Aldous Huxley, Brave New World. A Novel, London: Chatto & Windus/Garden City: Doubleday, Doran/New York: Harper & Row 1932 (und zahllose weitere Auflagen, Ausgaben und Übersetzungen).
Als Thomas Morus 1516 seine Geschichte jener fernen Insel veröffentlichte, deren soziale Ordnung das exakte Gegenteil seiner englischen Heimat darstellte, prägte er mit dem Namen dieser Insel – Utopia – einen der einflussreichsten Begriffe der Neuzeit: ein griechisches Kunstwort, das wörtlich ‚Nicht-Ort‘ bedeutet und seitdem immer dort gebraucht wird, wo eine ideale Welt in möglichst radikaler Differenz zur erfahrbaren Wirklichkeit beschrieben wird. Ob auch Morus die von ihm beschriebene Insel als ein Ideal ansah oder sie nur zum Zwecke der Verfremdung seiner Gesellschaftskritik entwarf, ist umstritten. Seitdem aber und bis heute hat der Begriff der Utopie fast ausschließlich die Bedeutung eines so idealen wie irrealen Gesellschaftszustands, dessen konkrete Merkmale natürlich von der jeweiligen Entstehungszeit der Utopie geprägt sind.
Im 18. Jahrhundert kam noch etwas Entscheidendes hinzu: Die Utopien wurden selber verzeitlicht. Spätestens mit Louis-Sébastien Merciers „L’An 2440“ wurde aus dem ‚Nicht-Ort‘ ein ‚Noch-Nicht-Ort‘. Die Realisierbarkeit des Utopischen, bis dahin bestenfalls Thema systematisch-theoretischer Diskussionen, wurde nun eine Sache der zeitlichen Spekulation. Utopien wurden als mögliche Zukunftsprognosen lesbar, und schon die frühsozialistischen Varianten des 19. Jahrhunderts lieferten die Begründungen und Methoden ihrer eigenen Realisierung gleich mit. Die Utopie war jetzt fast untrennbar mit der Idee des Fortschritts verknüpft. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dann auch die Umkehrung gedacht: dass der Fortschritt ein Rückschritt, der Weg zum Ideal der falsche oder das Ideal selber falsch sein könnte. Damit verlor das Utopische seinen Idealgehalt. Er begann bereits zu schrumpfen, als man eine zukünftige Realisierbarkeit der Utopie annahm, und wurde schließlich ganz vom prognostischen Denken geschluckt, als auch eine negative Entwicklung möglich schien. An die Stelle der klassischen Utopie trat jetzt die Science Fiction.
In eben dieser Phase prägte John Stuart Mill einen neuen Begriff, der die Idee der Utopie seitdem begleitet, sie in gewisser Weise sogar ersetzt hat: Dystopia – ebenfalls ein Kunstwort, das wörtlich ‚Un-Ort‘ bedeutet. Seitdem werden Zukunftsentwürfe, die sich der Form und bestimmten Motiven nach an der klassischen Utopie orientieren, aber eine eigentlich unerwünschte, meist von Unfreiheit und totaler Kontrolle geprägte Gesellschaft entwerfen, Dystopien genannt. Und Aldous Huxleys „Brave New World“ ist – neben George Orwells „1984“ – die wohl bekannteste der modernen Dystopien.
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Schon das Motto des russischen Philosophen Nikolai Berdjajew, das Huxley seinem 1932 erschienenen Roman voranstellte, zeugt von dieser nochmaligen Umkehr des klassischen Utopie-Gedankens: Nachdem sich die Utopien als realisierbar erwiesen hätten, so Berdjajew, bestehe die neue Aufgabe der Intellektuellen nun darin, ihre Verwirklichung zu verhindern. Eben das betrachtete Huxley anfänglich als die entscheidende Funktion seines Romans: Durch die überzeichnete Projektion gegenwärtiger Tendenzen der Gesellschaftsentwicklung in eine Zukunft, die so niemand wollen kann, sollte eben diese Zukunft verhindert werden. Doch schon im Vorwort zur zweiten Auflage von 1946 rückte er von dieser Position wieder ab und diskutierte stattdessen – nach den Erfahrungen der 1930er- und 1940er-Jahre – die prognostische Kraft seines eigenen Werks. Nicht ohne einen gewissen Stolz stellte er fest, dass die einzige Fehleinschätzung seines Romans darin liege, die dort entworfene Gesellschaft zu weit in die Zukunft verlegt zu haben. Faktisch sei ihre Realisierung schon längst im Gang.
Und in der Tat: Der Roman entwirft an keiner Stelle eine Welt, die nicht als Hochrechnung der Technik, Wissenschaft und Gesellschaftstheorie der späten 1920er-Jahre erkennbar wäre. Die Alterität der Brave New World beschränkt sich auf eine im Grunde nur quantitative und einseitige Steigerung der Strukturverhältnisse der ‚klassischen Moderne‘: Eine strikte Klassengesellschaft (Alphas, Betas, Gammas, Deltas und Epsilons), zusammengehalten durch technologisch perfektionierte Formen des Social Engineering, in der jeder mit exakt dem Leben glücklich ist, das ihm genetisch, biochemisch, psychologisch, pädagogisch und technologisch vorgegeben wird; eine Gesellschaft, deren einziges ‚Außen‘ in kolonial verwalteten Reservaten der Unzivilisiertheit besteht; eine Gesellschaft, die das Prinzip der freien Liebe verwirklicht, indem sie die Sexualität von der Reproduktion entkoppelt und den Nachwuchs künstlich erzeugt; und schließlich eine Gesellschaft, deren Architektur, Unterhaltung und Verkehr perfekt im Sinne der Erhaltung der gesamtgesellschaftlichen Ordnung funktionieren. Kurz: eine Gesellschaft, wie sie von vielen Sozialreformern und Gesellschaftstechnologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenfalls hätte entworfen werden können – aber keineswegs als Schreckbild, sondern als fast utopisches Ideal.1
Allein die ‚Geschichte‘, die der Roman erzählt, weist ihn als eine Dystopie aus und kreist um die eine große Sache, die laut Huxley in einer solchen Gesellschaft unweigerlich zerstört wird: Individualität. Alle Hauptpersonen weisen im Verlaufe des Romans bestimmte Eigenschaften auf, die nicht recht zu ihrer ursprünglichen perfekten Prägung (conditioning) passen wollen. Lenina, eine perfekte Alpha-Frau, ertappt sich dabei, länger mit einem Partner zusammen zu sein als üblich, und verliebt sich schließlich in einen unzivilisierten Wilden aus dem Reservat. Mustapha Mond, einer der zehn Weltaufsichtsräte, besitzt eine riesige Sammlung verbotener Literatur. Bernard Marx ist zwar ein Alpha, leidet aber dennoch an einem ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex. Und der Direktor der Brut- und Normierungszentrale hat in der Vergangenheit auf einer Reise ins Reservat mit seiner Beta-Sekretärin auf natürliche Weise ein Kind gezeugt – und beide im Reservat gelassen. Alle Protagonisten sind perfekte und hochstehende Mitglieder der Gesellschaft, zugleich aber mit einem individuellen Makel bzw. mit dem Makel der Individualität behaftet. Das Verhältnis und der Konflikt zwischen diesen Mängeln und der ganz aufs Kollektive ausgerichteten Gesellschaftsordnung treiben die Geschichte voran.
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Der einzige, der aus einer scheinbaren Außenwelt kommt, ist John, der inzwischen erwachsene Sohn des Direktors, der mit seiner Mutter von Lenina und Bernard im Reservat entdeckt und in die Hauptstadt gebracht wird, wo er unter dem Namen „Mr. Savage“ exotische Berühmtheit erlangt. Er kennt die Zivilisation nur aus Erzählungen seiner Mutter. Geprägt ist er einerseits durch eine Mischung aus indianischer und christlicher Kultur, anderseits durch die Lektüre Shakespeares, dessen eigentlich verbotene Werke er schon als Kind im Reservat gefunden und gelesen hat. Entsprechend ist er es auch, der den Shakespeare entlehnten Titel des Romans zitiert, als er zum ersten Mal in die ‚schöne neue Welt‘ kommt.2 Seine anfängliche Begeisterung weicht schnell einer großen Skepsis gegenüber dieser Zivilisation. Nur für Lenina empfindet er eine tiefe Liebe, die aber in Entsetzen und Gewalt umschlägt, als Lenina sich ihm, wie sie es gewohnt ist, ohne Umschweife hingeben will. Auch Johns Mutter kann sich nicht mehr an ihre alte/neue Welt gewöhnen und überlässt sich ganz der Alltagsdroge ‚Soma‘. Nach kurzer Zeit stirbt sie in Johns Beisein, der anschließend in einem Wutanfall Soma-Vorräte zerstört. Der Weltaufsichtsrat muss eingreifen. Er erklärt John, dass weder Gott und Geist noch Shakespeare und Individualität in der neuen Welt akzeptiert werden können, und schickt ihn in die Provinz. Dort, in einem Leuchtturm wohnend, will John sein altes Reservatsleben führen. Doch er kann Lenina nicht vergessen und beginnt, sich regelmäßig selber mit einer Geißel zu schlagen. Journalisten wollen über dieses abnorme, archaische Verhalten berichten, doch als sie in die Wohnung im Leuchtturm eindringen, hat sich John erhängt. Es herrschen jetzt wieder ungestört die Leitwerte der Brave New World: „Gemeinschaft, Identität, Stabilität“.
Dem Roman ist unverkennbar die Logik zweier Grundkonflikte eingeschrieben, die das soziale und politische Denken der 1920er-Jahre prägten: zum einen der Ost-West-Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit bzw. Individualität und Kollektivität; zum anderen der ideologiegeschichtlich ältere, aber um 1930 noch höchst virulente Konflikt zwischen Zivilisation und Kultur. Dem in abschreckend einseitiger Übertreibung gezeichneten Gemeinschafts- und Gleichheitsregime der ‚neuen Welt‘ stellt Huxleys Tragödie die Werte der Freiheit und Individualität entgegen. Zugleich bilden indianischer Kult, christliche Überlieferung und Shakespeare, also: Tradition, Religion und Geist, verkörpert in der Figur des empfindsamen und gebildeten ‚Wilden‘ John, die zwar scheiternden, aber umso positiveren Gegenkräfte zu einer kalten, abgestumpften und durchrationalisierten Zivilisation.
Damit richtet sich Huxleys Kritik an den modernen, realisierbar gewordenen Utopien auf ihre technologische Zerstörung metaphysischer Traditionen. Insbesondere die Geschichte Johns illustriert die Lehre, dass der totale Weltstaat individuelle Freiheit negiert, weil er jede metaphysische Tradition verbietet und an ihre Stelle das künstliche Glück der Massenunterhaltung und des Drogenkonsums setzt.
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An der Realität der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts geht das deutlich vorbei. Sie kamen weder ohne Invented Traditions aus noch ohne die systematische Bereitstellung von Räumen kreativ-individueller Mitarbeit am Ganzen. Gerade aus der Verbindung modernen technologischen und metaphysischen Denkens bezogen sie ihre zerstörerische Dynamik. Für Huxley dagegen war alles Künstliche, Klinische und oberflächlich Unterhaltende eine Zerstörung der Menschlichkeit. Sogar Theodor W. Adorno, der selber in so manchen Aspekten der modernen Kulturindustrie den Untergang des Abendlandes witterte, ließ diese Art der Modernitätskritik nicht gelten: „Nicht daß der Kaugummi der Metaphysik schadet, sondern daß er im Gegenteil selbst Metaphysik ist, gilt es klarzumachen.“3
Vor diesem Hintergrund und da Huxley bis heute, zumal in Deutschland, klassische Schullektüre ist, verwundert es nicht, dass sogar unter jüngeren Studierenden der Geschichte das Bild moderner Totalitarismen deutlich von demjenigen der Brave New World geprägt ist: strikte Hierarchie, vollständige Kontrolle, systematische Verschleierung und vollständige Aufhebung jeder Individualität und Freiheit. Vergessen wird, dass kein moderner Totalitarismus funktionieren könnte, wäre er nur das. Dem Rückblick auf ideologische Funktionen wird die Vorstellungskraft dafür geopfert, welche Entfaltungs-, Karriere- und Erfolgsversprechen totalitäre Regime für diejenigen bereithalten, die ihre Individualität und Freiheit mit den Interessen des Regimes verknüpfen. So wie Huxley, gerade in der Differenz zur Individualität seiner Protagonisten, die Normalität der ‚neuen Welt‘ darstellt – eine kollektiv unter Droge gesetzte, uniforme Masse gleichgeschalteter Menschen, die alle stumpf die Regeln des Systems wiederholen – eben das war etwa die deutsche Gesellschaft der 1930er- und 1940er-Jahre ganz bestimmt nicht. Huxleys dystopisches Modell ist damit unhistorischer als so manche der älteren, klassischen Utopien, die heute als naiv-idealistische Projektionen gelten.
Doch gerade in seiner Einseitigkeit, in seiner künstlichen Trennung von Gegensätzen, die in jeder erfahrbaren Wirklichkeit auf vielfältige Weise miteinander verschränkt sind, liegt wohl ein Grund für den lang anhaltenden Erfolg des Romans. In seiner dystopischen Kritik an den realisierbar gewordenen Utopien erschuf Huxley eine selber utopische Ordnung und Aufteilung der Welt in Gefährliches und Rettendes. An ihr orientiert sich unser Zukunftsdenken bis heute. Die vielbeschworene „immer noch gültige“ Aktualität des Romans von 1932 zeugt weniger von seiner tatsächlich prognostischen Kraft als vielmehr davon, dass wir Utopie und Zukunft kaum mehr anders als in den Formen denken können, die uns ausgerechnet die Dystopie des 20. Jahrhunderts vorgibt.
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Wenn wir Zukunft imaginieren, stehen fast immer Huxleys Gegenwelten Pate: Zivilisation vs. Kultur, Technik vs. Natur, Religion vs. wissenschaftliche Vernunft. Dabei besteht die eigentliche historische Herausforderung darin, dass diese Gegensätze schon längst keine mehr sind. Moderne Gesellschaften lassen sich mit ihnen kaum angemessen beschreiben. Und doch halten wir unwillkürlich an ihnen fest, wenn es um die Zukunft geht, wenn Ethikräte über Biomedizin oder Atomkraft diskutieren, wenn die Strukturen einer zukünftigen europäischen oder gar globalen Wirtschaftsordnung debattiert werden oder wenn über den Klimawandel gestritten wird. Wie viel Natur und wie viel Technik wollen wir? Wie viel kollektive Gleichheit und wie viel individuelle Freiheit? Wie viel Ordnung und wie viel Unordnung? Wie viel Geist und wie viel Automation? Wie viel Künstlichkeit und wie viel Natürlichkeit? Wie viel Zivilisation und wie viel Kultur? Natürlich sind diese Fragen in der Moderne immer schon diskutiert worden, doch wurden sie in ihrem realgeschichtlichen Verlauf ebenso oft ad absurdum geführt. Diese historischen Erfahrungen aber zählen heute weniger als die Formen ihrer angeblich kritisch-dystopischen Aufarbeitung.
Immer wieder wird die Zukunft einer projektiven Risikofolgenabschätzung unterzogen, basierend auf Kriterien nicht etwa historischer Erfahrung, sondern vergangener Projektionen. Wir denken die Zukunft nicht mehr als einen offenen Horizont, sondern – ganz in Huxleys Sinne – als Verhinderung des Utopischen, als laufende Korrektur vergangener Entwürfe, als vernünftige Entscheidung für das diesmal Richtige und damit als Produkt eines scheinbar besseren, effizienteren Social Engineering. Das war im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert noch anders. Hier hatten Utopien die Funktion, im Horizont des damals neuen, offenen Geschichtsbegriffs die Zukunft als das ganz Andere der Gegenwart zu entwerfen. Heute aber ist unser Zukunftsdenken von den Versuchen zur Aufarbeitung des jüngst Vergangenen geradezu überdeterminiert. Im unbedingten Bestreben, zu verhindern, was Huxley oder auch Orwell vor 60 bis 80 Jahren kommen sahen, richten sich unsere Visionen an ihren aus. ‚Schöne Neue Welt‘ ist die wohl meist zitierte Formel, wenn es um die Frage geht, was kommen wird. Die Zukunft ist vergreist.
1 Vgl. hierzu etwa Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009.
2 Bis heute wird die deutsche Übersetzung von Herberth E. Herlitschka aus dem Jahr 1932 publiziert, die Huxley als einzige autorisierte. Sie verdeutschte sämtliche Namen, verlegte die Hauptstadt der neuen Welt von London nach Berlin und gab Shakespeares ‚brave‘ ungenau mit ‚schön‘ wieder (obwohl es eher so etwas wie ‚wagemutig‘ bedeutet). Obgleich für damalige Verhältnisse in der Übertragung zeitgenössischer Anspielungen halbwegs gelungen, wäre heute dringend eine Neuübersetzung nötig. [Anm. der Red., 26.9.2013: In der Reihe „Fischer Klassik“ ist jetzt eine Neuausgabe erschienen, übersetzt von Uda Strätling; siehe dazu etwa http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/2261701/.]
3 Theodor W. Adorno, Aldous Huxley und die Utopie [1951], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. von Rudolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1977, S. 97-122, hier S. 112.