Als Günther Anders’ gesammelte »Gedanken über die atomare Situation« – zehn Aufsätze, Manifeste, Vorträge und eine Fabel – 1972 erstmals erschienen, kamen sie zu spät. Im politischen Klima nach 1968 konnte ihr Autor noch so sehr auf anhaltende Aktualität pochen, längst war die von Anders mitgeprägte Anti-Atom-Bewegung der 1950er- und 1960er-Jahre »eingegangen« (S. XII),1 und andere Themen wie der Vietnamkrieg hatten sich vor die immer noch »drohende Atomgefahr« (S. XI) geschoben. Hinzu kam die wachsende »Angst vor der vielfältigen und gleichfalls apokalyptische Ausmaße annehmenden Umweltverseuchung« (S. XII).2 Mit einer invertierten Feuerbachthese hatte Anders außerdem die Zustimmung der akademischen Jugend riskiert: Was heute »fällig« sei, forderte er im annus mirabilis der Studierendenbewegung, »mindestens ebenso fällig wie die Veränderung der Welt, ist die wirkliche Interpretation jener Veränderungen, die malgré nous, auch im Lager unserer Gegner, vor sich gegangen sind und vor sich gehen«.3 Gemeint war das revolutionäre Potential moderner Technik, die Anders im ersten Band seines Hauptwerks »Die Antiquiertheit des Menschen« (1956)4 als planetare Übermacht porträtiert hatte, als neues »Subjekt der Geschichte«.5 In »Endzeit und Zeitenende« spricht er der Technik echte Handlungsmacht zu (wir würden heute »Agency« sagen), nennt die uns umgebenden Artefakte gar »Pseudo-Personen« mit handlungsleitenden »stummen Prinzipien und Maximen« (S. 103), deren gleichsam politisches Endziel eine Welt sei, in der Menschen überflüssig werden (vgl. S. 199). Die Hermeneutik ihres »Totalitarismus« (S. 17) war Andersʼ Antwort auf den technikblinden Fleck linker Theoriebildung.6 Dass er im Gegensatz zu seinem Freund Herbert Marcuse damit in die Rolle eines Epimetheus der 68er-Bewegung geriet,7 dürfte ebenso wie der sperrige Titel und der pessimistische Grundton seiner Textsammlung dazu beigetragen haben, den publizistischen Erfolg des Bandes im ersten Anlauf auszubremsen. Das änderte sich erst, als das Buch zwei Jahre nach dem NATO-Doppelbeschluss in einer um ein Vorwort erweiterten, ansonsten aber identischen Ausgabe unter dem griffigeren Titel »Die atomare Drohung« erschien und bis 1986 vier weitere Auflagen erlebte (die aktuelle 8. stammt von 2023).
Zu den ersten Rezensenten zählten der Heidegger-Schüler Hermann Mörchen8 und kein Geringerer als Jean Améry, für den Anders nicht zuletzt deshalb »der luzideste Kritiker der technischen Welt« war, weil er »[z]weierlei Formen der zeitgenössischen Naivität vermeidet […]: die nur technophobe und die ökonomiezentrische«.9 In seiner Besprechung der Neuausgabe berichtet der Literaturkritiker Werner Fuld, Andersʼ Thesen seien auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1981 in Hamburg »wiederentdeckt«, dort »von Tausenden gelesen und in den Arbeitskreisen diskutiert« worden.10 Heinrich Vormweg, ein anderer Literaturkritiker, pries das »[m]it der souveränen Aggressivität des unabhängigen Philosophen« geschriebene Buch im »Vorwärts« als »unvermindert« aktuell und lesenswert.11 Der Psychologe Volker Beck, damals noch Student in Gießen, sprach gar von einem »Schlüsselbuch für das riesige Feld falschen Bewußtseins« und hob daran besonders Andersʼ »Beschäftigung mit Gefühlsstrukturen« hervor.12 In einem sechsseitigen Brief an den Autor zeigte er sich überdies erfreut, dass die Friedensbewegung »endlich Ihre ungemein wichtigen Bücher ›entdeckt‹ hat und Ihre Überlegungen und Thesen zum Atomzeitalter einen zunehmenden Einfluß auf die Theorie und Praxis ausüben«.13
Wie groß dieser Einfluss tatsächlich war, wird künftige Forschung erst zu ermitteln haben.14 Zweifellos aber gehört der hier vorgestellte Band neben Anders’ Hauptwerk und dem zum Bestseller avancierten Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly15 zu den erfolgreichsten Büchern des Wahl-Wieners.16 Es ist zudem auch eines seiner besten, was nicht zuletzt daran liegt, dass der oft für seinen enervierenden Moralismus gescholtene Anders sich in kaum einem anderen Werk so nachdenklich und selbstkritisch zeigt wie in diesem. Die für ein breites Publikum verfassten Arbeiten führen die Ambivalenzen und Aporien des Atomzeitalters ebenso deutlich vor wie die Irritationen und Revisionen des Autors. Sie zeigen damit exemplarisch, was der öffentliche Denker Anders unter »Gelegenheitsphilosophie« verstand: ein auf Aktualität geeichtes, situatives, von konkreten Verstörungen ausgehendes Denken, das sich der »terra incognita«17 seiner jeweiligen – meist außergewöhnlichen bzw. »monströsen«18 – Gegenstände in mehreren Anläufen methodisch reflektiert annähert und dabei stets die Vorläufigkeit des Gedachten in Rechnung stellt.19 Auf diese Weise entsteht ein komplexes Stimmungsbild der durch eine atomare Apokalypse bedrohten Gegenwart und Zukunft. Tagesaktuelle Eingriffe wechseln sich ab mit grundsätzlichen philosophischen Erwägungen, ausgewiesenen »Kampfthesen«20 steht die melancholische Fabel gegenüber. Wollte man diese in Genre, Stil und Perspektive unterschiedlichen Interventionen auf einen Nenner bringen, könnte man sie mit einem von Anders beiläufig geprägten Begriff »metapolitisch« nennen (vgl. S. 164f.). Denn sie alle kreisen um die Bedingungen der Möglichkeit oder eher Unmöglichkeit von Erfahrung und politischem Handeln im nuklearen Zeitalter. Wie in fast allen Anders-Schriften nach 1945 geht es um die Kartierung antiquierter Fähigkeiten und selbst hergestellter Unfähigkeiten, um menschliche Erfahrung sprengende Ereignisse und blockierte Handlungsmacht, kurz: um die gegenwärtige conditio humana. Damit ist auch Andersʼ Atomphilosophie ein Beitrag zur »philosophische[n] Anthropologie im Zeitalter der Technokratie«.21 Dieses Vorhaben buchstabieren die ungleichen Texte der Sammlung auf vielfältige Weise aus. Statt einzeln auf sie einzugehen, werden wir im Folgenden zentrale Motive aus ihnen destillieren.
Was Anders in allen seinen Schriften (nicht nur) zur atomaren Frage durchgängig beschäftigt, ist das von ihm diagnostizierte Grundparadox des modernen Mensch-Technik-Verhältnisses: das »prometheische Gefälle« (S. 96),22 die Kluft zwischen dem, was wir herstellen, und dem, was wir vorstellen, das heißt kognitiv, emotional und moralisch noch »einholen« können (wie eine zu weit ausgeworfene Leine; vgl. S. 40). So hätten die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki alle Menschen zu »Wesen einer neuen Art« gemacht (S. 170). Neuartig seien sie fortan als Mitglieder einer Gattung, die im »Weltzustand Hiroshima« (vgl. S. 93) über ihre eigene Sterblichkeit verfüge; ansonsten aber fielen sie weit hinter ihre technologischen Möglichkeiten zurück: »unsere psychische Antiquiertheit ist der Defekt von heute« (S. 170). Weil sie sozusagen »›überschwellig‹« sei, das heißt »zu groß«, um sie wirklich aufzufassen (S. 110), bleibe die Atomgefahr für uns quasi unsichtbar.
Um diesen Umstand adäquat zur Sprache zu bringen, greift Anders auf apokalyptische Terminologie zurück: Zeit könne sub specie der Bombe fortan nur mehr als »Frist« gedacht werden. Damit fehlt der von der ständig aktualisierbaren Möglichkeit der eigenen Auslöschung geprägten »Endzeit« (S. 178) bei Anders die transzendente Pointe; ihr worst case scenario ist ein »Friedhof ohne Hinterbliebene« (S. 174). Diese »Apokalypse ohne Reich« (S. 207) trägt im Gegensatz zur Offenbarung des Johannes weder sozial-emanzipatorische Züge, noch verheißt sie ein besseres Leben im Jenseits.23 Stattdessen wäre ihr Eintritt gleichbedeutend mit dem Ende allen Lebens und einem gleichsam zweiten Tod der Toten, deren Existenz endgültig dem Vergessen anheimfiele, weil sich niemand mehr an sie erinnern könnte. Diesen archimedischen Standpunkt antizipierend einzunehmen, ist für Anders die Aufgabe »›prophylaktische[r] Apokalyptiker‹« (S. 179); prophylaktisch deshalb, weil es künftig nur noch darum gehe, das Eintreten der Apokalypse zu verhindern, also die »Frist« zu verlängern. Doch nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum wird Anders zufolge durch die Bombe ontologisch affiziert, denn es gebe nun »keine ›Ferne‹ mehr« (S. 25): Im Atomzeitalter könne »[j]eder […] jeden treffen, jeder von jedem getroffen werden« (S. 95). Raketen, radioaktive Wolken und andere Langzeitfolgen scherten sich nicht um »Scheidewände« (S. 32) und Landesgrenzen.24
Dass wir die drohende Gefahr nicht angemessen wahrnehmen, liegt nach Anders an der im ersten Band der »Antiquiertheit« diagnostizierten »Apokalypse-Blindheit«25 – ein Schirmbegriff für die Unmöglichkeit, den hausgemachten Untergang (nicht nur kognitiv, sondern auch emotional) zu fassen. Im Unterschied zum Proletarier des 19. Jahrhunderts, der seine Misere am eigenen Leib empfunden habe, bestehe »[d]as Furchtbare an unserem atomaren Elend […] tatsächlich darin, daß es als Elend überhaupt nicht oder kaum empfunden wird« (S. 107). Überdies spricht Anders auch von »Apokalypse-Faulheit« und »Apokalypse-Indifferenz« (S. 73, S. 185f.), das heißt von Gewöhnungseffekten, Unmündigkeit und politischer Verharmlosung. Hinzu komme, dass wir in einer viel zu »weithorizontig gewordenen Welt« (S. 97) lebten, denn Interkontinentalraketen erlaubten es Tätern, ihre Opfer aus größter Ferne und ohne Hass zu ermorden; die »technische Betriebsform« unserer Welt (S. 187) entlaste uns von allen möglichen Entbehrungen und Anstrengungen inklusive moralischer Bedenken; hoch spezialisierte, internationale Arbeitsteilung übersetze sich in »Gewissensteilung« (S. 147). Im »Massenzeitalter der sauberen Hände« (S. 193), wo niemand mehr überblickt (überblicken will), wie und was mit welchen Effekten für Mensch und Welt produziert wird, herrscht nach Anders daher eine allumfassende strukturelle Verantwortungslosigkeit. Die fatale Konsequenz dieses komplexen Syndroms ist für ihn schließlich, »daß wir unsere Verbrechen die Form von Naturkatastrophen annehmen lassen« (S. 201), hinter denen die eigentlich Verantwortlichen verschwinden: »Unmenschliche Taten sind heute Taten ohne Menschen.« (S. 200)
Wie soll man diesen un-menschlichen Taten wirkungsvoll begegnen, wie lässt sich der Apokalypse die Stirn bieten? In »Der hippokratische Eid« (S. 136-167) macht Anders den Vorschlag des »Produktstreiks«. Gemeint ist damit die Selbstverpflichtung, »keine Arbeiten anzunehmen oder durchzuführen, ohne diese zuvor darauf geprüft zu haben, ob sie direkte oder indirekte Vernichtungsarbeiten darstellen«, außerdem die Forderung, solche Arbeiten aufzugeben und andere Menschen über entsprechende Tätigkeiten aufzuklären (S. 137). Das schließt ausdrücklich auch die Wissenschaften ein, denen Anders vorwirft, sich unter dem Deckmantel eines falschen Objektivitätsideals als gänzlich unpolitisch misszuverstehen.
Interessant an diesem Vorschlag ist weniger sein Inhalt als vielmehr seine Funktion für Andersʼ apokalyptisches Denken. Wo dieses sonst oft apodiktisch auftritt, gibt es sich hier demütig als »reine Aporetik« aus, der es um Problematisierung geht, nicht um »Lösungen« eines »Problems«, das vielleicht gar nicht »in wirklich sinnvolle Fragen übersetzt werden kann« (S. 166). Denn Anders ist wohl bewusst, dass Moral und Mündigkeit im Atomzeitalter gewaltige Hindernisse entgegenstehen, so – als Strukturbedingung der Unmöglichkeit moralischen Handelns – die bereits erwähnte Verantwortungsdiffusion qua Arbeitsteilung, aber auch die »Janusköpfigkeit« der Wissenschaft (S. 150). Damit ist ein Grundproblem wissenschaftlich-technologischen Fortschritts adressiert, das auch das aktuelle klimapolitische Credo »Follow the Science« betrifft: Naturwissenschaftliche Grundlagenforschung sei »wesensmäßig zur Zweideutigkeit verurteilt« (S. 150), das heißt, mit dem Doppelgesicht potentiell »guter« und »böser« Verwendbarkeit geschlagen, so Anders. Nicht immer ist Wissenschaft die Lösung, sondern manchmal selbst das Problem (wie man am Beispiel des Manhattan-Projekts eindrücklich nachvollziehen kann26). Jedwede Forschung deshalb auf Verdacht einzustellen, hieße andererseits, »vielleicht das Kind mit dem Bade aus[zu]schütten« (S. 149).
Zu den grundlegenden Ambivalenzen der »Endzeit« gehört nicht zuletzt das Täter-Opfer-Problem, das uns heute analog auch vis-à-vis des Klimawandels begegnet: Einerseits werde die Menschheit durch die Atombombe – »aus der Perspektive der drohenden Katastrophe gesehen« – zu einer globalen Bedrohungsgemeinschaft, ja erstmals überhaupt (wenn auch nur ex negativo) zu einer wirklichen Menschheit zusammengeschweißt, so Anders (S. 63); im »Weltzustand Hiroshima« gebe es »nur noch ›Nächste‹«, und das sowohl räumlich als auch zeitlich, in Form einer neuen generationellen Internationale, die uns mit unseren Enkeln verbinde (S. 95) und unsere Verantwortung somit ins Unendliche ausdehne (vgl. S. 34).27 Andererseits aber lauert nach Anders genau hier die Gefahr des falschen Kollektivsingulars. Denn es ist ja gerade nicht die Menschheit als Ganze, die sich – mit der Bombe oder mit dem Klimawandel – selbst vernichtet; stets sind es bestimmte Menschen oder Kollektive, die andere (und davon manche besonders heftig) durch ihr Handeln schädigen. Daher sei »auf die Selbstmord-Formel zu verzichten« (S. 62): »Der Singular ›die Menschheit‹ ist in unserem Falle eine Irreführung.« (S. 180) Auch erkannte Anders, dass der apokalyptische Gedanke an das drohende Weltenende aus Sicht des Globalen Südens ein Luxusproblem darstellt (vgl. S. 108). Dennoch habe der Singular seine – moralische – Berechtigung. Weil die Bombe letztlich alle bedrohe, müssten auch alle dagegen aufstehen. Doch das adressierte Subjekt bleibe »reines Postulat« (S. 63). Im Gegensatz zu Marxens Proletariat begreife sich die bedrohte Menschheit nämlich nicht als »›Elite und Avantgarde der Misere‹«, und gerade die »Universalität der Bedrohung« verhindere ihre Erkennbarkeit (S. 64). Daneben sei im Atomzeitalter aber auch »individueller Streik« sinnlos (S. 163). Andersʼ Appell richtet sich stattdessen an eine globale »Hydra des guten Willens« (S. 53), also an vielfältige politische Initiativen, die gemäß dem von Anders postulierten »Prinzip Trotz«28 auf unterschiedlichste Arten und Weisen »okkasionell« Widerstand leisten (S. 161).
Blickt man im Abstand von über fünf Dekaden auf »Endzeit und Zeitenende« zurück, wird man feststellen: Der Hydra sind nicht allzu viele Köpfe gewachsen, die Kassandrarufe verhallten – gewiss auch deshalb, weil die an die Wand gemalte Apokalypse ausblieb. Im politischen day-to-day business des Ost-West-Konflikts, erst recht nach 1989, kühlten trotz (oder gerade wegen?) zahlloser kritischer Vorfälle und Beinahe-Weltuntergänge29 sowohl der Schrecken als auch die ursprüngliche Faszination der Bombe30 langsam aber sicher ab. Als Anders schließlich im Dezember 1986 in der Zeitschrift »natur« resigniert zur Gewalt gegen Atomlobbyisten aufrief, hatten dafür selbst enge Wegbegleiter und Mitstreiterinnen kein Verständnis mehr.31 Der apokalyptische Ton seiner Schriften und öffentlichen Interventionen schien nun vollends überspannt. Nicht nur die Bombe, auch das Endzeit-Denken wirkte »überschwellig«. Denn allzu leicht musste, wer wie Anders auf das große atomare Finale fixiert war, zahllose andere, bereits eingetretene oder gerade stattfindende Apokalypsen übersehen.32 Längst sind weitere, womöglich gar effektivere Möglichkeiten der menschlichen Selbstauslöschung bzw. des »Globozid[s]«33 neben die Atomgefahr getreten, allen voran die anthropogene Klimakatastrophe.34 Sie gehorcht anderen temporalen und politischen Logiken als die atomare Drohung. Beispielsweise genügt es in diesem Fall nicht, bloß »die Frist zu verlängern, die Sorge richtet sich auf die Gestaltung der Frist selbst«, so der Philosoph und Schriftsteller Guillaume Paoli.35
Gewiss haben Andersʼ »Endzeit«-Texte inzwischen Patina angesetzt, besonders dort, wo ihre tagespolitischen Bezüge vielen Leserinnen und Lesern heute kaum mehr geläufig sein dürften. Dass sich die Lektüre dennoch weiterhin – ja gerade jetzt – lohnt, hat mehrere handfeste Gründe: Erstens dauert das Atomzeitalter mit seinen überzeitlichen Effekten und Abfallprodukten unvermindert an, ganz zu schweigen von der jüngsten Wiederkehr der atomaren Drohung und ihren unkalkulierbaren Eskalationsdynamiken.36 Zweitens hat der dramatisch fortschreitende Klimawandel zu einer Renaissance (post-)apokalyptischen Denkens geführt,37 das sich nicht zuletzt auch auf Günther Anders bezieht.38 Dies dürfte drittens trotz aller Unterschiede in der Sache daran liegen, dass sich seine »Gedanken über die atomare Situation« auch für die Analyse der kommenden Klimakatastrophe fruchtbar machen lassen. Gleiches gilt für die Technikanthropologie, in deren Rahmen er diese Gedanken entwickelt hat. »[D]ie Möglichkeit unserer Liquidierung [ist] das Prinzip, das wir allen unseren Apparaten mitgeben« (S. 198), schreibt Anders in »Endzeit und Zeitenende«.
In Anbetracht der Tatsache, dass uns heute viele Wege in den selbst betriebenen Untergang offenstehen, derweil der Irrglaube an solutionistische Rettung in letzter Minute fröhlich weiterwuchert,39 wird man dem schmalen Band – gerade wegen der erwähnten Nachdenklichkeit – eine zweite Karriere als Vademecum für das Anthropozän wünschen müssen. 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wirken die darin enthaltenen Bausteine einer anthropologisch grundierten negativen politischen Theorie der Nuklearmoderne so zeitgemäß wie selten zuvor. Die Lektüre-Empfehlung richtet sich auch an die Geschichtswissenschaft. Denn wenn die zeithistorische Forschung erkunden will, »wie in der (jüngeren) Vergangenheit Gesellschaften und Kulturen ihre Gegenwart und Zukunft im Bann einer nahenden Katastrophe analysierten und Konzepte zu deren Steuerung entwarfen«,40 ja wenn es darüber hinaus sogar »neue Formen der Geschichtsschreibung [braucht], die die rasante Entwicklung unserer Gattung vom mittelgroßen, allesfressenden Primaten zu einer dominanten Kraft im Erdsystem überhaupt erst plausibel machen können«,41 dann ist »Endzeit und Zeitenende« dafür eine wahre Fundgrube.
Anmerkungen:
1 Zu Andersʼ politischem Engagement gegen die Atomgefahr (das bis heute kaum erforscht ist) vgl. Elisabeth Röhrlich, »To Make the End Time Endless«. The Early Years of Günther Anders’ Fight against Nuclear Weapons, in: Günther Bischof/Jason Dawsey/Bernhard Fetz (Hg.), The Life and Work of Günther Anders, Innsbruck 2014, S. 45-57.
2 Im selben Jahr wie Andersʼ Buch erschien auch der einschlägige Report über die »Grenzen des Wachstums«: Donella H. Meadows u.a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Romeʼs Project on the Predicament of Mankind, New York 1972.
3 Günther Anders, Visit beautiful Vietnam. ABC der Aggressionen heute, Köln 1968, S. 179. In der elften Feuerbachthese hatte Karl Marx 1845 den aktivistischen Wahlspruch seines frühen Materialismus geprägt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an[,] sie zu verändern.« (Karl Marx, ad Feuerbach, in: ders., Marx-Engels-Gesamtausgabe IV/3: Exzerpte und Notizen Sommer 1844 bis Anfang 1847, bearb. von Georgij Bagaturija u.a., Berlin 1998, S. 19-21, hier S. 21.) Anders nimmt in der zitierten Glosse mit dem Titel »Verändern genügt nicht« kritisch darauf Bezug.
4 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 2018.
5 Ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 2018, S. 9.
6 Zu Anders als Kritiker der politischen Technologie im Anschluss an bzw. in Ergänzung zu Marx vgl. Jason Dawsey, Marxism and Technocracy. Günther Anders and the Necessity for a Critique of Technology, in: Thesis Eleven 153 (2019), S. 39-56.
7 Vgl. Christian Dries, Günther Anders und die 68er-Bewegung. Synoptisches Mosaik, in: Jens Bonnemann/Paul Helfritzsch/Thomas Zingelmann (Hg.), 1968. Soziale Bewegungen, geistige Wegbereiterinnen, Springe 2019, S. 83-101.
8 Hermann Mörchen, Kassandra, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.3.1972, S. 5.
9 Jean Améry, Rückblick auf die Apokalypse. Zu Günther Andersʼ Anthropologie des homo faber, in: ders., Werke, hg. von Irène Heidelberger-Leonard, Bd. 6: Aufsätze zur Philosophie, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2004, S. 374-380, hier S. 375, S. 377 (ursprünglich in: ZEIT, 7.7.1972).
10 Werner Fuld, Ein streitbarer Friedenstreiber, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 29.11.1981, S. 21.
11 Heinrich Vormweg, Wettlauf in die Katastrophe, in: Vorwärts, 2.9.1982, S. 31.
12 Volker Beck, Ängstige deinen Nachbarn wie dich selbst, in: Psychologie heute, November 1983, S. 79-81, hier S. 81, S. 80.
13 Volker Beck an Günther Anders, 15.1.1984, S. 2, in: Nachlass Günther Anders, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA), Signatur 237/S34 LIT MAG.
14 Er reichte seinerzeit immerhin bis in die Saarbrücker Staatskanzlei (siehe P. Lersch/W. Didzoleit, »Ich allein bin nicht die Mehrheit«. SPD-Vorstandsmitglied Oskar Lafontaine über Abrüstung, Kernenergie und den Kurs seiner Partei, in: Spiegel, 25.8.1986, S. 27).
15 Günther Anders, Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders, Reinbek bei Hamburg 1961 (wieder abgedruckt in: Günther Anders, Hiroshima ist überall, München 1982, S. 191-360).
16 Genaue Verkaufszahlen lassen sich laut Verlag nicht mehr ermitteln. Die Druckauflage der Erstausgabe betrug 3.300 Stück, und noch die 7. Auflage von 2003 lag bei 2.750 Exemplaren. Der Absatz des Buches bewegt sich allerdings seit der 6. Auflage (1993) auf bescheidenem Niveau; bis Ende der 1980er-Jahre hat es sich gut 13.000-mal verkauft, bis heute insgesamt über 17.000-mal. Übersetzungen liegen in französischer (2006/07) und japanischer (2016) Sprache vor, eine norwegische Übersetzung ist für 2025 geplant. Auf Englisch sind nur einzelne Texte verfügbar, z.B. Günther Anders, Theses for the Atomic Age, in: Massachusetts Review 3 (1961/62), S. 493-505.
17 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1 (Anm. 4), S. 261.
18 Ebd., S. 282.
19 Vgl. ebd., S. 20-33, sowie die »Methodologischen Nachgedanken« in: Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2 (Anm. 5), S. 459-480. Zu Anders’ Methode vgl. ausführlich Christian Dries, Exerzitien für die Endzeit. Ad Günther Anders, Hamburg 2023, S. 22-62.
20 Günther Anders, Ketzereien, München 1982, S. 5.
21 Ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2 (Anm. 5), S. 9.
22 Vgl. auch ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1 (Anm. 4), S. 30.
23 Vgl. dazu Ingo Reuter, Weltuntergänge. Vom Sinn der Endzeit-Erzählungen, Stuttgart 2020. Klaus Vondung (Die Apokalypse in Deutschland, München 1988) hat dafür den Begriff der »kupierten Apokalypse« geprägt.
24 Ein Gedanke, den Ulrich Beck (Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986) kurz nach dem »Super-GAU« von Tschernobyl populär gemacht hat.
25 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1 (Anm. 4), S. 265.
26 Vgl. Joseph Masco, The Nuclear Borderlands. The Manhattan Project in Post-Cold War New Mexico, Princeton 2006.
27 Ein Gedanke, den parallel auch Andersʼ Studienfreund Hans Jonas entwickelt (in: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1979).
28 »›Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!‹« (S. 104)
29 Vgl. Bernd Greiner, Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg, München 2015; Georg Schild, 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn 2013.
30 Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von Ilona Stölken-Fitschen, Der verspätete Schock. Hiroshima und der Beginn des atomaren Zeitalters, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen in Verbindung mit der Gesellschaft für Geistesgeschichte (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 139-155.
31 Vgl. Günther Anders, Von »Notstand und Notwehr«, in: natur. Das Umweltmagazin, Dezember 1986, S. 28-34, sowie dazu Dries, Exerzitien für die Endzeit (Anm. 19), S. 63-106. Ausgewählte Reaktionen finden sich in: Günther Anders, Gewalt – ja oder nein. Eine notwendige Diskussion, hg. von Manfred Bissinger, München 1987.
32 Vgl. Deborah Danowski/Eduardo Viveiros de Castro, In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Clemens und Ulrich van Loyen, Berlin 2019; Srećko Horvat, After the Apocalypse, Cambridge 2021.
33 Günther Anders, 10 Thesen zu Tschernobyl. Grußwort an den 6. Internationalen Ärztekongreß zur Verhütung des Atomkriegs, in: psychosozial 29 (1986), S. 7-10, hier S. 8.
34 Vgl. Jakub Kowalewski (Hg.), The Environmental Apocalypse. Interdisciplinary Reflections on the Climate Crisis, London 2023.
35 Guillaume Paoli, Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten, Berlin 2023, S. 73.
36 Vgl. Bernd Greiner, Unser Feind, das Atom. Soll die Europäische Union Nuklearmacht werden?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.5.2024, S. 12. Die Renaissance der atomaren Drohung lässt sich freilich nicht allein am russischen Angriffskrieg auf die Ukraine festmachen. So weist das jüngste SIPRI Yearbook 2024 ein besorgniserregendes Anwachsen der einsatzfähigen nuklearen Arsenale weltweit aus.
37 Siehe das Heidelberger Käte-Hamburger-Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien (CAPAS), das von Ulrich Bröckling und Christine Hentschel kuratierte Dossier »Apokalyptik der Gegenwart« auf Soziopolis sowie Alexander García Düttmann/Marcus Quent (Hg.), Die Apokalypse enttäuscht. Atomtod, Klimakatastrophe, Kommunismus, Berlin 2023; außerdem – mit kritischem Blick auf Anders – Michaël Fœssel, Nach dem Ende der Welt. Kritik der apokalyptischen Vernunft. Aus dem Französischen von Brita Pohl, Wien 2019.
38 Vgl. exemplarisch die Anschlüsse bei Ulrike Ehgartner/Patrick Gould/Marc Hudson, On the Obsolescence of Human Beings in Sustainable Development, in: Global Discourse 7 (2017), S. 66-83; Christopher John Müller, Prometheanism. Technology, Digital Culture and Human Obsolescence, London 2016; Jean-Pierre Dupuy, Petite métaphysique des tsunamis, Paris 2015; Jean-Luc Nancy, Äquivalenz der Katastrophen (Nach Fukushima). Aus dem Französischen von Thomas Laugstien, Zürich 2013; Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs, Berlin 2017 (Sechster Vortrag).
39 Wie Jens Beckert treffend bemerkt, ist technologischer Fortschritt »von enormer Bedeutung für den weiteren Gang der Dinge in Sachen Klimawandel. Doch weder lassen sich Entwicklung und praktische Einsetzbarkeit von Technologien vorhersehen, noch kann man davon ausgehen, dass technologisch machbare Lösungen, so sie denn gefunden werden, dann auch politisch umgesetzt werden. Technologismus ist eine Form magischen Denkens […].« (Jens Beckert, Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht, Berlin 2024, S. 164.)
40 Siehe Margit Szöllösi-Janze, Resilienz. Zur Geschichte eines allgegenwärtigen Begriffs – Thesen zu den Herausforderungen einer modernen Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 72 (2024), S. 559-589, hier S. 573.