Ein Bestseller der Selbstsorge

Der Ratgeber „Die Frau als Hausärztin“

Anmerkungen

Anna Fischer-Dückelmann, Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches Nachschlagebuch der Gesundheitspflege und Heilkunde in der Familie mit besonderer Berücksichtigung der Frauen- und Kinderkrankheiten, Geburtshilfe und Kinderpflege, Stuttgart: Süddeutsches Verlags-Institut 1901; zahlreiche weitere Auflagen und Ausgaben (mit z.T. leicht veränderten Untertiteln).

Cover von 1908 und 1985
Es ist ein Jahrhundertbuch. 1901 mit über 800 Seiten erstmals veröffentlicht – bei späteren Auflagen waren es meist über 1.000 –, erreichte das Buch 1913 die erste Million. 1929 folgte eine „Neue Dritte Millionen-Ausgabe“, die zu dieser Zeit allerdings eher eine Absicht anzeigte als die tatsächlich erreichte Auflage. Denn 1969, nach mehreren Neuauflagen, Volks- und Buchgemeinschaftsausgaben meldete das Süddeutsche Verlags-Institut Julius Meyer, in dem „Die Frau als Hausärztin“ seit 1901 erschienen war, eine Gesamtauflage von „nur“ 3.365.000 Exemplaren. Die letzten Auflagen publizierte 1979, 1985 und 1993 der inzwischen von Random House aufgekaufte und eingestellte Falken Verlag.
 

 

Porträts der Verfasserin in den Ausgaben von 1910 und 1920

Als Autorin nannte die erste Auflage Dr. med. Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917), „prakt. Aerztin in Dresden“. Ab der „500.000 Jubiläums-Ausgabe“ von 1908 wurde auf dem Titelblatt „in Zürich promoviert“ hinzugefügt, da Frauen die Immatrikulation in medizinischen Studiengängen zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch nicht möglich war. Einem größeren Publikum war Dückelmann schon bekannt – als Publizistin zu medizinischen Fragen und als Streiterin für Frauenrechte.1 Geboren in Galizien als Tochter eines k. u. k. Oberstabsarzts, schrieb sie bereits als Heranwachsende einen „erste[n] hygienischen Artikel gegen das Corset im ‚Brünner Tageblatt‘.“2 1876 heiratete sie Arnold Fischer, einen sozialreformerisch orientierten Publizisten. Zwischenzeitlich musste Fischer-Dückelmann ihren kränklichen Mann als Musikredakteur vertreten, bevor sie mit ihrer Familie nach Dresden zog und fortan zu Ernährungs-, Gesundheits- und Frauenthemen publizierte. 1885 war sie an der Gründung der Zeitung „Das Volkswohl“ beteiligt, einem „Organ des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“. Sie gab Broschüren zur Reformkleidung und zu Ernährungsfragen heraus und hielt öffentliche Vorträge in deutschen Städten. 1889 ging sie mit ihrer Familie nach Zürich, um ein Medizinstudium aufzunehmen, das sie 1896, nunmehr 40 Jahre alt, mit der Promotion abschloss. Anschließend arbeitete sie kurz als Assistenzärztin in „einer großen Privat-Heilanstalt Deutschlands“ und ließ sich dann als Ärztin in Dresden nieder, ohne jedoch auf ihre publizistische Tätigkeit zu verzichten. Im Gegenteil: Mit Buchpublikationen zur Geburtshilfe, zu Frauenkrankheiten, zu den „Kleidersünden“ und zum „Geschlechtsleben des Weibes“ meldete sie sich in den folgenden Jahren zu Wort, kritisierte die rabiaten Methoden ihrer männlichen Kollegen, klagte die hygienischen und sozialen Zustände in staatlichen Krankenhäusern an, forderte die verstärkte medizinische Ausbildung von Frauen, plädierte für einen „physiatrischen“ (naturheilkundlichen) Ansatz in der Medizin und setzte sich für die soziale und sexuelle Gleichberechtigung der Frauen ein. „Die Frau als Hausärztin“ ist also Summe und anwendbare Kompilation der Kenntnisse und Wirkungsabsichten einer bereits öffentlich wahrgenommenen Autorin.

Fischer-Dückelmanns Bekanntheit dürfte indes kaum der einzige Grund für den Erfolg des Buchs gewesen sein. Hinzu kam dessen überaus gute Ausstattung. Schon in der ersten Auflage waren laut Titelblatt „448 von ersten Künstlern hergestellte oder nach Original-Akten aufgenommene Text-Illustrationen, 22 Tafeln und Kunstbeilagen in feinstem Farbendruck und d[as] Porträt der Verfasserin“ enthalten. Von 1908 bis mindestens zum Ersten Weltkrieg wurde ein herausnehmbares anatomisches Album mit teilweise zerlegbaren Modellen des weiblichen und des männlichen Körpers beigegeben. Von 1929 bis in die 1960er-Jahre fand sich ein ähnliches Album in den hinteren Buchdeckel eingeklebt. 1913 ergänzte man Kapitel über Erste Hilfe bei Unfällen und Grubenunglücken, über die „Einführung unserer heranwachsenden Kinder in sexuelle Angelegenheiten“ sowie eines über Heilpflanzen mit weiteren elf Farbtafeln.  

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Nicht unwichtig soll die persönliche, allenthalben als „warm“ und volkstümlich bezeichnete Darstellungsweise der Autorin gewesen sein. Im Verlag war seinerzeit – so stellt es ein nachträglicher Bericht dar – nach einem ersten Versuch mit einem ärztlichen Frauen- und Gesundheitsratgeber, der sein Thema „aber allzu abstrakt aufgefasst hatte“, explizit eine persönlichere Form gewünscht gewesen mit der „Wirkung, Frau zu Frau sprechen zu lassen“.3 Zentral für den Erfolg war in jedem Fall der vornehmliche Vertrieb der „Frau als Hausärztin“ über den Reisebuchhandel im Ratenkauf. Julius Müller, Sohn des gleichnamigen ersten Verlegers des Buchs, berichtete, dass für das nunmehr einzige Verlagsprodukt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein eigenes Vertriebsnetz aufgebaut wurde, bei dem in den Großstädten „Reisende [...] zu Spezialisten geschult“ wurden, „denn nur diese gewährleisten namhaften dauernden Erfolg“.4 Einerseits erleichterte der Ratenkauf den Erwerb des hochwertigen und hochpreisigen Produkts. Andererseits konnte auf diese Weise das weibliche Zielpublikum direkt im eigenen Haushalt jenseits des seinerzeit noch als einschüchternde kulturelle Institution wahrgenommenen Sortimentsbuchhandels erreicht werden.

Dies dürfte insbesondere bei den kontroversen, gängige Moralvorstellungen kaum respektierenden Inhalten von Vorteil gewesen sein, die wohl ebenfalls ein Erfolgsgrund waren. Denn „Die Frau als Hausärztin“ ist mitnichten ein Ratgeber in Krankheitsfällen. Vielmehr sind zwei der drei Teile dem „Kind“ und der „Gesundheitspflege“ gewidmet. Unter letzterem wird die Einrichtung der gesamten Lebensführung zur Erhaltung der körperlichen, psychischen sowie sozialen Gesundheit verstanden, und dazu gehören auch die Empfehlungen, dass Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen und ein erfülltes „Geschlechtsleben“ haben sollten, das auf über 40 Seiten mit größter Offenheit geschildert wurde. Detailliert nachlesen lassen sich Beschreibungen des weiblichen Orgasmus und Anleitungen zum Gebrauch von Verhütungsmitteln.

Auch in dem alphabetisch geordneten Teil zur „giftfreien Heilkunde“ bleiben gesunderhaltende Maßnahmen das Leitthema. Fischer-Dückelmann lehnt die schulmedizinische Symptombehandlung rundweg ab und setzt dagegen auf Ganzheitlichkeit, die sich neben dem Einsatz von Hausmitteln und Heilkräutern auf die gesamte Lebensführung bezog. So finden sich auf einer Doppelseite der Ausgabe von 1910 (S. 792f.) unter anderem Einträge zum Tanzen („Mäßig geübt schadet es dem Gesunden nicht“, sollte aber „nur in reiner Luft und lockerer Kleidung ausgeführt werden“), zur Taubheit und zum „Taulaufen“: „Unser Bild Fig. 438 zeigt die Verfasserin […] mit einer kleinen Schar von Patientinnen, wie sie morgens zu früher Stunde in heiterster Stimmung im taufrischen Grase waten und sich dabei einen prächtigen Appetit zum Frühstück holen. [...] [W]o Gras und freier Himmel ist, dort empfehlen wir jedem, zur Erfrischung und zur Kräftigung diesem schönen Beispiel zu folgen.“

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Nicht zuletzt wegen der willkürlich anmutenden Zusammenstellung wird auch im heilkundlichen Teil immer wieder auf das systematische Kapitel zur Gesundheitspflege und die dort propagierten Grundsätze verwiesen. Diese beziehen sich im Wesentlichen auf Ernährung, Einrichtung und Kleidung, Bewegung und Hygiene – stets verbunden mit psychischen und sozialen Aspekten. Bei der Ernährung wird vollständiger Verzicht auf Fleisch, Gewürze und insbesondere Alkohol empfohlen. Positiv bewertet sind dagegen Obst und ungekochtes Gemüse, Milch und Kornschrot statt Brot. Schädlich ist nach Fischer-Dückelmann allzu viel Feuchtigkeit. Ein nicht schwer arbeitender Mensch brauche bei normaler Ernährung nicht zusätzlich zu trinken. Für die Einrichtung der Wohnung empfiehlt sie viel Luft und Licht. In jedem Garten solle man zum Familiengebrauch Plätze errichten, an denen, vor Blicken geschützt, sommers wie winters möglichst unbekleidet „luftgebadet“ werden könne. Ebenso wichtig sei regelmäßige Bewegung, wenn auch echte „Sportsübungen“ („Wir gebrauchen hier das uns nicht sympathische Fremdwort“) nur maßvoll ausgeführt werden sollten (1910, S. 180). Besonderes Gewicht legt die Autorin auf die „Pflege der Schönheit“, wobei sie jede Art von Hygiene propagiert (wenn auch unter möglichst geringer Anwendung von Wasser), Schmuck und Schminke aber ablehnt.

Mit solch einer vorsorgenden Regulierung des Lebens ließen sich alle Zivilisationskrankheiten vermeiden. Grundsätzlich geht es in Fischer-Dückelmanns Gesundheitslehre und der Reformbewegung überhaupt darum, vorzubeugen und im Krankheitsfall ganzheitliche, das gesamte „Leben“ betreffende Maßnahmen zu empfehlen, statt Symptome zu behandeln. Die Errungenschaften der Schulmedizin gelten ihr daher weitgehend als überflüssig, ja sogar schädlich, denn die Folge der „stark wirkenden Arzneien“ sei oft ein „unheilbares Arzneisiechtum“, in dem der „Organismus immer mehr seine Widerstandskraft“ verliere und „sich gefährliche Ablagerungen im Körper“ bildeten. „Halte man wenigstens die Kinder frei von Arznei und erstrebe in jedem Hause eifrig jene Gesundheitspflege, wie wir sie im I. Teil geschildert haben. Dann wird man das Dasein der Arzneien überhaupt ganz vergessen.“ (1910, S. 449f.) Auch der – schulmedizinisch ausgebildete – Arzt solle ein „Hüter der Gesundheit“ werden, „statt wie bisher ausschließlich aus dem Elend seiner kranken Mitmenschen Nutzen zu ziehen“ (S. VIf.). Präventionsmaßnahmen wie das Impfen können Fischer-Dückelmanns Wohlwollen allerdings kaum finden. Im Gegenteil befürchtet sie eine Vergiftung der Kinder sowie die Untergrabung der Volksgesundheit und empfiehlt „zum Schutze der Kinderwelt“ angesichts der Pflichtimpfung gegen Pocken rundweg: „Wer es vermag, verlasse Deutschland, bis die Kinder erwachsen sind, oder verschaffe sich im Auslande Impfzeugnisse, wo das Verfahren weniger streng geübt wird.“ (S. 383)

Solch radikale Positionen riefen selbstredend die Kritik von Sittenwächtern und vor allem von Ärzten hervor. Als 1910 ein Konkurrenzprodukt erschien, das „auf einwandfreier wissenschaftlicher Grundlage und reicher ärztlicher Erfahrung“ basierte, hofften die Kritiker, dass damit die „leider so weit verbreiteten Bücher der F... D...“ verdrängt würden.5 1914 entschuldigte sich Adolf Braun, Herausgeber einer „Monatsschrift für die Gesundheitspflege der Zucker- und anderer Stoffwechsel-Kranken“, öffentlich für eine in seiner Zeitschrift erschienene Anzeige für Fischer-Dückelmanns Buch.6 Und auch der Verlag bemerkte, dass ein anderes Buch, Bella Müllers „Die Familienärztin“, im Unterschied zur „Hausärztin“ „von vornherein die ungeteilte Zustimmung der Ärztekreise“ erreichte.7 Trotz aller Kritik wurde „Die Frau als Hausärztin“ zwar von Auflage zu Auflage ergänzt und überarbeitet, ab 1913 etwa bei der Empfehlung des „Impfexils“ deutlich abgemildert, blieb zunächst aber grundsätzlich unverändert.

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Erst 1929 erschien eine „völlig neu bearbeitete“ Ausgabe. Zwölf Jahre nach dem Tod der Autorin und nach dem Ausscheiden ihres Verlegers aus dem Geschäftsbetrieb sah dessen Sohn die Zeit gekommen, das „vollkommen veraltete“ Buch von dem jüdischen Hydrotherapeuten Hans Behrend, mithin ebenfalls einem Naturheilkundler, neu schreiben zu lassen. Es wurde eine Teilung in zwei Großkapitel vorgenommen – „Der gesunde Mensch“ und „Der kranke Mensch“ – und im letzteren der alphabetische Teil eingegliedert, der nun ausschließlich „Krankheiten und ihre Behandlung“ umfasste. Zum Impfen war die Haltung der „Hausärztin“ nunmehr deutlich angepasster (1929, S. 216): „In Deutschland besteht gesetzlicher Impfzwang. Die darauf abzielenden Anordnungen der Behörden, über deren Einzelheiten verschiedene Ansichten herrschen können, müssen befolgt werden.“ Eine gesundheitsbewusste Lebensführung mit ähnlichen Grundsätzen zu Ernährung, Hygiene und Bewegung oder „Luftbädern“ blieb indes auch in der überarbeiteten Fassung wichtig. Allerdings wird Frischluft nun weniger im heimischen Garten genossen, sondern eher in Gruppen mit Gleichaltrigen bei außerhäuslichen Freizeitaktivitäten, zu denen jetzt ausdrücklich auch in Vereinen ausgeübte Leibesübungen wie Leichtathletik, Rudern, Tennis oder Skifahren gehören. Neben dem sozialen Wandel artikuliert sich darin eine neue Einstellung zum Breitensport in der Weimarer Republik. Auch die Form der Vorsorge hat sich gewandelt. Es ist nun weniger die Rede von Gesunderhaltung mithilfe von Rohkost und Taulaufen. „Die Entstehung akuter wie chronischer Leiden“ könne vielmehr „durch vernünftige Abhärtung weitgehend verhinder[t]“ werden. „Abhärtung besteht zunächst darin, daß man zuerst die natürlichen Funktionen des Körpers regelt, daß man alles, was diese stört, vor allem schädliche und überflüssige Kleider energisch beseitigt […]. Durch Luftbäder, Barfußgehen und Liegen auf freier Erde bringt man den Körper bald zu natürlicher Widerstandskraft und Unempfindlichkeit.“ (S. 538f.)

Zur Schulmedizin hat sich die Haltung der „Hausärztin“ ebenfalls entspannt. „Unser Streben ist es, auf wissenschaftlicher Grundlage einen versöhnlichen Ausgleich unter den bestehenden ‚Richtungen‘ zu schaffen“, deren „Kampf [...] zu einer Krise der Medizin geführt hat.“ (S. 539) Dieser „Ausgleich“ könne jedoch nur auf naturheilkundlicher Grundlage gelingen, indem vom Gesundmachen zum Gesunderhalten übergegangen werde und mit einer planmäßigen Lebensführung Krankheiten verhindert statt Symptome behandelt würden. Nur bei akuter Lebensgefahr und wenn „der Körper auf physikalische Reize nicht mehr antworten kann“, seien biochemische Arzneien angezeigt (S. 547). Mit dem Verweis auf die „Krise der Medizin“ und die grundsätzliche Bevorzugung der Naturheilkunde war die „Hausärztin“ nicht allein. „Nach zeitgenöss. Schätzungen lag die Zahl der Heilpraktiker ungefähr genauso hoch wie die der Ärzte der Schulmedizin (jeweils etwa 50.000). Die Naturheilkundebewegung hatte in den 30er Jahren ca. eine halbe Mio. in Verbänden und Vereinen organisierte Mitglieder sowie sechs bis zehn Mio. Anhänger im Deutschen Reich.“8

„Im Dritten Reich [...] [stand] Fischer-Dückelmann ‚Die Frau als Hausärztin‘ auf der Liste des unerwünschten Schrifttums“. Erst nach einer „gründlichen Bearbeitung“ sei das Buch „wieder in Gnaden zugelassen“ worden, so der Verlag 1951.9 Die Bearbeitung umfasste, so war auf der entsprechenden Ausgabe von 1936 vermerkt worden, insbesondere „alle rassehygienischen Forderungen des neuen Deutschlands“. Zum Erscheinen dieser Ausgabe und zu seinem eigenen 60-jährigen Bestehen veröffentlichte das Süddeutsche Verlags-Institut eine Broschüre mit „Original-Urteilen“ aus der „N.S.-Presse“, der sonstigen Presse sowie „früheren“ und „neuesten Ärzteurteilen“ über „Die Frau als Hausärztin“, die etwa die Tauglichkeit des Buchs „zu Vorträgen bei SA.-, SS.- und Wehrformationen“ bestätigten.10 Vor dem Inhaltsverzeichnis fanden sich nunmehr zwei separate, römische paginierte Beiträge zur Rassenhygiene von Bernhard Hörmann, Mitglied der Abteilung Gesundheitspolitik der Reichsleitung der NSDAP, und Arnulf Streck, der bereits am „Marsch auf die Feldherrnhalle“ teilgenommen hatte.11 Angefügt wurde auch ein Kapitel zur „Laienhilfe bei Luftangriffen“.

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Erhalten blieb indes die naturheilkundliche Ausrichtung. Einer der neuen „Herausgeber“ des Buchs, Oskar Väth, war Leiter des Reichsverbands der Naturärzte und ab 1935 Geschäftsführer der Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde, die eine völkische Gesundheitsförderung unter Einschluss rassehygienischer und erbbiologischer Gedanken propagierte. In der „Enzyklopädie der Medizingeschichte“ von 2005 heißt es zur Neuen Deutschen Heilkunde: „Ziel war die Hebung und Erhaltung der ‚Volksgesundheit‘, wobei der Schwerpunkt v.a. auf präventive Maßnahmen zur Gesunderhaltung und Leistungssteigerung, wie institutionalisierten Sport und Leibesübungen oder diätetische Vorgaben, gelegt werden sollte. Jedem Deutschen wurde dabei eine ‚Pflicht zur Gesundheit‘ auferlegt, Krkh. galt als sitten- und pflichtwidriges Versagen oder Ergebnis einer fehlerhaften Lebensweise.“12 Insoweit konnte an die „Hausärztin“ durchaus angeknüpft werden, und die Ausgabe von 1929 blieb in der Substanz unverändert.
 

 

Cover von 1920 und 1936

An innertextlichen Veränderungen lassen sich im Wesentlichen Straffungen und Kürzungen nachweisen, wenn Forschungen jüdischer Ärzte erwähnt oder Verhütungsmittel und Schutzmaßnahmen gegen Geschlechtskrankheiten besprochen wurden. Diese seien überflüssig, da der neue Staat die frühe Eheschließung ermögliche. Insofern würden „[u]nsere ehefähigen jungen Männer und Frauen [...] entschlossen den Kampf um Fortbestand und Leben der deutschen Familie, der Art und der Rasse führen“ (1936, S. 78). Anstelle der Kapitel über „Geburtenrückgang und Schwangerschaftsverhütung“ sowie „Verhütungsmittel“ finden sich nun Kapitel über „Geburtenrückgang und Bevölkerungspolitik“ sowie zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Von dem „maternal feminism“ Fischer-Dückelmanns, der zwar in der Mutterschaft die Lebenserfüllung sah, aber vor allem den „dornenreichen Lebensweg“ der Frau betraf (1901, Vorwort), blieb kaum etwas übrig. Stattdessen gab es nun die auf die „Volksgemeinschaft“ gerichtete Mutterschaftsideologie (1936, S. 77f.): „Die Frau ist die Seele der Familie, sie ist die erwärmende Sonne für die Ihren, in ihren tätigen Händen liegt das Wohl und Wehe des ganzen Hauses. […] Mütter haben wir nötig in unseren ernsten Tagen, die nicht nur die Forderungen der Zeit begreifen, sondern auch ihrem Volke vollwertige Kinder schenken, die dereinst als kraftvolle Glieder in die Volksgemeinschaft eingereiht werden können.“ Einer Korrektur der Grundsätze zur Lebensführung bedurfte es dafür nicht. Das gilt auch für die weitgehend identische Auflage von 1941.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es um die „Hausärztin“ ruhiger. Die Jahresauflagen bemaßen sich nur noch in Zehntausenden. Im Vorwort zur 3., durchgesehenen Auflage von 1956 heißt es, dass die „ersten Ausgaben dieses Buches [...] einen ausgesprochen kämpferischen Charakter“ trugen, dass nunmehr aber der „Kampf zwischen der Schulmedizin und Naturheilmethode [...] der Vergangenheit“ angehöre (S. 6). Allerdings war für den friedfertigen Charakter der „Hausärztin“ nicht nur der – vermeintliche – Ausgleich der Gegensätze unter den „Grundsätze[n] der Ganzheitsmedizin“ verantwortlich. Zudem gab es neuerliche Überarbeitungen, die weiterhin unter dem Namen Dr. E.A. Müller publiziert wurden, obgleich wesentliche Teile vom 1936 aus dem Buch entfernten Hans Behrend stammten.

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Immer knapper wurden die Abschnitte, die sich mit dem „gesunden Menschen“ befassten. Abgesehen von Mutterschaft, Geburt und Säuglingspflege sind es 1969 nur noch 136 von 960 Seiten, während es in der Erstausgabe 256 von 832 gewesen waren. Zwar werden weiterhin Rohkost und Luftbäder empfohlen – nunmehr im Schrebergarten –, wird auch Ausgleichsgymnastik für die berufstätige Frau nahegelegt – vorzugsweise die im Radio angebotene Frühgymnastik –, aber weitgehend entfallen sind die klaren Aussagen Fischer-Dückelmanns, die Ablehnung von Fleisch und Alkohol oder der Einbezug der psychischen und sozialen Gesundheit. Abgesehen von der Einleitung, in der erklärt wird, das Buch wolle „Lebensfreude“ vermitteln – „[e]ine gesunde Ernährung ist die Grundlage dazu. Ebenso wichtig sind eine zielbewußte Körperpflege mit ausreichender Abhärtung und Vermeidung unvernünftiger Übertreibungen“ (1956, S. 7) – finden sich kaum noch Passagen, die Vorsorgemaßnahmen statt ärztlicher Therapien empfehlen. Im Glossar wird in den Ausgaben der 1950er-Jahre das Wort „präventiv“ in der Bedeutung von „vorbeugend“ eingeführt. Auch damit wird die zuvor breiter verstandene Gesunderhaltung nun einzelnen medizinischen Vorbeugemaßnahmen zugeschrieben. Ein neues drittes Großkapitel zu den „Methoden, Arzneien und Kuren“ behandelt zwar Schulmedizin und Naturheilkunde parallel, bietet indes eher technisch-medizinische Darstellungen als konkrete Handlungsanweisungen. Denn stets müsse in gesundheitlichen Fragen der Arzt hinzugezogen werden. Auch beim Impfen wird die Durchführung beschrieben und der Umgang mit Impfbeschwerden erläutert, ohne dass damit Negatives impliziert wäre. In der 5., neu bearbeiteten und ergänzten Auflage von 1969 findet sich sogar ein Impfkalender, der bis zum Alter von eineinhalb Jahren sieben Impfungen empfiehlt (S. 195).

Dass die „Hausärztin“ von umfassender Lebenshilfe zum populärwissenschaftlichen Ratgeber im Baukastenprinzip wurde und damit gerade keine Handlungsentlastung mehr bieten konnte, unterstreicht auch die letzte Überarbeitung von 1979. Im Vorwort ist nur noch davon die Rede, dass mit dem Buch „dem Kranken wie dem Gesunden, der entsprechende Informationen sucht, auf anschauliche und verständliche Weise“ geholfen werden soll (S. 5). Zwar enthält das dritte Kapitel 1979 ausschließlich „Methoden der Naturheilkunde“ unter Einschluss von „chinesische[r] Medizin“ und autogenem Training; es fehlt jedoch der weltanschauliche Rahmen, mit dem Fischer-Dückelmann Lebensreform und Gesundheit verbunden hatte. Im Register fehlen Lemmata wie Vorsorge, Vorbeugung oder Prävention. Trotz zweier Nachauflagen 1985 und 1993 scheint auch der Verkaufserfolg ausgeblieben zu sein. In den Haushalten der Bundesrepublik dürfte nach und nach ein anderes Buch an die Stelle der „Hausärztin“ getreten sein, das erstmals 1984 erschien und 2013 im 425.-440. Tausend vorliegt: die „Kindersprechstunde“, die – nunmehr ausschließlich auf die Kindererziehung bezogen – wiederum ein ganzheitliches, soziale und psychische Bedingungen einschließendes Gesundheitskonzept unter anthroposophischen Vorzeichen entwirft; mit ähnlich deutlichen Meinungen zum Impfen wie bei Fischer-Dückelmann.

Dass die in Ratgebern verbreiteten Empfehlungen kaum unmittelbar die Lebenswirklichkeit widerspiegeln, sondern eher als „Ausdruck kultureller Bedürfnislagen“ zu interpretieren sind, hat die neuere Ratgeberforschung erwiesen.13 Insofern ließen sich die Impfskepsis, die Empfehlung eines Lebens an frischer Luft und die Ernährung mit nicht-industriell gefertigten Lebensmitteln als Indikatoren der Sehnsucht nach einer freilich nur konstruierten Vormoderne verstehen, in der die Verfügung über Lebensstil und Gesundheit jedem und jederzeit möglich ist. Zentral sind für diesen Lebensstil die Vorsorgemaßnahmen. Doch ist die dahinterstehende Sehnsucht eine zutiefst moderne: Verschiedene „Technologien des Selbst“ schaffen erst das Subjekt und seinen Körper als zu beherrschenden und zu optimierenden Apparat.14 Dass gerade die Autorin Anna Fischer-Dückelmann und ihr Buch dabei als immer neu formbares Markenzeichen fungieren und insofern vormodernen Konzepten von Autorschaft näher kommen als modernen, ist eine besondere Pointe.

Anmerkungen: 

1 Die folgenden bio- und bibliographischen Angaben nach Paulette Meyer, Physiatrie and German Maternal Feminism: Dr. Anna Fischer-Dückelmann Critiques Academic Medicine, in: Canadian Bulletin of Medical History 23 (2006), S. 145-182; Annemarie Körner-Peth, Anna Fischer-Dückelmann, in: Deutsche Schwesternzeitung 11 (1958), S. 344f.; Anna Fischer-Dückelmann, [Autobiographische Skizze,] in: Jahresberichte des Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 1897/98, S. 51ff.

2 Ebd., S. 52.

3 Julius Müller jun., 75 Jahre Süddeutsches Verlags-Institut Julius Müller Nachf. Stuttgart, Stuttgart 1951, S. 9.

4 Ebd., S. 12; vgl. auch Christine Haug/Natalie Kruse, Geschichte des Versandbuchhandels von seinen Anfängen in den 1860er Jahren bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2004, S. 77f.

5 Zit. nach Johanna Bleker, Die ersten Ärztinnen und ihre Gesundheitsbücher für Frauen. Hope Bridges Adams-Lehmann (1855–1916), Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917) und Jenny Springer (1860–1917), in: Eva Brinkschulte (Hg.), Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Berlin 1994, S. 65-83, hier S. 78.

6 Vgl. Meyer, Physiatrie and German Maternal Feminism (Anm. 1), S. 147.

7 Müller, 75 Jahre Süddeutsches Verlags-Institut (Anm. 3), S. 17.

8 Matthias Meusch, Art. „Neue Deutsche Heilkunde“, in: Werner E. Gebarek u.a. (Hg.), Enzyklopädie der Medizingeschichte, Berlin 2005, S. 1031f., hier S. 1032.

9 Müller, 75 Jahre Süddeutsches Verlags-Institut (Anm. 3), S. 17.

10 Original-Urteile über Dr. med. Anna Fischer-Dückelmann: Die Frau als Hausärztin. Ein Ratgeber in gesunden u. kranken Tagen nach d. Grundsätzen d. modernen Naturheilkunde, München o.J. [1936], S. 31.

11 Vgl. Winfried Süß, Der Volkskörper im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003, S. 113.

12 Vgl. Meusch, Art. „Neue Deutsche Heilkunde“ (Anm. 8), S. 1031f.

13 Timo Heimerdinger, Der gelebte Konjunktiv. Zur Pragmatik von Ratgeberliteratur in alltagskultureller Perspektive, in: Andy Hahnemann/David Oels (Hg.), Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2008, S. 97-108, hier S. 106f.

14 Vgl. dazu mit Bezug auf Ratgeber Stefan Rieger, Arbeit an sich. Dispositive der Selbstsorge in der Moderne, in: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hg.), Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002, S. 79-96.

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