Das „Neue Geistliche Lied“ als Ausdrucksmedium religiöser Milieus

Anmerkungen

Wer „Religion“ für die Bundesrepublik Deutschland zeithistorisch erforschen will, kann nicht absehen von den Formen der Frömmigkeit und Spiritualität, wie sie von Kirchen, religiösen Bewegungen, Gemeinden, Gruppen und Einzelnen in unterschiedlichen Graden von Öffentlichkeit praktiziert wurden und werden. Hierbei wären etwa Gottesdienstordnungen („Agenden“) und konkrete Ablaufpläne von Gottesdiensten und Feiern, spirituelle Angebote von Bildungseinrichtungen, ästhetisch-kulturelle Manifestationen religiöser Erfahrung und der große Bereich der populären religiösen Literatur genauer in den Blick zu nehmen. Zu wenig beachtet ist bislang die besondere Bedeutung der Kirchenmusik, und hier des geistlichen Liedes, für die zeithistorische Erfassung von Mentalitäten und Eigenheiten religiöser Bewegungen und von Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwar existiert eine eigene Subdisziplin der Praktischen Theologie, die Hymnologie, die sich der Erforschung des Kirchenliedes und der Musik in der Kirche widmet. Doch stehen dabei meist sprachliche, musikalische und theologische Werkanalysen oder historische Detailstudien zu einzelnen Liedern (vorzugsweise aus den kirchlichen Gesangbüchern) in praxiserschließender Absicht im Vordergrund,1 während kultursoziologische und kulturgeschichtliche Einordnungen der jüngsten Entwicklungen vergleichsweise selten vorgenommen werden.2 Immerhin hat der Volkskundler Wilhelm Schepping wertvolle Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen bzw. kulturgeschichtlichen Erhellung des Neuen Geistlichen Liedes beigesteuert, an die methodisch wie inhaltlich anzuknüpfen wäre.3

Die Zurückhaltung gegenüber den musikalischen Quellen in der zeitgeschichtlichen Forschung mag sich aus der Eigenart musikalischer Frömmigkeit erklären: Erst als erklingende und (durch biographische Kontexte sehr unterschiedlich) rezipierte Musik „ereignet“ sich diese Form von Frömmigkeit. Das vorfindliche Quellenmaterial (also vornehmlich Notenausgaben von Liedern, auch Tonträger) bleibt demgegenüber eigentümlich abstrakt und mehrdeutig. Daher erscheinen qualitativ-soziologische Methoden der Rezeptionsforschung primär als angemessen, um der Wirkung und Bedeutung musikalischer Frömmigkeit auf die Spur zu kommen. Andererseits liegt in zahlreichen Liederheften und Aufnahmen Neuer Geistlicher Lieder seit den 1960er-Jahren ein sehr umfangreiches schriftliches bzw. auf Tonträgern gespeichertes Quellenmaterial vor, das wesentliche Hinweise auf die Intentionen und theologischen Prägungen der Produzenten dieser Form von Frömmigkeitskultur gibt. Die Analyse des Liedguts ermöglicht Rückschlüsse auf die Motive bestimmter Frömmigkeitskreise und -bewegungen. Die Untersuchung der erfolgreichsten Lieder erbringt überdies zumindest indirekt Hinweise auf die möglichen religiösen Bedürfnisse und Motivationslagen der Rezipienten. In einzelnen Liedern konzentriert sich das religiöse Lebensgefühl größerer Teilgruppen und kirchlicher Bewegungen. Dies galt natürlich bereits für frühere Jahrhunderte, insbesondere seit Martin Luther das Kirchenlied zum Ort konfessioneller Selbstdarstellung machte und seit das Lied zu einem wesentlichen Ausdrucksmedium pietistischer Frömmigkeit wurde; aber es lohnt sich, dem Thema gerade aus zeithistorischer Sicht genauer nachzugehen.

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1. Musik als Streitobjekt kirchlicher Bewegungen und Milieus

Zwar gab es immer schon Veränderungen im kirchlichen Singen sowie Auseinandersetzungen um die „richtige“ und „passende“ religiöse Musik. Doch die Wandlungen in den 1960er- und 1970er-Jahren stellen (jedenfalls in der Bundesrepublik) einen epochalen Bruch im kirchenmusikalischen Verhalten, System und Repertoire der beiden großen Konfessionen dar, der in seiner Bedeutung schon damals heftig diskutiert wurde, aber erst beim heutigen Rückblick in seinen Auswirkungen völlig bewusst wird. Denn während bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die gottesdienstliche Musik und teilweise auch die geistliche Musik des Volkes (abgesehen von autonomen, oral tradierten Volksmusiktraditionen) durch den Geschmack des herrschenden Klerus (bzw. der herrschenden Klasse, zum Beispiel des preußischen Königs) und kirchenmusikalischer Eliten bestimmt war, die über die Auswahl des Liedguts für kirchliche Liedsammlungen entschieden, pluralisierte sich die Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; sie zerfiel in „Szenen“ und Milieus.4 Das geschah (wie in den Kulturkämpfen dieser Zeit insgesamt) zunächst im Modus eines Gegeneinanders von Hochkultur und pop- bzw. rockmusikalischer Subkultur im Zeichen musikalischer Emanzipationsbewegungen.

Ein Brennpunkt der Auseinandersetzungen um Formen musikalischer Frömmigkeit seit den 1950er-Jahren war die Frage des angemessenen kirchlichen Liedgutes und der „passenden“ Stilistik. Die Ablehnung des Evangelischen Kirchengesangbuchs von 1950 durch jüngere und „progressive“ Milieus führte zur Forderung nach neuem Liedgut und zur Produktion einer Flut Neuer Geistlicher Lieder, die zunächst (weithin ohne Kontrolle durch die Kirchenleitungen) hektographiert wurden und als Kopien Verbreitung fanden. Ähnlich wie in den Entwicklungen der Jugendkulturen entstanden so seit den 1960er-Jahren auch im Bereich der Kirchenmusik „Szenen“ verschiedener Frömmigkeitsstile und -bewegungen, die durch Treffpunkte, Festivalorte, eigene Publikationsorgane, „Fanclubs“, eigene Mediensysteme (etwa den Evangeliumsrundfunk Wetzlar) sowie Distributionsfirmen und Labels von Tonträgern zusammengehalten wurden und werden.5

Die Kirchen- und Katholikentage, die Kommunität von Taizé, regionale Bandtreffen, Sacropop- und Gospelrock-Festivals, die „Christival“-Evangelisationen, Posaunenchor- und Kirchenchortage sowie Konzertkirchen wurden zu Orten, wo die sich ausdifferenzierende kirchenmusikalische Szene zusammenkam. Nur zum Teil verbanden sich die kirchenmusikalischen Aufbruchsbewegungen mit sozialen Bewegungen in Kirche und Gesellschaft (etwa der Anti-Atomkraft-Bewegung). Überwiegend handelte es sich um (teils neu entstehende) Frömmigkeitsbewegungen. Der Einbruch von Beat, Rock und Pop in die Kirche war verbunden mit einem Eindringen freikirchlicher Jugendfrömmigkeit auch in die Volkskirchen (musikalische Evangelisationsveranstaltungen) oder mit befreiungstheologischen Anliegen und der Integration von „Dritte-Welt“-Theologien bzw. -Spiritualität. Zugleich verbündete sich die Rezeption amerikanischer und britischer Pop-/Rockmusik mit der Sehnsucht nach mehr Körperlichkeit und Lockerheit in der Kirche. Man könnte von einer „Body & Soul“-Bewegung sprechen (für die damals wie heute Spiritual & Gospel zentral sind). Darin werden dogmen- und theologiekritische Frömmigkeitsbewegungen sichtbar, die für die Entwicklung der westdeutschen Kirchen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders wichtig geworden sind.6

In den neueren Darstellungen der Geschichte der Kirchenmusik markieren die 1960er-Jahre daher einen wichtigen Einschnitt. Das gilt insbesondere für das Kirchenlied bzw. das geistliche Lied. Bereits Mitte der 1970er-Jahre wurde bemerkt: „In einem noch nicht erlebten Tempo löst eine ganz neue Zeit die alte ab, die selbst die jüngsten Lieder, ehe sie weiter bekannt werden konnten, als bereits überholt, einer fremden Zeit zugehörig erscheinen lässt. Das bahnt sich in den Fünfziger Jahren an und tritt im folgenden Jahrzehnt voll zutage, das wiederum von einer ganz neuen Situation geprägt ist.“7 Hier begann (mit einigen Wurzeln in den 1950er-Jahren) eine Phase neuer musikalischer Formen, die unter den Bezeichnungen „Neues Geistliches Lied“, „Sacropop“, „Gospelrock“, „Populäre christliche Musik“ oder „CCM“ (= „Contemporary Christian Music“) thematisiert wurden und werden.8

Die Neuaufbrüche im Bereich des geistlichen Liedes und der (populären) Kirchenmusik wurden von intensiven theoretischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen vornehmlich in den Berufszeitschriften der Kirchenmusiker sowie in der Zeitschrift „Musik und Kirche“ begleitet. Der Kampf von Generationen und Milieus um die Musik in der Kirche spiegelt sich deutlich in diesen Fachdebatten wider, die daher auch ein interessantes Quellenmaterial für die (kirchliche) Zeitgeschichte darstellen. Spätestens seit den 1980er-Jahren ist aus dem Generationenkonflikt dann eine unübersichtliche, nicht weniger konflikthaltige Konkurrenz verschiedener religiöser Milieus und Szenen geworden. Durch die Pluralisierung und gegenseitige Distinktion kirchenmusikalischer Zeichensysteme werden die kulturelle Selbstwahrnehmung und Identitätsbildung verschiedener kirchlicher Milieus beschleunigt und verstärkt.9

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2. Zwei Beispiele religiöser Milieus bzw. „Szenen“ und ihrer Musik

2.1. Das volkskirchliche Harmonie- und Unterhaltungs-Milieu: religiöser Schlager. Der Versuch, Schlagertöne in die geistliche Liedkultur der Kirche einzuführen, verdankte sich der Einsicht, dass sich die tradierte (und die zeitgenössische) Kirchenmusik (jedenfalls die evangelische, die weniger volkstümliche Elemente kannte) immer weiter vom Musikgeschmack breiter Bevölkerungskreise entfernt hatte. Das Liedgut des ab 1950 erschienenen „Evangelischen Kirchengesangbuchs“ (EKG) spiegelte den Musikgeschmack und damit die Milieupräferenzen der hymnologischen und theologischen Experten, die dieses Gesangbuch zusammengestellt hatten, und unterschied sich damit deutlich von der Alltagskultur der durch die deutsche Schlager- und die amerikanische Musikindustrie beeinflussten Mehrheit. So wurde dann auch bald kritisiert, das Kirchenlied der Gegenwart sei „zu einseitig reformatorischem und barockem Erbe verhaftet, auch in den neuesten Liedern, die einen viel zu kleinen Prozentsatz bilden. Theologie, Themen, Sprache und Form sind von daher weitgehend überholt, zu schwer verständlich, zu dogmatisch und objektivistisch, ohne missionarische Kraft. Auch die Weisen sind teils zu schwierig, steril und unpersönlich. Alles ist zu stark vom Verstand her bestimmt, zu gefühlsarm und ausdruckslos, zu sehr wissenschaftlicher Forschungsarbeit statt gemeindlicher Praxis erwachsen.“10

Die Evangelische Akademie Tutzing entschloss sich 1960 zu einem Preisausschreiben: Sie forderte zur Einsendung neuer religiöser Lieder auf, die dem auch von Jazz und Unterhaltungsmusik geprägten Musikgeschmack insbesondere der Jugend entsprechen sollten. Das Siegerlied „Danke“ des Kirchenmusikers Martin G. Schneider wurde unter anderem bei der Electrola mit dem Botho-Lucas-Chor auf Platte gepresst, gelangte in die Hitparaden und verkaufte sich in Hunderttausenden von Exemplaren.11

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Schon der Initiator des Preisausschreibens, Günter Hegele, suchte im Vorwort zur Publikation der Lieder des zweiten Preisausschreibens nach Erklärungen für das Interesse an derartigen Liedern: „Man wird […] nicht ausschließlich ästhetische Maßstäbe anlegen dürfen, sondern eher nach den Beweggründen und dem Glauben derer fragen müssen, die solche Lieder vorlegen und singen, z.B. welche Rolle dabei der Rhythmus spielt, die Sprache – oder auch die Scheu vor großen Worten und das Verhältnis von Kirche und Welt.“12

Danke, für diesen guten Morgen

 

„Danke, für diesen guten Morgen“ (Liedanfang)
Text, Melodie und Satz: Martin Gotthard Schneider
(© Gustav Bosse Verlag, Kassel)

Der Erfolg des Kirchenschlagers „Danke“ lässt sich letztlich nur kultur- und kirchensoziologisch erklären. Alle ästhetische und theologische Fachkritik konnte den beispiellosen Siegeszug dieses Liedes nicht verhindern. Bis heute zählt es zu den wenigen auch Jugendlichen bekannten Kirchenliedern. Nur deshalb eignet es sich als Gegenstand ironischer Neueinspielungen (etwa in einer originellen Fassung der Punk-Gruppe „Die Ärzte“) und als Objekt bitterböser Persiflagen.13 Es hat seinen festen Platz im Stammteil des Evangelischen Gesangbuches erhalten (EG 334) und findet sich auf mehreren CD-Einspielungen zu diesem Gesangbuch. Gerade sein alltagsnaher, „werktäglicher“ Charakter ließ es auch in die stärker lebensweltorientierten Liturgieformen seit den 1970er-Jahren einwandern, und es wurde zu einem beliebten Lied bei Kasualien (wie Konfirmation, Trauung etc.). Das Lied ist damit zugleich ein Indikator einer veränderten Haltung zur Liturgie geworden. Seine Rezipienten suchen nicht das Fremde oder das Heilige als das ganz Andere, sondern Trost und Stütze im Alltag. Der Gottesdienst wird zum Ort der Vergewisserung persönlicher Lebenskunst. Damit signalisiert das „Danke“-Lied in bestimmten volkskirchlichen Milieus einen Trend zur Funktionalisierung von Religion als spiritueller Selbstsorge.

Nicht zuletzt hat dieses Lied die Dominanz der ästhetischen Qualitätskriterien der bildungsbürgerlichen Milieus erfolgreich in Frage gestellt. Bestimmte Milieus – nämlich diejenigen mit eher harmonie- und zugleich popkulturell orientierten Lebensstilmustern14 – haben sich mit diesem Lied gegen die kulturelle Hegemonie der etablierten Kirchenmusik (und Liturgik) emanzipiert und so ihre eigene religiöse Schlagerwelt erstritten, ähnlich wie es die alternativ-jugendlichen Studenten-Milieus der 1960er- und 1970er-Jahre mit den Mitteln der Rockmusik versuchten. Mit dem „Danke“-Lied erwarben sich die massenmedial und von schlagerartiger Popmusik geprägten Milieus demnach ihr kulturelles Heimatrecht in der Kirche. Auch im Blick auf seinen Textinhalt ist das „Danke“-Lied zu einem Symbol dafür geworden, was viele Menschen „wirklich glauben“15 und was sie in der spätmodernen bundesrepublikanischen Gesellschaft von Religion wie Kirche erwarten: Ausdruck für ein vages Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht, die über das eigene Glück entscheidet, und die Formulierung ethischer Werte.16

Die Ärzte: „Danke für jeden guten Morgen“
(veröffentlicht auf der Single „1/2 Lovesong“, 1998)

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2.2. Gesellschaftskritisches Milieu: Sacropop. Insbesondere die jüngeren, höher gebildeten KirchentagsbesucherInnen repräsentieren ab den 1970er-Jahren ein anderes, stärker gesellschaftskritisches kirchliches Milieu, das sich in der Kirchentags- und Katholikentagsmusik des „Sacropop“ seine eigene Lied- und Musikwelt schuf. Dazu knüpften dessen Protagonisten (insbesondere Peter Janssens) an die Traditionslinie der gesellschaftskritischen deutschen Chansons von Bert Brecht und Kurt Weill an.

Die Absicht der Texte dieses Genres fasst eine Selbstdarstellungsbroschüre zusammen, die wohl aus den 1970er-Jahren stammt. „Die grundlegende Tendenz [der Textinhalte] kann folgendermaßen beschrieben werden:

• Veränderung des Menschen und der Welt
• Hoffnung auf eine neue Welt
• Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten
• Hinweis auf mögliche Wege

Die Texte werden nicht geschrieben als Verhaltensregeln etwa wie für ein Rezeptbuch. Sie heben nicht den drohenden, belehrenden Zeigefinger, sondern wollen feststellen, aussagen, darstellen, anfragen, ausdrücken und anklagen, Fragen an Gott und die Welt.“17

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Charakteristisch für den Sacropop ist die Verbindung von ethischem Engagement und Fest-Freude. Der Sacropop ist vor allem eine Musik der „Politischen Nachtgebete“ und der „Lebendigen Liturgien“ (so der Fachterminus für die neuen Liturgieformen) der Kirchen- und Katholikentage geworden, teils dann in die Gemeinden vorgedrungen und im Evangelischen Gesangbuch ab 1990 mehrfach vertreten. Insbesondere die Liederhefte der Kirchen- und Katholikentage stellen wichtige Quellen für eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Erforschung dieser Milieus dar.

Mit dem Lied „Das könnte den Herren der Welt ja so passen (Anderes Osterlied)“ nach dem Text des Schweizer Theologen und Schriftstellers Kurt Marti und der Melodie von Peter Janssens, das zunächst 1970 veröffentlicht worden war und bei Kirchentagen bis ins Jahr 2010 erklang, liegt ein typisches Beispiel einer gesellschaftskritischen „Politischen Theologie“ vor, die herrschaftskritisch Gerechtigkeit einfordert und gleichzeitig an zentralen Topoi christlicher Glaubenstradition festhält (hier: dem Auferstehungsglauben). Der liturgische Ort dieses Liedes wird auch daran erkennbar, dass der Komponist melodisch den Choral „Christ ist erstanden“ anklingen lässt.18

1. Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer,
vergessen wäre für immer.

2. Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer,
so weiterginge wie immer.

3. Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren,
die mit dem Tod uns regieren.

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3. Fazit

Für die zeitgeschichtliche Forschung wäre es ergiebig, der Wirkungsgeschichte zentraler Lieder genauer nachzugehen und ihre symbolische Bedeutung für Frömmigkeitsbewegungen und kirchliche Milieus nachzuzeichnen. Für eine nähere Analyse der Umbrüche sind im Blick auf Lied und Musik verschiedenartige Quellen zu berücksichtigen:

Musikalische Produkte: Lieder aus dieser Zeit, die in hoher Zahl gedruckt vorliegen, Partituren von Musikwerken, Sammlungen in Liederheften bzw. -büchern, Schallplatten oder CDs mit Einspielungen von Liedern oder Werken der Kirchenmusik.

Reflexionen und (teils unveröffentlichte) Berichte von Beteiligten und Kritikern der Aufbruchsbewegungen: Bald schon entstanden Analysen und Prognosen in Vorworten von Liederheften, in kirchenmusikalischen Fachzeitschriften und eigenständigen Publikationen, die der Rechtfertigung wie Kritik der Veränderungen dienten.19 Selbst in Tages- und Wochenzeitungen gab es in den 1960er-Jahren Diskussionen um die neuen Töne in der Kirche. Dazu können auch Zeitzeugen befragt werden.20

Kirchenamtliche Dokumente: zum Beispiel Verbote von Jazz-Musik in der katholischen Liturgie, Bestimmungen zur Musik bei Kasualien etc.

Wendet man sich diesen Quellen zu, ergeben sich zugleich neue Chancen und Herausforderungen für das interdisziplinäre Gespräch zwischen zeitgeschichtlicher Forschung und Hymnologie. Durch die Einbeziehung kulturwissenschaftlicher und kultursoziologischer Perspektiven könnten beide Fächer gewinnen.

Anmerkungen: 

1 Vgl. die groß angelegte, noch unabgeschlossene, in Einzelheften erscheinende Reihe Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch (zugleich: Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Bd. 3), hg. von Gerhard Hahn und Jürgen Henkys, Göttingen 2000ff., sowie Hartmut Handt (Hg.), Werkbuch zum evangelisch-methodistischen Gesangbuch, Stuttgart 2000ff. Die mittlerweile unübersichtliche Literatur zu einzelnen Gesangbuchliedern ist gesichtet bei Karl Christian Thust, Bibliografie über die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs, Göttingen 2006.

2 Vgl. erste Ansätze und Hinweise bei Peter Bubmann/Heinrich Riehm/Holger Müller, Das 20. Jahrhundert, in: Christian Möller (Hg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Arbeitsbuch, Tübingen 2000, S. 267-330; Rainer Schulz, „In Ängsten und doch frei“. Das Kirchenlied als Zeitkommentar, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 57 (2002), S. 260-264; Peter Bubmann, Wandlungen in der Kirchenmusik in den 1960er und 70er Jahren, in: Siegfried Hermle/Claudia Lepp/Harry Oelke (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2006, S. 303-324.

3 Wilhelm Schepping, Zur Variabilität heutiger Vermittlungs-, Verbreitungs- und Tradierungsformen des Neuen Geistlichen Liedes, in: Günther Noll (Hg.), Traditions- und Vermittlungsformen Musikalischer Volkskultur in der Gegenwart, Bruckmühl 1998, S. 408-434; ders., Zwischen Popularität und Opus-Musik. Das Neue Geistliche Lied im rheinischen Raum, in: Günther Noll (Hg.), Musikalische Volkskultur im Rheinland, Berlin 1993, S. 9-49.

4 Vgl. als erste Übersicht Wolfgang Körner, Kirchenmusik im Plural. Musik im Raum der Kirche in Deutschland 1945–2001, Nürnberg 2003.

5 Ein wissenschaftlicher Überblick zur Vielfalt der neueren Formen populärer Kirchenmusik in Deutschland fehlt bislang; 2011 oder 2012 wird innerhalb der Laaber-Enzyklopädie der Kirchenmusik im Band über das 20. Jahrhundert diese Lücke geschlossen mit dem Beitrag des Verfassers über „Populäre Kirchenmusik“.

6 Vgl. Gotthard Fermor, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Stuttgart 1999.

7 Karl Christian Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart. Kritische Bestandsaufnahme, Würdigung und Situationsbestimmung, Göttingen 1976, S. 19 (dortige Hervorhebung).

8 Vgl. Eckhard Jaschinski, Kleine Geschichte der Kirchenmusik, Freiburg 2004, S. 121-128; Andrew Wilson-Dickson, Geistliche Musik. Ihre großen Traditionen. Vom Psalmengesang zum Gospel (dt. Bearb. von Ute Zintarra u. Klaus Heizmann; das Kap. 45 zur populären christlichen Musik in Deutschland stammt von Klaus Heizmann), Gießen 1994, S. 243f.

9 Die in der Kultursoziologie von Gerhard Schulze Anfang der 1990er-Jahre beschriebenen Milieus lassen sich dabei kirchenmusikalisch bereits Ende der 1970er-Jahre erkennen. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992. Zur Übertragung dieser kultursoziologischen Perspektiven auf den Bereich der Kirchenmusik vgl. Eberhard Hauschildt, Kirchenmusik in der Erlebnisgesellschaft, in: Gotthard Fermor/Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Kirchenmusik als religiöse Praxis. Praktisch-theologisches Handbuch zur Kirchenmusik, Leipzig 2005, S. 83-89.

10 Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart (Anm. 7), S. 18.

11 Unter <http://www.youtube.com> sind diverse neuere Einspielungen des Lieds als Videos verfügbar.

12 Weil Du „Ja“ zur mir sagst. Neue geistliche Lieder aus dem 2. Wettbewerb der Evangelischen Akademie Tutzing, Regensburg o.J. [1963], Vorwort von Günter Hegele.

13 Man sehe und höre etwa: <http://www.youtube.com/watch?v=p9P_LzQK_8M>.

14 Nach Gerhard Schulzes Typologie: das Harmoniemilieu der weniger Gebildeten, das Integrationsmilieu der über 40-Jährigen und das Unterhaltungsmilieu der weniger gebildeten Jüngeren. Zumindest die ersten beiden Gruppen sind in der gottesdienstlichen Kerngemeinde heute überproportional stark vertreten. Das erklärt den liturgischen Erfolg des „Danke“-Liedes.

15 Vgl. die religionssoziologische Untersuchung von Klaus-Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, 2., verbesserte Aufl. München 1999.

16 Zur genaueren Textanalyse des „Danke“-Liedes vgl. Peter Bubmann, Musik – Religion – Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive, Leipzig 2009, S. 141-144.

17 Sacro-Pop, hg. von der Arbeitsgemeinschaft Musik in der Evangelischen Jugend (Redaktion: E. Bücken), Willingen-Stryck o.J. (als Manuskript gedruckt), S. 3.

18 Ein kurzer Ausschnitt findet sich als Tondokument auf der Website <http://www.pjmv.de/Meine_Lieder.php>.

19 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Körner, Kirchenmusik (Anm. 4), S. 64-95.

20 Beispiele von Interviews mit Hauptakteuren der Sacropop-Szene finden sich in der einschlägigen Dissertation von Peter Hahnen, Das ‚Neue Geistliche Lied‘ als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität, Münster 1998, S. 358-457 (hier Interviews u.a. mit F. Baltruweit und P. Janssens).

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