es zu beachten, dass die Local Authorities zwar ihr Engagement im Heimsektor zurückfahren mussten, allerdings zur gleichen Zeit ihr Angebot der häuslichen Pflege erweiterten,29 was Gerontolog*innen bereits seit den 1960er-Jahren als sozialpolitische Notwendigkeit eingefordert hatten. Der 1984 in Kraft getretene Registered Homes Act erweiterte zudem die Pflichten der Local Authorities, privatwirtschaftliche und gemeinnützig geführte Heime zu überwachen. Kurzum: Es gab eine Privatisierung der Altenpflege, jedoch keine Entstaatlichung.
Um die Dynamik der Privatisierung zu erklären, genügt es nicht, nur auf die Sozialpolitik zu schauen. Eine weitere Ebene soll hier hinzugefügt werden, um zu begründen, warum gewerbliche Heime wie Pilze aus dem Boden schossen: die Perspektive des privatwirtschaftlichen Sektors selbst. Was bewegte Individuen, ein Heim neu zu eröffnen bzw. zu übernehmen? Besonders die Situation in der Grafschaft Devon ist tiefgehend analysiert worden. In den Jahren 1984/85 führten Wissenschaftler*innen der University of Exeter eine großangelegte Interviewstudie durch, die teils überraschende Ergebnisse zu Tage förderte. Devon, im Südwesten Englands gelegen, gehört zu den eher ländlich geprägten Grafschaften. Die Bevölkerung verteilte sich in den 1980er-Jahren überwiegend auf kleine Städte und Dörfer; etwa die Hälfte lebte in den urbanen Zentren, zu denen Plymouth und Exeter zählen. In Devon war der Anteil älterer Menschen traditionell höher als in anderen Landesteilen, denn es gehörte zu den für Rentner*innen landschaftlich und klimatisch attraktiven Regionen, wobei vor allem die Küstenstädte Ruheständler*innen anzogen.
Der Anteil privater Heime war hier, wie überhaupt im Süden Englands, schon immer vergleichsweise hoch gewesen; in den 1980er-Jahren wuchs er weiter. Nur etwa 20 Prozent der bestehenden Einrichtungen waren bereits vor 1975 eröffnet worden, über 40 Prozent waren weniger als fünf Jahre in Betrieb.30 Der Einstieg in den sozialen Dienstleistungssektor gelang leichter als im herstellenden Kleingewerbe, denn es war weniger Startkapital nötig. Vor allem in der ersten Zeit bedurfte es nur geringer Ressourcen. Viele Heimbetreiber*innen begannen ihre Tätigkeit aus dem eigenen engsten Umfeld heraus – fast die Hälfte der Heime waren vormals Wohnhäuser gewesen. Mit den Reformen des Banken- und Kreditwesens 1982 standen denjenigen, die eine Pflegeeinrichtung eröffnen wollten, großzügige Kredite zur Verfügung.31 Generell war der Weg in die Altenpflege auch für absolute Neueinsteiger*innen nicht besonders steinig.
Die wenigsten Eigentümer*innen hatten zuvor schon ein Heim geleitet, und für immerhin 25 Prozent war es eine unbekannte Branche. Die Hälfte der untersuchten Heime hatte ausgebildete Kranken- und Altenpfleger*innen als Leitung. Noch zwei weitere Berufsgruppen fallen ins Auge: Menschen, die zuvor im Hotel- und Tourismusgewerbe tätig waren, und solche, die mit dem Immobilienmarkt zu tun hatten. Da es die Brit*innen immer weniger in die inländischen Seebäder zog, sondern weiter in die Ferne, wandelten einige Hotelbesitzer*innen ihre Unterkünfte in Altenheime um.32 Es gab also spezifische Gelegenheitsstrukturen, die den Wechsel in die Altenpflege begünstigten. Diese wurde ein berufliches Auffangbecken in Zeiten, als andere Branchen stagnierten.
Krisengewinnler*innen waren die neuen Heimleiter*innen jedoch kaum. Zwar zeigt sich, dass gerade in wirtschaftlich schwachen Regionen überproportional viele Einrichtungen entstanden, weil es möglich war, Personal für weniger Lohn zu beschäftigen.33 Dennoch waren Heime selten eine Goldgrube, und das Geld, das ein Altenheim abwarf, war hart verdient. 67 Prozent der Heimleiter*innen der Grafschaft Devon arbeiteten und lebten selbst in der Einrichtung. 43 Prozent mussten auf Familienmitglieder zurückgreifen, um die Arbeit stemmen zu können. Meist waren es Ehepaare, die das Heim gemeinsam führten (73 Prozent), oder es half eine der Töchter regelmäßig bei der Pflege der alten Menschen mit. Heimleiter*innen überschritten mitunter die Grenze zur Selbstausbeutung, was sich in einer hohen Fluktuationsrate bei den Eigentümer*innen niederschlug. Fast die Hälfte der in Devon befragten Personen signalisierte, dass sie darüber nachdachten, das Altenpflege-Gewerbe wieder zu verlassen.34 Die britischen Soziologen David Phillips und John Vincent prägten den Begriff »Petit Bourgeois Care«, um auf die kleinbürgerlichen Lebens- und Arbeitsformen der Heimeigentümer*innen zu verweisen.35
Der Boom der privaten Altenpflege lässt sich weder als Werk der »Self-Made Men« und ihrem »Right to Be Enterprising« deuten, wie die Vertreter*innen der konservativen Partei dies gern taten,36 noch passen die Beschreibungen der Labour-Abgeordneten von skrupellosen Profitmachern besonders gut. Eigentlich hatte sich, seit Peter Townsend 1962 die stationäre Pflege beleuchtet hatte, gar nicht so viel geändert, zumindest nicht für die Gruppe derer, die zu gewerblichen Zwecken Heime betrieben. Nach wie vor war die private Altenpflege eine Option für Personen, denen das selbstständige Wirtschaften eine bisweilen eher notwendige als willkommene Alternative zur Lohnarbeit bot. Der große Unterschied war, dass in den 1980er-Jahren aufgrund wirtschaftlicher, politischer und soziokultureller Veränderungen sehr viel mehr Menschen zu dieser »Petite Bourgeoisie« gehörten. Diejenigen, die privatwirtschaftliche Heime eröffneten, um sich ihren Lebensunterhalt jenseits der Lohnarbeit zu verdienen, trugen wesentlich zur Privatisierung der Altenpflege bei. Ohne sie hätte sich die Neuregelung der Sozialhilfe weit weniger dramatisch ausgewirkt, denn es hätte an Heimen gefehlt, um die durch Gelder des DHSS finanzierten alten Menschen unterzubringen. Local Authorities hätten ihre Einrichtungen sehr viel schwerer veräußern können. Der Privatisierungskurs des Vereinigten Königreiches, dies legt das Beispiel der Altenpflege nahe, war auch das Ergebnis vieler berufsbiographischer Einzelentscheidungen, die zugleich jedoch strukturelle Gründe hatten.
Handelte es sich hier um eine spezifisch britische Entwicklung? Hatte der bereits seit Anfang der 1970er-Jahre signifikante industrielle Strukturwandel im Vereinigten Königreich besondere Verhältnisse geschaffen, die eine gesellschaftlich getragene Privatisierung der Altenpflege begünstigten? Ein vergleichender Blick auf die Bundesrepublik Deutschland kann helfen, genauere Antworten zu finden. Obwohl sich hier wenig an den sozialpolitischen Regelungen änderte, wuchs und wandelte sich die gewerbliche Altenpflege schon vor Einführung der Pflegeversicherung signifikant.
2. Pflegeunternehmen und Privatisierung im
bundesdeutschen Sozialstaat bis Anfang der 1990er-Jahre
1969 fand eine der ersten bundesweiten Erhebungen über die vorhandenen Plätze in Heimen statt. Sie ergab, dass nur etwa 9 Prozent von gewerblichen Anbietern bereitgestellt wurden, wohingegen sich die überwiegende Zahl der insgesamt 248.000 Plätze, die damals vorhanden waren, in Einrichtungen der Kommunen und der Wohlfahrtsverbände befand.37 Noch eine weitere Parallele zu England lässt sich ziehen: Auch in der Bundesrepublik verfügten gewerbliche Heime durchschnittlich über deutlich weniger Betten als die Heime der Wohlfahrtsverbände und Kommunen: 22 im Vergleich zu 75. Ebenso wie in England kamen auch die privatwirtschaftlichen Träger in der Bundesrepublik Deutschland dem von Gerontolog*innen empfohlenen Ideal kleiner Heime sehr viel näher als ihre Konkurrenz.38 Der überwiegende Teil der Häuser wurde von Eigentümer*innen geleitet; nicht selten arbeiteten Familienmitglieder mit, um die Kosten niedrig zu halten. Von den im Bundesverband privater Alten- und Pflegeheime (BPA) organisierten Heimen verfügte im Jahr 1973 die Mehrheit (52 Prozent) über 16 bis 50 Plätze. Nur 29 Prozent hatten mehr, und der Rest, immerhin fast 20 Prozent, hatte jeweils sogar weniger als 15 Plätze.39 Unternehmer*innen, die mehrere Einrichtungen betrieben und große Gewinne verzeichneten, waren eher die Ausnahme. Obwohl der bundesdeutsche Sozialstaat ganz anders organisiert war als der englische, stellt sich die Ausgangssituation in der Altenpflege mit Blick auf die Anbieterstruktur sehr ähnlich dar. Wie aber ist die weitere Entwicklung in der Bundesrepublik einzuordnen?
Der Anteil der gewerblichen Heime und die Zahl der Plätze, die sie bereitstellten, stiegen seit den 1960er-Jahren stetig, allerdings langsam. Von einer dynamischen Entwicklung, wie sie mit der Privatisierungskonjunktur in England vorlag, kann nur dann die Rede sein, wenn der ambulante Bereich einbezogen wird. Dass soziale Dienste für pflegebedürftige alte Menschen zunehmend zum Wirtschaftsgut wurden, hatte also auch mit einer strukturellen Veränderung zu tun: Altenpflege fand immer häufiger außerhalb der Mauern von Heimen statt.
Eigentlich hatte der Gesetzgeber bereits mit dem Bundessozialhilfegesetz 1961 erste Anreize für den von Gerontolog*innen geforderten Ausbau häuslicher Dienste gesetzt. Allerdings war das tatsächliche Angebot in den folgenden Jahren nur zögerlich erweitert worden.40 Erst in den 1970er-Jahren verstärkten Kommunen und schließlich auch der Bund sichtbar ihre Bemühungen, um ambulante Dienste zu schaffen. Doch die Förderung häuslicher Pflege zielte nicht auf eine Privatisierung. Die Sozialstationen, die verschiedene Landesregierungen und die Bundesregierung für den Ausbau ambulanter Pflege förderten, beteiligten nur öffentliche und gemeinnützige Träger.
Trotzdem stieg die Zahl der gewerblichen Pflegedienste. Genaue Angaben fehlen, aber es gibt einige Indizien, dass es in den 1980er-Jahren zu einer Privatisierungswelle in der ambulanten Pflege kam. Dies legt eine 1985 veröffentlichte Studie des Kuratoriums Deutsche Altershilfe nahe, die sich mit den Gründen für die Ausweitung der »kleingewerblichen, freiberuflichen und alternativen privaten Pflegedienste« auseinandersetzte.41 Als eine Studie von Infratest 1998 erstmals konkrete Zahlen lieferte, zeigte sich, dass 43 Prozent der etwa 11.600 ambulanten Dienste gewerblich betrieben waren. Die Pflegeversicherung hatte zu einem Schub von Neugründungen geführt. Allerdings ergab eine Stichprobe (die nicht nach Trägergruppen unterschied), dass etwa 66 Prozent der Dienste vor 1993, 39 Prozent sogar vor 1989 ihren Betrieb aufgenommen hatten.42
Das Wachstum der gewerblichen Pflege sticht umso mehr hervor, als sozialpolitische Anreize dafür kaum zu finden sind – im Gegenteil. Sehr viel stärker als in England stieg in Zeiten sozialstaatlicher Expansion der Druck auf die Politik, gewerbliche und damit gewinnorientierte Wohlfahrtsproduktion zurückzudrängen oder ganz zu beseitigen. Laut Zeitungsartikeln galt es als »[u]nmoralisch, aus Gebrechlichkeit Gewinne zu erzielen«.43 Viele Kritiker*innen misstrauten den privatwirtschaftlichen Heimen grundsätzlich: Sie fürchteten, dass alte Menschen zu Ware degradiert würden. Hatten nicht einige der Heimeigentümer*innen, vor allem solche, die mehrere Häuser betrieben, zuvor in ganz anderen Branchen gearbeitet? Immer wieder zog der in Hessen tätige Friedrich Poths die mediale Aufmerksamkeit auf sich, der als gelernter Feintäschner und Speditionskaufmann in den 1970er-Jahren gut mit dem Betrieb von Pflegeheimen verdiente. Durch Äußerungen, dass die Pflege alter Menschen »eine Aufgabe wie jede andere Produktionsaufgabe in der Gesellschaft« sei, bestätigte er die Vorbehalte, die es gegen private Anbieter gab.44 »Gebrechlichkeits-Unternehmer« führten »Siechen-Betriebe« und handelten mit »wehrloser menschlicher Ware«, so der Tenor vieler Medienberichte.45 Problematisch erschien, dass gewerbliche Anbieter, die gewinnorientiert arbeiteten, aus dem Leiden anderer Kapital schlugen. Die Pflegesätze des Sozialamtes oder aber die Gebühren, die Bewohner privat entrichteten, flossen eben nicht gänzlich in die Pflege. Das Ziel, Profit zu manchen, reduzierte die zur Verfügung stehenden Mittel zwangsläufig. Neben diesen Überlegungen spielte das Argument der unrechtmäßigen Bereicherung eine Rolle. Die Tätigkeit in der Altenpflege galt denen, die die Existenz gewerblicher Heime in Frage stellten, mehr als Dienst am Nächsten denn als gewinnorientierte Dienstleistung. Solche Äußerungen zeugen von der weitverbreiteten Vorstellung einer moralischen Überlegenheit öffentlicher und gemeinnütziger Wohlfahrtsproduktion.46
Die Vorbehalte gegenüber privatwirtschaftlichen Heimen schlugen sich auch ordnungspolitisch nieder. Mit der 1961 erfolgten Neustrukturierung der Fürsorge durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) hatte der Gesetzgeber die Grundlage für eine staatliche und bundeseinheitliche Pflegepolitik gelegt. Die Bestimmungen der Hilfe zur Pflege und der Altenhilfe gehörten zu den innovativsten Inhalten des BSHG.47 Sie erweiterten die Möglichkeiten alter Menschen in Heimen, auf die Sozialhilfe zurückzugreifen, wenn eigene Mittel nicht ausreichten. Dies hing formal nicht von der Trägerstruktur der Einrichtung ab. Auch Bewohner*innen gewerblicher Heime konnten also Leistungen erhalten – wie die Bewohner*innen kommunaler bzw. gemeinnütziger Häuser. Allerdings lehnten einzelne Kommunen privatwirtschaftliche Altenpflege nachweislich ab. Für Freiburg i.Br. und Castrop-Rauxel ist bekannt, dass Sozialämter die privaten Anbieter bereits in den 1960er-Jahren von Zuschüssen ausschlossen und zudem keine Sozialhilfeempfänger*innen an solche Einrichtungen vermittelten. Daran änderte sich trotz steigendem Nachfragedruck wenig.48
Schließlich unternahm der bundesdeutsche Gesetzgeber 1967 im Rahmen der Gewerbeordnung erste Schritte, Altenheime zu regulieren. Seither waren die Länder dafür zuständig, Qualifikationen der Heimleiter*innen, Personalschlüssel, bauliche Voraussetzungen und Anforderungen an medizinische Betreuung zu regeln sowie die Einhaltung der Vorschriften zu überprüfen. Zum Schutz Hochbetagter beschnitt die öffentliche Hand die Gewerbefreiheit fühlbar. Die Diskussion um die Regulierung von Heimen endete damit aber nicht, sondern kam erst richtig in Schwung. 1971 erreichte die Kritik am Pflege-Geschäft einen Höhepunkt, als die Arbeitsgruppe sozialdemokratischer Juristen verlangte, »Staat und gemeinnützige Einrichtungen mögen mehr Altenheime errichten und Privatunternehmen hierbei ausschalten«.49 Den Anlass hatten erneute Berichte über Missstände in Heimen in Hessen gegeben, vor allem die Vermutung, dass einige alte Menschen dadurch den vorzeitigen Tod gefunden hätten.50 Die Arbeitsgruppe sozialdemokratischer Juristen stieß mit ihren Forderungen auch außerhalb der SPD auf Resonanz.
Aller Kritik zum Trotz kam es aber nie zu einem Verbot gewerblicher Altenpflege, sondern es mischten sich zunehmend ganz andere Stimmen in die Diskussion. Bemerkenswerterweise trugen gerade die Kontrollen, die im Rahmen der Gewerbeordnung durchgeführt wurden, dazu bei, Vorbehalte gegenüber privaten Heimen abzubauen. In ihrem ersten Bericht über die Erfahrungen mit der neuen Heimverordnung kam die Bundesregierung 1969 zu dem Schluss, »daß schwerwiegende Mißstände beim Betrieb der gewerblichen Heime in den Ländern nur vereinzelt festgestellt worden« seien. Die bisherigen Kontrollen hätten »den Eindruck, der in der Öffentlichkeit gelegentlich durch Presseberichte über angeblich katastrophale Zustände in gewerblichen Heimen hervorgerufen worden sein mag«, nicht bestätigt.51 Das 1974 verabschiedete Gesetz über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime (Heimgesetz) stärkte zwar die Regulierung von Heimen. Es erstreckte sich aber, anders als anfangs gedacht, auf alle Anbieter: gewerbliche, öffentliche und gemeinnützige.52 In der Retrospektive erweist sich die Kritik an gewerblichen Heimen als Katalysator für eine intensivere Qualitätskontrolle der gesamten stationären Altenpflege.
Wenngleich die pauschalen Vorbehalte vieler Sozialpolitiker*innen gegenüber privatwirtschaftlichen Anbietern schwanden, lässt sich bis in die 1990er-Jahre nicht von einer staatlichen Förderung profitorientierter privater Altenpflege sprechen. Dies zeigt sich insbesondere für die ambulante Pflege. Sozialstaatliche Anreize, die Alten- und Krankenpfleger*innen in die selbstständige Tätigkeit lockten, gab es kaum. Im Gegenteil: Privatwirtschaftliche Pflegedienste hatten zunächst keine Garantie, dass Krankenkassen die Kosten für Leistungen, die sie erbrachten, übernahmen.53 Schwierigkeiten bei der Kostenerstattung gehörten zu den Hauptgründen, warum viele, die in die Selbstständigkeit gegangen waren und Pflegedienste gegründet hatten, nach kurzer Zeit wieder aufgeben mussten.54 Erst mit der Einführung der Pflegeversicherung änderte sich dies grundsätzlich.
Welche Gründe gab es aber dann für die vorherige Privatisierung der Altenpflege? Welche Bedingungen förderten diese Entwicklung? Hier soll Beteiligten der Privatisierung an anderer Stelle nachgespürt werden, nämlich in den Reihen der Eigentümer*innen gewerblicher Heimen selbst. In den 1960er-Jahren, also gerade zu jener Zeit, als sich eine Front gegen die Tätigkeit gewerblicher Anbieter in der Altenpflege bildete, schlossen sich einige von ihnen zu Interessenverbänden zusammen, um der Kritik besser begegnen zu können.
Einer der wichtigsten war der 1964 gegründete Bundesverband privater Alten- und Pflegeheime (BPA). Er vertrat 1973 gut 20 Prozent der etwa 750 privatwirtschaftlichen Alten- und Pflegeheime, die damals in der Bundesrepublik existierten.55 Der Verband forderte, dass der Staat bei der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen gewerbliche Träger ebenso heranziehen sollte wie öffentliche und gemeinnützige Einrichtungen. Noch ehe die marktschaffenden Regeln des Pflegeversicherungsgesetzes griffen, wirkte der BPA auf eine Veränderung des Wettbewerbs hin. Gemessen an den Gesetzen und gerichtlichen Entscheidungen der kommenden Jahrzehnte, die die Tätigkeit privater Träger begünstigten, hatte der Verband damit Erfolg. In puncto Steuerbefreiung und Pflegesatzverhandlungen konnte sich die Leitung des BPA durchsetzen: 1980 erreichte sie, dass private Alten- und Pflegeheime stärker als zuvor von der Umsatzsteuerbefreiung profitieren konnten. Bewohnten zwei Drittel oder mehr hilfsbedürftige Personen die jeweilige Einrichtung, entfiel die Steuer.56 Schließlich gelang es 1993 den privatwirtschaftlichen Trägern, die mehrfach geforderte Teilnahme an den Pflegesatzverhandlungen mit den kommunalen Kostenträgern zu erwirken. Sie erhielten dadurch Möglichkeiten, die Preisgestaltung mitzubestimmen, was bis dahin den Wohlfahrtsverbänden vorbehalten war.57
Allerdings konnten sich die privaten Anbieter vor allem dann auf dem Markt behaupten, wenn sie unter Beweis stellten, dass sie keine gewöhnlichen Gewerbebetriebe waren. Steuerbefreiungsregelungen erwirkte die Leitung des BPA mit dem Argument, dass die von ihr vertretenen Heime sozialstaatliche Gemeinschaftsaufgaben übernähmen. Laut Satzung organisierte der BPA die »Sozialunternehmer der privaten Altenbetreuung«.58 Mit Bedacht hatten die im BPA zusammengeschlossenen Träger dessen Namen gewählt. Sie sprachen bewusst von einem Verband der »privaten« Heime, um diese vom »anrüchig gewordenen Odium des ›Gewerblichen‹ zu befreien«.59 Auch in Gesetzestexten versuchte die Verbandsleitung eine solche Sprachregelung durchzusetzen. Scheiterten entsprechende Vorstöße im Falle des Heimgesetzes von 1974 noch, findet sich im Pflegeversicherungsgesetz von 1995 statt »gewerblichen« Trägern bzw. »gewerbsmäßig betriebenen« Heimen durchgängig das Adjektiv »privat«. Dieses war positiv konnotiert, bedeute es doch auch vertraut, persönlich und familiär – Attribute, die alte Menschen und ihre Angehörigen schätzten.
Wie sah es mit dem ambulanten Bereich aus? Hier müssen neben den Interessenverbänden, wie der 1984 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege, auch die einzelnen Pflegedienste selbst betrachtet werden. Die gewerbliche ambulante Pflege ruhte in den 1980er-Jahren maßgeblich auf den Schultern von Kranken- und Altenpfleger*innen, die zuvor in Heimen und Sozialstationen angestellt gewesen waren. 1990 schätzte Ursula Zawada, die sich als eine der ersten Interessenvertreter*innen hervortat, ihre Zahl auf 50.000. Der Weg der Kranken- und Altenpfleger*innen in die Selbstständigkeit fügte sich dabei in eine generelle Entwicklung ein. In den 1980er-Jahren kam der Jahrzehnte andauernde Trend, dass die Zahl der selbstständig Erwerbstätigen zurückging, zunächst an sein Ende. Es gab sogar eine leichte Zunahme.60 Eine Befragung unter den Teilnehmer*innen, die sich in Seminaren über die Grundlagen der häuslichen Pflege als Arbeitsfeld informierten, ergab Ende der 1980er-Jahre, dass sie sich von der Freiberuflichkeit ein höheres Einkommen, mehr berufliche Unabhängigkeit und größere Gestaltungsmöglichkeiten erwarteten. Die Überlastung von Pflegekräften in Heimen, Folge des Personalmangels und der Schichtarbeit, spielte ebenso eine Rolle.61 Wie bei den meisten anderen Dienstleistungsberufen war der Schritt in die Selbstständigkeit dadurch erleichtert, dass es – anders als im Falle des Güter produzierenden Gewerbes – nur eines niedrigen Startkapitals bedurfte. Fachwissen und bereits bestehende Netzwerke waren die entscheidenden Ressourcen.62 Einen typischen Fall stellten solche Pfleger*innen dar, die zuvor im Krankenhaus gearbeitet hatten. Sie wurden dort unweigerlich mit dem Bedarf an häuslicher Pflege konfrontiert, denn häufig konnten ältere Patient*innen nicht entlassen werden, weil es an nötiger Unterstützung im privaten Umfeld fehlte. Die Kontakte zum ehemaligen Arbeitsplatz erleichterten den Neuselbstständigen die Kund*innen-Akquise.63
Die gewerbliche Tätigkeit, dies zeigen Interviews und Porträts von Pflegedienstbetreiber*innen der ersten Stunde, war jedoch mitunter ein Notbehelf. Manche entgingen so der Arbeitslosigkeit, als Krankenhäuser Stellen abbauten. Andere, die bereits den Berufsausstieg geplant hatten, was in der Pflege vergleichsweise häufig vorkam, hofften auf neue Perspektiven, um doch noch ihrer Ausbildung entsprechend tätig zu sein. Berufsbiographische Entscheidungen standen teils hinter dem Wachstum der gewerblichen ambulanten Pflege. Manche Kranken- und Altenpfleger*innen, die sich selbstständig machten und Pflegedienste gründeten, können als Neuunternehmer*innen und Akteur*innen der Privatisierung wohlfahrtsstaatlicher Produktion beschrieben werden. Andere hingegen lassen sich eher in die weltweit wachsende Gruppe derer einordnen, die sich in höchst prekären Arbeitskonstellationen befanden.64 Mit ihrer Anstellung hatten sie sozialrechtliche Absicherungen aufgegeben und waren oftmals großen wirtschaftlichen Unsicherheiten ausgesetzt. Viele nahmen unregelmäßige Arbeitszeiten hin, denn nur durch Angebote wie 24-Stunden-Pflege, Wochenend- und Feiertagspräsenz konnten sie sich gegenüber den öffentlichen und gemeinnützigen Diensten behaupten, die dies meist noch nicht bereitstellten.65
Am Vorabend der Pflegeversicherung – so lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen – wuchs der private Altenpflegesektor bereits. Insbesondere bei der ambulanten Versorgung hatten gewerbliche Träger ihre Präsenz ausgebaut. Interessenverbände wie der BPA oder die später gegründete Arbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege hatten schrittweise Erleichterungen für ihre Mitglieder erreicht.66 Dennoch hielten sich vor allem Teile der gewerblichen, ambulant Pflegenden mehr schlecht als recht über Wasser. Sie erwarteten sich einiges von der Pflegeversicherung. Wenngleich es viele alte Menschen gab, die auf Hilfe angewiesen waren, so hatte sich doch gezeigt, dass die Bereitschaft bei den meisten gering ausgeprägt war, für Pflege angemessen zu zahlen. »Es gibt immer wieder Leute«, so äußerte ein Pflegedienstbetreiber 1991 gegenüber dem »Spiegel«, »die gammeln lieber in ihrer Wohnung vor sich hin, als daß sie ihre Spargroschen angreifen.«67
3. Vermarktlichung per Gesetz und Pflege als Wirtschaftsgut
In den 1990er-Jahren erfolgte in England und auch in der Bundesrepublik Deutschland eine neuartige soziale Absicherung von Pflegebedürftigkeit. Bereits 1990, am Ende der dritten und letzten Amtszeit Margaret Thatchers, verabschiedete das Parlament den National Health Service and Community Care Act, der in den folgenden drei Jahren schrittweise in Kraft trat. Nach langen Verhandlungen setzte die liberal-konservative Koalition in der Bundesrepublik 1995 die Einführung der Pflegeversicherung durch und ergänzte das bisherige Sozialversicherungssystem um eine weitere Säule. Beide Gesetzeswerke zielten auf die Vermarktlichung der Altenpflege. Die Sozialpolitiker*innen beider Länder wählten allerdings sehr unterschiedliche Wege.
Im englischen Fall hatten die stetig steigenden Ausgaben für die Leistungen der Sozialhilfe den Druck auf die Regierung erhöht, umfassende Reformen in Angriff zu nehmen. Seit 1985 waren nahezu im Jahresrhythmus Enquete- und Sachverständigenkommissionen eingesetzt worden, die die Situation der Heime sowie der häuslichen Pflege eruierten, wobei insbesondere die Vorschläge des von Roy Griffiths erarbeiteten Berichts in die Ausgestaltung des National Health Service and Community Care Act einflossen. Wie oben bereits erwähnt, erhielt Griffiths 1986 von der Regierung den Auftrag, die Situation der Pflege zu analysieren. Er hatte viele Jahre als CEO die Supermarktkette Sainsbury geleitet. Nun stand er bereits zum zweiten Mal im Dienst Thatchers, denn bereits 1983 hatte er einen Reformplan für den NHS erarbeitet und darin für den Ausbau von Managementstrukturen plädiert.68
Mit Einführung des Gesetzes verschoben sich die Gewichte zurück auf die Local Authorities, die jedoch angehalten waren, sich eher als Käufer denn als Anbieter sozialer Dienste zu begreifen. Sie erhielten ein an der Bevölkerungsgröße orientiertes Fixbudget. Mit diesem sollten sie weniger die eigenen Heime ausbauen bzw. selbst ambulante Angebote schaffen, sondern vor allem Leistungen des sogenannten unabhängigen Sektors einkaufen. Die Local Authorities hatten 75 Prozent ihres Pflege-Budgets für Leistungen gemeinnütziger und privatwirtschaftlicher Träger aufzuwenden. Den Fallmanagern der Local Authorities oblag es fortan, für die einzelnen Pflegebedürftigen maßgeschneiderte Pflegepakete zu organisieren, wobei die Versorgung in den eigenen vier Wänden größeres Gewicht bekommen sollte.69 Der interne Markt zielte darauf, den Wettbewerbsdruck auf die Anbieter zu erhöhen und dadurch die Effizienz zu steigern.
In der Bundesrepublik hatten Marktideen in die Debatte um die Absicherung der Pflegebedürftigkeit erst spät Eingang gefunden. Die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Reform war bereits seit den 1970er-Jahren diskutiert worden. Das 1988 beschlossene Gesundheitsreformgesetz konnte diejenigen, die grundlegend verbesserte Leistungen im Pflegefall verlangten, nicht befriedigen. Die deutsche Einheit hatte den Regelungsbedarf zusätzlich erhöht, denn es stellte sich die Frage, was mit den rund 500.000 Personen geschehen sollte, die in der DDR ein pauschales Pflegegeld erhalten hatten.70 Nach harten Verhandlungen trat die umlagefinanzierte Pflegeversicherung schließlich 1995 in Kraft. Seither gilt für die gesetzlichen und – das war neu – auch für die privat Krankenversicherten eine Versicherungspflicht. Der Arbeitgeberanteil wurde dadurch kompensiert, dass fortan (mit Ausnahme von Sachsen) der Buß- und Bettag als Feiertag entfiel.
Im Vergleich zu England fallen drei Spezifika der bundesdeutschen Lösung auf: die Deckelung der Leistungen, der Vorrang der gemeinnützigen und gewerblichen Anbieter vor den öffentlichen sowie die Wahlmöglichkeiten. Auf die Kostenkontrolle legten auch die bundesdeutschen Sozialpolitiker*innen großen Wert; daher entschieden sie sich für ein Teilkasko- und nicht für ein Bedarfsdeckungsprinzip. Pflegebedürftige erhielten einen Rechtsanspruch auf Leistungen, allerdings waren diese entsprechend der Pflegestufe, in die sie eingeordnet wurden, standardisiert und begrenzt. Mehr Anbietervielfalt sollte dadurch erreicht werden, dass das Gesetz im Gegensatz zu früheren Regelungen nicht nur den gemeinnützigen Diensten einen Vorrang vor den öffentlichen einräumte, sondern auch den privatwirtschaftlichen.71 Anders als in England hatten die Empfänger*innen jedoch mehr Auswahl. Ob sie stationäre oder häusliche Dienste in Anspruch nehmen wollten, legten sie selbst fest und nicht etwa Fallmanager*innen. Pflegebedürftige konnten sich zwischen Geld- und Sachleistungen entscheiden – oder beides kombinieren.
Wie erging es aber denjenigen, denen die Reformen der 1990er-Jahre den Zugang zum Markt erleichtern sollten? Was hielten die Anbieter privatwirtschaftlicher Altenpflege vom National Health Service and Community Care Act bzw. der Pflegeversicherung? Die Zahlen zeigen eine klare Expansion der privatwirtschaftlichen Altenpflege. In beiden Ländern sank die Zahl der von der öffentlichen Hand getragenen Heime und Dienste. Hingegen wuchs der Anteil der gemeinnützigen, vor allem derjenige der gewerblichen Anbieter. In der Bundesrepublik konnten Letztere ihren Anteil an der stationären Pflege gemessen an der Zahl der Heime bis 2005 auf 38 Prozent erhöhen (1991 waren es etwa 28 Prozent gewesen). Ebenfalls 2005 hatten privatwirtschaftliche Pflegedienste im ambulanten Bereich einen Marktanteil von 58 Prozent. In England waren es 1999 sogar 69 Prozent der Plätze, die sich in gewerblich betriebenen Heimen befanden. Der öffentliche und der gemeinnützige Sektor lagen mit 17 bzw. 14 Prozent weit dahinter zurück.72 Auch bei der Bereitstellung ambulanter Pflegeleistungen konnten die privatwirtschaftlichen Anbieter ihre Präsenz ausbauen.73
Doch es gab Gegenbewegungen. Insbesondere für England hat sich in der Forschung die Annahme durchgesetzt, dass die Einführung von Marktmechanismen speziell im Gesundheitswesen staatliche Regulierung eher verstärkte als abbaute. Der Grund hierfür wird unter anderem im stark zentralistischen und bürokratischen Steuerungsmodell Englands gesehen, das nur begrenzten Entfaltungsspielraum für Vermarktlichungskonzepte bot.74 Auch für die Altenpflege ist eindeutig, wie sehr die Einführung interner Märkte die Steuerungskompetenz der öffentlichen Hand stärkte. Die Fallmanager*innen der Local Authorities hatten eine zentrale Position bei der Evaluierung des Bedarfs alter Menschen sowie bei der Organisation der Angebote, die für sie bereitstanden.
Gerade diese Regelung des internen Marktes sorgte innerhalb des privatwirtschaftlichen Sektors für viel Unmut. Eine Möglichkeit, ihre Kritik vorzubringen, hatten die Betreiber*innen privatwirtschaftlicher Heime einige Jahre nach Einführung des National Health Service and Community Care Act. Nachdem die Labour-Regierung 1997 ins Amt gewählt worden war, setzte sie eine Royal Commission on Long Term Care for the Elderly ein, vor allem um die Frage der Finanzierung der Altenpflege zu erörtern. Unter den mehr als 2.000 Zuschriften, die die Kommission erhielt, finden sich auch zahlreiche Schreiben gewerblicher Pflegeanbieter. Im Januar und Februar 1998 wandte sich etwa Tony C., der Eigentümer eines Pflegeheimes, an die Royal Commission, um sich über die Folgen der aktuellen Gesetzgebung zu beklagen: »As a nursing home owner I am acutely aware of the enormous damage done since the introduction of Care in the Community. The continuing closure of very many homes is not due to reduced patient need, but because of the previous government’s action of delegation the responsibility for funding geriatric care to local authorities. There is much evidence to show that social service departments are cumbersome, bureaucratic, focused on self-preservation and hostile to the private sector on ideological grounds.«75
Seit der Einführung des National Health Service and Community Care Act strauchelte Tony C.s Pflegeheim, und so wie ihm erging es auch anderen. Sozialwissenschaftler*innen, die weiterhin die Pflegebranche in Devon beobachteten, stellten bei einer erneuten Befragung von Heimbetreiber*innen Mitte der 1990er-Jahre fest, dass fast 70 Prozent knapp an der Profitabilitätsgrenze arbeiteten, zum Teil sogar darunter.76 Im ganzen Land lagen die Auslastungsquoten teils nur bei 85 Prozent, was viele Betreiber in Schwierigkeiten brachte.77 Ähnlich wie Tony C. suchten auch andere die Schuldigen bei den Local Authorities, die sie verdächtigten, eben nicht als neutrale Käufer sozialer Dienstleistungen zu agieren, sondern primär ihre eigenen Heime auszulasten. Freilich war die Sache komplizierter, und die Konfliktlinien verliefen nicht bloß zwischen dem öffentlichen und dem privatwirtschaftlichen Bereich.
Die kleineren gewerblichen Heime hatten seit der Einführung des National Health Service and Community Care Act vor allem mit der Konkurrenz großer Anbieter zu kämpfen. Das Gesetz begünstigte eine Konzentrationsbewegung auf dem Pflegemarkt und den Aufstieg von Unternehmen, die jeweils mehrere hundert Heime betrieben. 1999 stellten die drei größten Anbieter stationärer Pflege gut 8 Prozent der gesamten Bettenkapazität. Großen Heimen und Pflegeketten fiel es leichter, Auslastungsschwankungen abzufedern, und sie konnten die Kosten niedriger halten, was sie aus Sicht der Local Authorities zu begehrteren Vertragspartnern machte als viele der kleinen Heime. Je mehr Eigentümer*innen kleiner Heime wegen der finanziell überlegenen Konkurrenz aufgeben mussten, desto mehr Immobilien standen schließlich für den weiteren Ausbau solcher Großanbieter zur Verfügung.78 Nur ein Teil der privatwirtschaftlichen Anbieter profitierte also von der Einführung der internen Märkte, die durch die Pflegereform 1990 geschaffen worden waren.
Wie wirkte sich die deutsche Reformvariante aus? Auch in der Bundesrepublik markierte die Pflegeversicherung eine Zäsur für die gewerblichen Altenpflegeanbieter: Sie begrüßten es sehr, endlich die Gleichstellung mit gemeinnützigen Trägern im stationären wie ambulanten Sektor erreicht zu haben. Scharf kritisierten sie jedoch die in ihren Augen mangelnde finanzielle Ausstattung der Pflegeversicherung. Noch als die Formulierung des Gesetzes in vollem Gange war, äußerten die Interessenvertretungen ihre Bedenken. Neben dem BPA waren auch andere Organisationen, wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege und der Arbeitgeberverband ambulanter Pflegedienste, dazu aufgefordert, Stellungnahmen einzureichen und ihre Positionen in den Anhörungen des zuständigen Bundestagsausschusses vorzubringen. Die Leitung des BPA warf der Regierung vor, den »humanen Auftrag des Sozialstaatsprinzips« zu verletzen. Geschlossen warnten die Vertreter der privatwirtschaftlichen Pflege, dass der Kostenrahmen, mit dem der Regierungsentwurf operierte, viel zu niedrig sei: Die Zahl der einzelnen Einsätze im Fall der ambulanten Pflege sei unrealistisch, und es sei vorauszusehen, dass die veranschlagten Mittel »vorn und hinten nicht reichen werden«.79 Als der CDU-Abgeordnete Karl-Josef Laumann den Vertreter des Arbeitgeberverbandes ambulanter Pflegedienste während der Anhörung drängte, eine konkrete Zahl zu den Kosten eines Pflege-Einsatzes zu nennen, warf dieser einen Wert in den Raum, der fast doppelt so hoch lag wie der in den Modellrechnungen angesetzte.80 Auch die gewerblichen Pflegeanbieter waren also nicht billig zu haben. Der BPA und andere Interessenverbände privater Heime und Dienste verstärkten die Gruppe derjenigen, die mehr Geld für Leistungen vom Staat forderten. Die Privatisierung der Altenpflege zog also nicht nur kostensenkende, sondern auch potentiell kostentreibende Effekte nach sich. Vom Wettbewerb zwischen Anbietern war bei der Formulierung des Gesetzes wenig zu spüren. Gemeinnützige wie gewerbliche Träger waren einig in dem Ziel, die Pflegeversicherung möglichst großzügig auszugestalten. Die Positionen von BPA, der Bundesarbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege und anderen Interessengruppen der privatwirtschaftlichen Altenpflege stimmten in wesentlichen Punkten mit denen der Wohlfahrtsverbände überein.
Am straffen Kostenrahmen änderte dies nicht viel. Die Durchsetzung des Teilkaskoprinzips in der Pflegeversicherung brach mit dem in der deutschen Sozialversicherung verankerten Grundsatz der Bedarfsdeckung. Ein erstes Stimmungsbild unter den Pflegeanbietern, das die Institute I+G Gesundheitsforschung und Infratest Burke Sozialforschung im Auftrag der Bundesregierung nur wenige Jahre nach der Reform erstellten, belegte die verbreitete Unzufriedenheit. Fast 60 Prozent der Befragten aus dem Bereich der ambulanten Pflegedienste meinten, dass die Leistungen nicht kostendeckend seien; nur 5 Prozent betrachteten sie als ausreichend. Die Kritik richtete sich unter anderem darauf, dass Zeitvorgaben zu knapp bemessen seien und Fahrtkosten nicht berücksichtigt würden, was vor allem im ländlichen Bereich zu Buche schlug.81 Bei den Heimanbietern sah es nicht anders aus. Knapp 40 Prozent beklagten, die Pflegeversicherung habe sich negativ auf ihre wirtschaftliche Situation ausgewirkt, und nur 9 Prozent äußerten sich durchweg positiv. Negativ bewerteten viele Heimbetreiber*innen, dass mit dem Gesetz der Verwaltungsaufwand immens gestiegen sei und die Entgelte nicht die Kosten decken würden.82
Die Pflegeversicherung belebte das Geschäft mithin nicht so, wie viele es sich gewünscht hatten. Profite waren nur mit dem Sozialstaat zu machen. Sah es zunächst so aus, als würden vor allem die hochpreisigen Heime boomen, erwies sich bald, dass dauerhaft vor allem solche Einrichtungen reüssierten, »wo viel Geld vom Staat, der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe hinfließt«.83 Dies galt für Einzelheime ebenso wie für kapitalstarke Anbieter. In den 1990er-Jahren agierten immer mehr Großunternehmen auf dem Pflegemarkt, einige davon als Aktiengesellschaften.84 Wie sehr auch Letztere auf sozialstaatlich garantierte Leistungen bauten, zeigt die Tatsache, dass etwa die 1981 in München gegründete Curanum AG ein eigenes Pflegesatzreferat unterhielt, das – so der Vorstandsvorsitzende Hans-Milo Halhuber 2003 – »in der Lage sei, den Krankenkassen als adäquater Partner gegenüberzustehen«.85 Solche Großunternehmen hatten die kritische Masse, um eigene Verwaltungseinheiten auszubilden. Privatisierung und Bürokratisierung griffen hier ineinander.
Auch der Erfolg ambulanter Pflegedienste hing vom Sozialstaat ab. Die Pflegeversicherung schuf nicht nur Leistungsempfänger*innen, sondern half, diese zu zahlungsfähigen und zahlungswilligen Kund*innen zu machen.86 Erst mit der Pflegeversicherung wurde es für viele Menschen zur Erfahrung, »feste Summen zur Verfügung« gestellt zu bekommen,87 die explizit für die Bezahlung von Tätigkeiten ausgewiesen waren, die bis dahin meist weibliche Familienmitglieder informell erbrachten, nämlich Menschen anzuziehen, zu waschen, zu füttern, zu wickeln oder aus dem Bett zu heben. Die sozialstaatlichen Leistungen regten dabei auch das Selbstzahlergeschäft an. 16 Prozent derjenigen Personen, die zu Hause lebten und Leistungen bezogen, so ein 1998 ermittelter Wert, gaben an, dass sie zusätzliche professionelle Hilfen kauften. Dies taten vor allem diejenigen, die sich im Rahmen der Pflegeversicherung ambulant oder teilstationär versorgen ließen.88 Die Pflegeversicherung trug dazu bei, die Einstellung in der Bevölkerung zur Pflege als Wirtschaftsgut, das einen Preis hat, zu verändern.
Der deutsche Pflegemarkt entwickelte sich schließlich in ungeahnte Richtungen, die gerade vielen gewerblichen Anbietern nicht gelegen kamen. Gemeint ist dabei ein bestimmtes Segment des Marktes, nämlich die Pflege durch Ausländer*innen, von denen die meisten illegal beschäftigt waren. Diese Form der Pflege, die im Schatten stattfand und sich deswegen der Dokumentation weitgehend entzog, lässt sich aus ebendiesem Grund schwer mit Quellen greifen. Dennoch finden sich Indizien, dass in den 1990er-Jahren die Nachfrage von Privathaushalten nach ausländischen Pflegekräften stieg.89 Eine Großrazzia der Frankfurter Staatsanwaltschaft im Jahr 2001 legte offen, dass die Beschäftigung ausländischer Pflegekräfte zu einem verbreiteten Modell geworden war. Die Durchsuchung von 350 Häusern und Wohnungen führte zu 200 Abschiebungen, denn die ausländischen Pflegekräfte hatten in der Regel keine Aufenthaltsgenehmigung. Empörte Pflegebedürftige und ihre ebenso erbosten Angehörigen fanden in der Tagespresse und in Fachbeiträgen Foren, um sich gegen das, was sie als Unrecht empfanden, zu wehren. Der Fernsehmoderator Frank Lehmann, der eine Frau aus der Slowakei beschäftigt hatte, um seinen Schwiegervater zu versorgen, machte sich zum prominenten Sprecher.90 Er und andere stellten die illegale Beschäftigung als alternativlos dar. Die Sorge um die Pflege ihrer älteren Angehörigen rechtfertigte es in den Augen vieler, die so handelten, die migrations-, steuer- und auch arbeitsrechtlichen Regeln zu brechen. In der Folge der medialen Debatte gab es – trotz vehementer Gegenwehr von Pflegediensten und Heimbetreiber*innen, die diese kostengünstige Konkurrenz fürchteten – migrationspolitische Lockerungen. So wurde die Anstellung von Ausländer*innen in der häuslichen Pflege erleichtert.91
Lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Einführung der Pflegeversicherung und der prekären Beschäftigung in der häuslichen Pflege feststellen? Mehrländervergleiche zeigen eine hohe Rate privat angestellter ausländischer Pfleger*innen in solchen Ländern, in denen Pflegebedürftige Geldleistungen anstelle oder in Kombination mit Sachleistungen erhalten. Voraussetzung ist, dass es keine Vorgaben gibt, dass Empfänger*innen die Verwendung nachweisen müssen. In Deutschland ist dies der Fall, ähnliches gilt für Italien, wo ein »Migrant in the Family«-Modell seit Anfang der 1980er-Jahre die Altenpflege dominiert. Im Gegensatz dazu steht England, wo Pflegebedürftige und ihre Angehörigen Gutscheine (Voucher) erhalten und Geldleistungen, deren Verwendung nachgewiesen werden muss. Die Zahl privat angestellter ausländischer Pfleger*innen ist dort vergleichsweise gering. Wer denkt, dies habe eher mit der geographischen Lage Englands als mit den Zugangsbedingungen zu Sozialleistungen zu tun, sei auf den Fall der Niederlande verwiesen. Im westlichen Nachbarland Deutschlands ist die prekäre Beschäftigung von Osteuropäer*innen in vielen Wirtschaftszweigen gängige Praxis, aber eben nicht in der Altenpflege. Geldleistungen aus der Pflegeversicherung sind wie in England nachweispflichtig.92
Mit der Pflegeversicherung in Deutschland war also nicht nur ein Wohlfahrtsmarkt entstanden, sondern mit Blick auf die privat und meist illegal angestellten Ausländer*innen ein Pflegemarkt, auf dem sozialstaatliche Leistungen zwar die Nachfrage ankurbelten, aber der Staat kaum reglementierend eingriff. Blickt man auf diesen Aspekt, so reichte die Dynamik der Vermarktlichung der Altenpflege im deutschen Fall weiter als in England.
In einer der ersten OECD-Publikationen zum Thema Altenpflege hieß es 1996: »There is a growing concern about the future provision of care for elderly people who are frail or disabled. This is a marked departure from debates about welfare policies as recently as the early 1980s. OECD countries did not, for example, highlight this as a significant problem during a conference in 1980 on ›The Welfare State in Crisis‹.«93 Der Leiter der Abteilung Sozialpolitik innerhalb der OECD, Patrick Hennessy, machte keinen Hehl daraus, wie sehr er selbst und seine Mitarbeiter*innen das Risiko der Pflegebedürftigkeit im Alter unterschätzt hatten. Die von ihm in den folgenden Jahren initiierten Publikationen dokumentierten, welche unterschiedlichen Reformpfade die einzelnen Länder nun beschritten – darunter prominent auch England und die Bundesrepublik Deutschland. Anders als im Falle der Privatisierung der Alterssicherung,94 für die Studien die Bedeutung internationaler Organisationen als Impulsgeber belegt haben, erschließen sich die Anfänge der Ökonomisierung in der Altenpflege besonders, wenn man auf die nationale, die regionale oder lokale Ebene blickt. Manchmal finden sich Antworten erst im Kosmos einzelner Heime und Pflegedienste.
Welche Thesen lassen sich über den Prozess der Privatisierung, den Pflegemarkt und die marktschaffenden Gesetze der 1990er-Jahre formulieren? Welche Erkenntnisse gewinnen wir durch den Blick auf die privaten, gewinnorientierten Anbieter, der in diesem Beitrag eröffnet wurde? Die Zahl gewerblicher Pflegeanbieter stieg nicht nur in England seit den 1980er Jahren; in Deutschland zeigte sich bereits vor Einführung der marktschaffenden Pflegeversicherung von 1995 ein ganz ähnlicher Trend. Dies ist umso interessanter, weil es anders als dort zunächst keine Gesetzesänderungen gab, die eine Privatisierung begünstigt hätten. Vielmehr mussten stationäre und ambulante Anbieter häufig mit Ablehnung von Seiten der Krankenkassen und Sozialämter rechnen, wenn es um die Bezahlung ihrer Leistungen ging. Eine dezidiert marktschaffende Politik gab es in Deutschland also bis zur Pflegeversicherung nicht.
Zudem wird deutlich, dass der privatwirtschaftliche Sektor heterogen war und sich dies in beiden Ländern im Untersuchungszeitraum noch verstärkte. Neben einzelne kleine Einrichtungen, viele davon familiengeführt, rückten große Pflegeunternehmen, die mehrere Heime in verschiedenen Städten und sogar über nationale Grenzen hinweg betrieben. In Deutschland eröffnete sich mit der ambulanten Pflege ein Geschäftsfeld, auf dem sich Kranken- und Altenpfleger*innen allein oder mit nur wenigen Mitarbeiter*innen selbstständig machen konnten. Die Privatisierung der ambulanten Altenpflege, die sich bereits in den 1980er-Jahren beobachten lässt, resultierte unter anderem aus berufsbiographischen Entscheidungen.
Ein Heim zu übernehmen oder einen Pflegedienst zu gründen war in England wie in der Bundesrepublik Deutschland mitunter eher Notbehelf als lukratives Geschäft. Der Privatisierungsschub in den 1980er-Jahren basierte zu einem nicht geringen Teil auf prekärem Klein- und Kleinstunternehmertum. Die Privatisierung und Vermarktlichung der Altenpflege ging mit einer Zunahme unsicherer Arbeit und prekärer Wirtschaft einher. Dieser Befund gilt für den liberal verfassten Wohlfahrtsstaat England ebenso wie für den konservativ-korporatistischen Sozialstaat Deutschland.
Die zeithistorische Perspektive auf die Schaffung des Pflegemarktes hebt überdies einmal mehr hervor, dass es zu keiner Entflechtung von Politik und Ökonomie kam. Der von Politik- und Sozialwissenschaftler*innen geprägte Begriff »Wohlfahrtsmix«95 bedarf indes einer zeitlichen Entwicklungsdimension. Öffentlicher, gemeinnütziger und privatwirtschaftlicher Sektor waren miteinander verflochten, ja ineinander verwachsen. Dies offenbart sich in England, wo die Pflegeunternehmen ihre betrieblichen Immobilien den Local Authorities abkauften. In Deutschland hingegen waren es die in Schulen der Wohlfahrtsverbände und des Staates umfassend ausgebildeten Kranken- und Altenpfleger*innen, die, nachdem sie jahrelang für staatliche oder gemeinnützige Anbieter gearbeitet hatten, das ambulante Altenpflege-Gewerbe begründeten.
Zuletzt ist festzuhalten: Die marktschaffenden Gesetze der 1990er-Jahre, der National Health Service and Community Care Act und das Pflegeversicherungsgesetz, wirkten sich jeweils unterschiedlich auf den gewerblichen Sektor aus. In England profitierten große Pflegeunternehmen, während die Neuerungen für kleinere Heime häufig das »Aus« bedeuteten. In Deutschland belebten die Reformen die Anbieterkonkurrenz weit mehr, als es vielen Anbietern (auch gewerblichen) recht war. Die Empfänger*innen der Pflegeleistungen und ihre Angehörigen machten von den Wahlmöglichkeiten Gebrauch und nutzten die monatlichen Geldbeträge für einen Markt, der sich staatlicher Kontrolle vielfach entzog: Es entstand eine Schattenwirtschaft der Pflege, die auf den Schultern von meist schlecht bezahlten Ausländer*innen lastete. Während Soziolog*innen deren gegenwartsnahe Ausprägungen mittlerweile intensiv erforschen, sind es Historiker*innen, die den zeitlichen Entstehungskontext beleuchten und längere Linien verfolgen. So kann gezeigt werden, wie sozialpolitische Entscheidungen und gesellschaftliche Vorstellungen von Pflege die Herausbildung eines solchen »grauen« Wohlfahrtsmarktes begünstigten. Gerade jetzt ist ein historischer Blick wichtiger denn je, denn die Corona-Pandemie hat die Situation der Altenpflege in ein grelles Licht gerückt und den Handlungsdruck auf Politiker*innen enorm erhöht. Entscheidend wird sein, ob sich diese temporär verstärkte Aufmerksamkeit für Reformen nutzen lässt, die dem Ursprung und dem Werden des Pflegemarktes hinreichend Rechnung tragen, um zukunftsfähig zu sein.
Anmerkungen:
1 Startseite der Website von Little Oaks Residential Home: <http://www.little-oaks.com/index.php>.
2 Siehe etwa Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; Philipp Ther, Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation, Berlin 2019.
3 Vgl. zur geschichtswissenschaftlichen Perspektive v.a. Matthieu Leimgruber, The Historical Roots of a Diffusion Process: The Three-Pillar Doctrine and European Pension Debates (1972–1994), in: Global Social Policy 12 (2012), S. 24-44; Hans Günter Hockerts, Vom Wohlfahrtsstaat zum Wohlfahrtsmarkt. Privatisierungstendenzen im deutschen Sozialstaat, in: Norbert Frei/Dietmar Süß (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 70-87; Martin Gorsky, ›Searching for the People in Charge‹: Appraising the 1983 Griffiths NHS Management Inquiry, in: Medical History 57 (2013), S. 87-107; Martin Lengwiler, Versicherungen und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, in: Rüdiger Graf (Hg.), Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte, Göttingen 2019, S. 166-187.
4 Vgl. Rüdiger Graf, Einleitung. Ökonomisierung als Schlagwort und Forschungsgegenstand, in: ders., Ökonomisierung (Anm. 3), S. 9-25, hier S. 19f.
5 Zum Begriff der Vermarktlichung und des Wohlfahrtsmarktes vgl. Julian Le Grand, Quasi-Markets and Social Policy, in: Economic Journal 101 (1991), S. 1256-1267, hier S. 1257; Colin Crouch, Marketization, in: Matthew Flinders u.a. (Hg.), The Oxford Handbook of British Politics, Oxford 2009, S. 878-895, hier S. 878.
6 Dies im Anschluss an Timo Luks, Prekarität. Eine nützliche Kategorie der historischen Kapitalismusanalyse, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 51-80, hier S. 79.
7 Hans Günter Hockerts, Einführung, in: ders./Winfried Süß (Hg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010, S. 9-18, hier S. 15.
8 Dazu Dominik Geppert, »Englische Krankheit«? Margaret Thatchers Therapie für Großbritannien, in: Frei/Süß, Privatisierung (Anm. 3), S. 51-68; Cornelius Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015, S. 405.
9 Peter Townsend, The Last Refuge. A Survey of Residential Institutions and Homes for the Aged in England and Wales, London 1962.
10 Local Authorities sind kommunale Regierungs- und Verwaltungseinheiten, die stärker als bundesdeutsche Städte und Gemeinden von der zentralstaatlichen Ebene abhängig sind. Vor allem zu Zeiten der Regierung Margaret Thatchers erlebten sie einen Autonomieverlust, d.h. ihre Zuständigkeiten wurden beschnitten und ihre Möglichkeiten der Eigenfinanzierung beschränkt. Den Local Authorities oblag und obliegt die Bereitstellung vieler sozialer Dienste in den Bereichen Erziehung, Bildung, Fürsorge und Pflege (für das Gesundheitswesen ist jedoch der National Health Service zuständig). Vgl. Keith Robbins, Local Self-Government in Britain since 1945: Inexorable Decline?, in: Adolf M. Birke/Magnus Brechtken (Hg.), Kommunale Selbstverwaltung – Local Self-Government. Geschichte und Gegenwart im deutsch-britischen Vergleich, München 1996, S. 97-104.
11 Interview mit der Eigentümerin eines Heimes in Burnham on Sea, Somerset am 24.7.1959, UK Data Archive 4750 (The Last Refuge).
12 Interview mit dem Eigentümer eines Heimes in Blackpool am 22.4.1959, UK Data Archive 4750 (The Last Refuge); Interview mit der Eigentümerin eines Heimes in Bath am 25.3.1959, ebd.
13 Townsend, Last Refuge (Anm. 9), S. 187f.
14 National Assistance Act 1948, Part IV, S. 37-40.
15 Vgl. dazu Mayumi Hayashi, The Care of Older People. England and Japan, A Comparative Study, London 2013, S. 84.
16 Office of Population Censuses and Surveys (OPCS), Population Trends Nr. 52 (1988), S. 41; OPCS, Population Trends Nr. 73 (1993), S. 46.
17 Zur Zirkulation neoliberaler Ideen in England sowie den Netzwerken zwischen Intellektuellen, Wirtschaftsvertretern und Politikern vgl. Ben Jackson, The Think-Tank Archipelago: Thatcherism and Neo-Liberalism, in: ders./Robert Saunders (Hg.), Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 43-61.
18 Allgemein zur Privatisierungs- und Sozialpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre: Andrew Marr, No Such Thing as Society. A History of Britain in the 1980s, London 2011, S. 81-98.
19 Matthew Francis, ›A Crusade to Enfranchise the Many‹: Thatcherism and the ›Property-Owning Democracy‹, in: Twentieth Century British History 23 (2012), S. 275-297. Vgl. auch Sina Fabian, »Popular Capitalism« in Großbritannien in den 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 273-295, hier S. 275-279.
20 Robert Means/Hazel Morbey/Randall Smith, From Community Care to Market Care. The Development of Welfare Services for Older People, Bristol 2002, S. 111; Hayashi, Care of Older People (Anm. 15), S. 83-90.
21 Means/Morbey/Smith, From Community Care to Market Care (Anm. 20), S. 65.
22 Stewart Player/Allyson M. Pollock, Long-Term Care: From Public Responsibility to Private Good, in: Critical Social Policy 21 (2001), S. 231-255, hier S. 234.
23 David R. Phillips/John A. Vincent, Private Residential Accommodation for the Elderly: Geographical Aspects of Developments in Devon, in: Transactions of the Institute of British Geographers 11 (1986), S. 155-173, hier S. 159; Saul Estrin/Virginie Pérotin, Privatisation by Default? Old Age Homes in Britain and France, Welfare State Programme Research Note No 11, 1988, S. 13.
24 Hansard, House of Commons, Renée Short, 9.7.1986, col. 318.
25 Laing and Buisson Publications, Care of Elderly People Market Survey, London 1994.
26 So etwa die Labour-Abgeordnete Harriet Harman; vgl. Hansard, House of Commons, 13.3.1986, col. 1146.
27 Chris Hamnett/Beverley Mullings, The Distribution of Public and Private Residential Homes for Elderly Persons in England and Wales, in: Area 24 (1992), S. 130-144, hier S. 137f.
28 Vgl. Gorsky, ›Searching for the People in Charge‹ (Anm. 3), S. 89.
29 Means/Morbey/Smith, From Community Care to Market Care (Anm. 20), S. 42-44.
30 David Phillips/John Vincent/Sarah Blacksell, Home from Home? Private Residential Care in Devon, Sheffield 1988, S. 38.
31 Selina Todd, The People. The Rise and Fall of the Working Class, London 2015, S. 320.
32 Sina Fabian, Boom in der Krise. Konsum, Tourismus und Autofahren in Westdeutschland und Großbritannien, Göttingen 2016, S. 128, S. 134.
33 Duncan Larder/Patricia Day/Rudolph Klein, Institutional Care for the Elderly. The Geographical Distribution of the Public/Private Mix in England, Bath 1986.
34 Phillips/Vincent/Blacksell, Home from Home? (Anm. 30), S. 44-46.
35 David R. Phillips/John A. Vincent, Petit Bourgeois Care: Private Residential Care for the Elderly, in: Policy and Politics 14 (1986), S. 189-208.
36 Vgl. z.B. Margaret Thatchers Interview für die »Times« am 3.5.1983, URL: <https://www.margaretthatcher.org/document/105091>; Hansard, House of Commons, William Cash, 21.6.1985 (Small Firms), col. 594.
37 Vgl. Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Erfahrungen in der Ausführung des § 38 Satz 1 Nr. 10 und Satz 2 der Gewerbeordnung (Altenheime), Deutscher Bundestag, Drucksache 5/4122, 21.4.1969.
38 Ebd.
39 Bundesverband privater Alten- und Pflegeheime an das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, 3.3.1973, Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages (PA-DBT) VII/176 B I.
40 Kristina Matron, Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945 bis 1985, Stuttgart 2017, S. 120f., S. 204f.
41 Helmut Hartmann, Neue Erscheinungsformen privater Pflegedienste und Pflegestellen für ältere Menschen, Köln 1985.
42 Ulrich Schneekloth/Udo Müller, Wirkungen der Pflegeversicherung. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Baden-Baden 2000, S. 89-91.
43 Gegen private Altenheime, in: Frankfurter Rundschau, 27.5.1971, PA-DBT VII/176 B I.
44 Vgl. Ernst Klee, Geschäfte mit Alten, in: ZEIT, 27.10.1972.
45 Reiche Ernte, in: Spiegel, 9.12.1968, S. 105-108; Produktionsakte der Sendung »Geschäft mit dem Alter« im ZDF-Magazin vom 30.6.1971. Für die Zusendung des Dokuments danke ich dem ZDF-Unternehmensarchiv. »Wehrlose menschliche Ware«, in: Spiegel, 11.3.1974, S. 65-70.
46 Allgemein zur moralischen Wertung verschiedener Formen der Wohlfahrtsproduktion und dazu, wie sich solche Zuschreibungen im Lauf der Zeit veränderten, vgl. John Offer, An Intellectual History of British Social Policy. Idealism versus Non-Idealism, Bristol 2006, S. 1-10.
47 Friederike Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes, München 2007, S. 307, S. 331.
48 Vgl. dazu Dorothee Lürbke, Armut und Armutspolitik in der Stadt: Castrop-Rauxel, Freiburg und Schwerin im innerdeutschen Vergleich, 1955 bis 1975, phil. Diss. Freiburg 2014, S. 187f., S. 212.
49 Gegen private Altenheime (Anm. 43).
50 Todesfälle vor dem Landtag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.1971, S. 39; Hohe Todesrate und viele Fragezeichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.5.1971, S. 10; Gindorf stundenlang verhört, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.5.1971, S. 26.
51 Bericht der Bundesregierung (Anm. 37), S. 8.
52 Gesetz über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime für Volljährige (Heimgesetz – HeimG), in: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 91 vom 14.8.1974, S. 1873-1877.
53 Z.B. Öffentliche Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege Norddeutschland, »Auf dem Rücken der Patienten«: Über die Krankenkassenwillkür in der häuslichen Krankenpflege, 7.9.1992, PA-DBT XII/337 A 4.
54 Hartmann, Neue Erscheinungsformen (Anm. 41), S. 6f.
55 Bundesverband privater Alten- und Pflegeheime an das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, 3.3.1973, PA-DBT VII/176 B I; vgl. Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, 40 Jahre BPA. 40 Jahre private Altenpflege, Berlin 2004, S. 58, S. 80.
56 Wolfram Birkenfeld, Hilfsbedürftigkeit als Rechtsproblem, in: UmsatzsteuerRundschau 66 (2017), S. 865-875. Vgl. auch 40 Jahre BPA (Anm. 55), S. 100f. »Hilfsbedürftigkeit« meinte bis 2009 wirtschaftliche Hilfsbedürftigkeit und Pflegebedürftigkeit. Seither spielt die wirtschaftliche Situation einer Person keine Rolle mehr, sondern nur die Hilfsbedürftigkeit aufgrund körperlicher und geistiger Einschränkungen.
57 Holger Backhaus-Maul/Thomas Olk, Von Subsidiarität zu »outcontracting«: Zum Wandel der Beziehungen von Staat und Wohlfahrtsverbänden in der Sozialpolitik, in: Wolfgang Streeck (Hg.), Staat und Verbände, Opladen 1994, S. 100-135, hier S. 126f.
58 40 Jahre BPA (Anm. 55), S. 36, S. 38.
59 Stellungnahme des Bundesverbandes privater Alten- und Pflegeheime, 15.3.1973, PA-DBT VII/176 A 2.
60 Dieter Bögenhold, »Alternative« Wirtschaft oder Atoll des Kleinunternehmertums? Rückblick auf ein soziologisches Konstrukt, in: Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S. 223-236, hier S. 225.
61 Ursula Zawada, Freiberufliche Krankenpflege – Kreativer Neuanfang oder Flucht aus den Institutionen?, Düsseldorf 1989, S. 65f.
62 Bögenhold, »Alternative« Wirtschaft (Anm. 60), S. 224.
63 Vgl. z.B. die geschilderten Einzelfälle in: Hartmann, Neue Erscheinungsformen (Anm. 41), S. 110-112.
64 Zur Ubiquität unsicherer Arbeit vgl. Nicole Mayer-Ahuja, Die Globalität unsicherer Arbeit als konzeptionelle Provokation. Zum Zusammenhang von Informalität im »Globalen Süden« und Prekarität im »Globalen Norden«, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 264-296, hier S. 281.
65 Private Alten- und Krankenpflege, in: Altenpflege, September 1981, S. 326-328; Hartmann, Neue Erscheinungsformen (Anm. 41), S. 48-51.
66 1998 schlossen sich der BPA, die Arbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege e.V. und der Verband ambulanter Krankenpflege-Dienste e.V. zusammen; sie firmierten fortan unter dem Namen »Bundesverband privater Alten- und Pflegeheime und ambulanter Dienste e.V.« (bpa). Später erfolgte die Umbenennung in »Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V.«.
67 »Notstand in den Familien«, in: Spiegel, 21.10.1991, S. 114-132, hier S. 123.
68 Vgl. Gorsky, ›Searching for the People in Charge‹ (Anm. 3), S. 89.
69 Means/Morbey/Smith, From Community Care to Market Care (Anm. 20), S. 130-135.
70 Johannes Frerich/Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993, 2. Aufl. 1996, S. 378.
71 Vgl. zur Pflegeversicherung ausführlich Gerhard Igl, Die Entstehung der sozialen Pflegeversicherung und ihre Konsequenzen, in: Gerhard A. Ritter (Hg), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11: Bundesrepublik Deutschland 1989–1994. Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung, Baden-Baden 2007, S. 694-717.
72 Laing and Buisson Publications, Care of Elderly People Market Survey, London 2000.
73 Ebd. Zur Situation in der ambulanten Pflege vgl. Tihana Matosevic u.a., Domiciliary Care Providers in the Independent Sector. PSSRU (= Personal Social Services Research Unit) Discussion Paper 1605, 2001, S. 1. Dennoch waren 1999 nach wie vor 51 Prozent der ambulanten Pflege in der Hand öffentlicher Anbieter. Fast die Hälfte aller gewerblichen Pflegedienste war erst nach 1993 gegründet worden.
74 Lengwiler, Versicherungen (Anm. 3), S. 186f.
75 Tony C., Eigentümer von Dunard Nursing Home, an Royal Commission on Long Term Care for the Elderly, 5.1.1998, National Archives, MH 154/972. Vgl. auch South Pembrokeshire Home & Day Care Consortium an Royal Commission on Long Term Care for the Elderly, 9.1.1998, National Archives, JA 1/30.
76 Gavin J. Andrews/David R. Phillips, Changing Local Geographies of Private Residential Care for Older People 1983–1999: Lessons for Social Policy in England and Wales, in: Social Science & Medicine 55 (2002), S. 63-78.
77 Laing and Buisson Publications, Healthcare Market Review, London 1999–2000.
78 Chris Holden, British Government Policy and the Concentration of Ownership in Long-Term Care Provision, in: Ageing & Society 22 (2002), S. 79-94.
79 Stenographisches Protokoll der 86. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages, 17.9.1993, S. 93, PA-DBT XII/337 A 4.
80 Ebd., S. 89.
81 Schneekloth/Müller, Wirkungen der Pflegeversicherung (Anm. 42), S. 117-122. Die veröffentlichten Ergebnisse der Erhebung differenzieren nicht nach gemeinnützigen, öffentlichen oder gewerblichen Trägern. Die Autoren deuten aber an, dass es kaum Unterschied zwischen den einzelnen Sektoren gab und dass lediglich die öffentlichen Träger etwas weniger von einer verschlechterten Finanzlage sprachen.
82 Ebd., S. 185-187.
83 Zitate aus: Selbstläufer Luxus-Altenpflegeheime kommt ins Straucheln, in: Ärzte Zeitung, 26.2.2002, S. 17. Vgl. auch Birgit Ochs, Keine Selbstläufer, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4.8.2002, S. V11.
84 Darunter waren Unternehmen wie die 1984 gegründeten Marseille-Kliniken (seit 2015: MK-Kliniken AG), die sich anfangs auf Altenpflege konzentriert hatten und in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wuchsen, indem sie vormals staatlich betriebene Heime in den neuen Bundesländern aufkauften. Der Börsengang erfolgte 1996.
85 Curanum zahlt zehn Prozent Dividende, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2003, S. 17.
86 Stellungnahme des Berufsverbandes Hauskrankenpflege in Deutschland e.V., 22.8.1993, PA-DBT XII/337 A 4.
87 Reiner Dickopf, Die Alterspyramide kippt – Senioren werden zu einer umkämpften Zielgruppe, in: Frankfurter Rundschau, 18.12.1999, S. 13.
88 Schneekloth/Müller, Wirkungen der Pflegeversicherung (Anm. 42), S. 75. Rund 51 Prozent der Personen in teilstationärer Pflege und 25 Prozent derjenigen, die ambulante Sachleistungen bezogen, finanzierten sich zusätzliche Hilfen. Hingegen taten dies nur 11 Prozent derjenigen, die Geldleistungen bezogen.
89 Hanns Mattes, »Fast alle Pflegehilfen werden illegal beschäftigt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung – Rhein-Main, 11.8.2003, S. 39f.; Stefan Hof, Illegal Beschäftigte in der häuslichen Pflege, in: Dr. med. Mabuse 133 (2001), S. 16-17. Vgl. zur Lebens- und Arbeitssituation illegal beschäftigter Ausländer*innen in der Altenpflege in Privathaushalten die Ergebnisse einer der ersten Studien, die auf Wissen aus Interviews und teilnehmender Beobachtung basiert: Jörg Alt, Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex »illegale« Migration, Karlsruhe 2003, S. 122-124.
90 Vgl. z.B.: Fernsehmann Frank Lehmann hat mit seiner Initiative ein gesellschaftliches Problem offen gelegt, in: Frankfurter Rundschau, 19.1.2002, S. 26.
91 Harald Hohmann, Beschäftigung ausländischer Pflegekräfte. Reformbedarf und bisherige Schritte des Gesetzgebers, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 35 (2002), S. 252-255.
92 Franca J. van Hooren, Varieties of Migrant Care Work: Comparing Patterns of Migrant Labour in Social Care, in: Journal of European Social Policy 22 (2012), S. 133-147, hier S. 141f.
93 OECD, Caring for Frail Elderly People. Policies in Evolution, Paris 1996, S. 13.
94 Leimgruber, The Historical Roots (Anm. 3).
95 Adalbert Evers/Thomas Olk, Wohlfahrtspluralismus – Analytische und normativ-politische Dimensionen eines Leitbegriffs, in: dies. (Hg.), Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Opladen 1996, S. 9-60.