Die Lust an der Vergangenheit

Kommentar zu Aleida Assmann

Anmerkungen

Erinnerung ist die Pathosformel unserer Zeit. Sie ist eine der wichtigsten Orientierungsmarken für die kulturelle Selbstverständigung in der westlichen Welt der Gegenwart, gleichviel, ob es um den Umgang mit der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts geht oder um das Modell eines künftigen Europa. Parteiprogramme und Koalitionsverträge kommen nicht mehr ohne geschichtspolitische Bekenntnisse aus; Gedenkstättenkonzeptionen sind ein wichtiger Aspekt politischen Handelns geworden; städtebauliche Grundsatzplanungen kreisen um die Aneignung der ‚historischen Mitte‘, und noch die öffentliche Diskussion über den Umbau der Berliner Staatsoper vollzog sich 2008 in der ungleichen Auseinandersetzung zwischen Klang und Aura, bei der die historisierende Gestalt eines Baues von 1953 wie selbstverständlich den Sieg über die künstlerische Funktionalität und architektonische Modernität eines Alternativentwurfs davontrug. Ungeachtet aller mit ungebrochener Selbstverständlichkeit erwarteten Fortschritte in den Natur- und Lebenswissenschaften: In der sinnweltlichen Grundorientierung hat die Vergangenheitsvergewisserung des 21. Jahrhunderts die Zukunftsgewissheit des 20. Jahrhunderts in erstaunlichem Maße abgelöst, wie Hermann Lübbe in kulturkritischer Perspektive schon vor 25 Jahren diagnostizierte, als er die Kombination von „Traditionsgeltungsschwund“ und „Zukunftsgewißheitsschwund“ zur Ursache „kompensatorischer Konservierungsakte“ erklärte.1

Aleida und Jan Assmann haben das sich damit öffnende Feld der geisteswissenschaftlichen Forschung erschlossen. Sie zählen zu den Pionieren einer Gedächtniswissenschaft, die „die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder - Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht - in neuen Zusammenhängen sehen läßt“.2 Mit ihrem Vortrag in der vom ZZF veranstalteten Reihe „Dialog der Disziplinen“ macht Aleida Assmann sich zur Anwältin einer biographischen Erinnerung, die sich aus ihrer dienenden Haltung als Quellenlieferantin der Geschichtswissenschaft in der Oral History gelöst hat und nun begehrt, als eigenständige Akteurin der Vergangenheitsvergegenwärtigung respektiert zu werden - gleichberechtigt und auf Augenhöhe. Die historische Fachdisziplin hingegen reagiert, so warnt Aleida Assmann, zum Schaden der eigenen Bedeutung auf die Karriere des Gedächtnisses, wie es jeder in seiner Monopolstellung bedrohte Platzhalter zu tun pflegt: verstört und abweisend.

Man mag darüber streiten, ob diese Diagnose einer fachlichen Abwehrhaltung überhaupt zutrifft. Gerade in der Zeitgeschichte lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass die Realgeschichte historischer Phänomene und Ereignisse durch ihre Rezeptionsgeschichte mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt worden ist, wie sich nicht zuletzt an der Holocaustforschung zeigt. In Bezug auf die DDR und die Kommunismusforschung wird im kommenden Jubiläumsjahr 2009 zu fragen sein, inwieweit das Interesse an der Umbruchsgeschichte von 1989/90 überhaupt noch die Oberhand über das Interesse an der Aufarbeitungsgeschichte nach 1989/90 behalten wird. In jedem Fall stellt der memorial turn die historische Disziplin vor die Aufgabe einer fachlichen Selbstverortung, in der bisher noch nicht einmal die Grundfrage entschieden ist, ob die Wissenschaft von der Geschichte sich (mit Hans Günter Hockerts) als Gegenspieler oder (mit Christoph Cornelißen) als integraler Bestandteil der Erinnerungskultur unserer Zeit begreifen will.3

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Schon dies zeigt, wie produktiv die Fragen sind, die Aleida Assmann stellt, und welche Bedeutung sie für die künftige Entwicklung der Geschichtswissenschaft haben. Im Mittelpunkt ihrer Argumentation steht der Zeitzeuge, der die Lebendigkeit der Geschichte wach halte. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust stellt der Zeitzeuge ihrer Argumentation zufolge allerdings weit mehr dar, nämlich ein Vermächtnis, einen „kostbaren Schatz“, dessen „historisches und moralisches Gewicht“ Anspruch auf Übernahme durch die nicht betroffene Nachwelt hat. Hierzu führt Aleida Assmann im Anschluss an Avishai Margalit die Figur des „moralischen Zeugen“ ein, dessen Erinnerungen „sich gelegentlich als faktisch inakkurat erweisen“ mögen, ihn gleichwohl aber dank ihrer Authentizität und ihres oft traumatischen Gehaltes im Vergangenheitsdiskurs der Gegenwart mit der „Autorität“ „gesellschaftlich akkreditierter Zeugen“ ausstatten.

In dieser Aufwertung der Zeugenschaft und besonders des Opferzeugnisses spiegelt sich erkennbar die eigene Verwurzelung in einer westeuropäischen und atlantischen politischen Kultur, für die der Zivilisationsbruch von Auschwitz zur Basis der kulturellen Selbstverortung geworden ist. Dass die Welt des stalinistischen Menschheitsverbrechens hingegen nur beiläufig auftaucht, mag dem Bemühen geschuldet sein, der so leidigen wie fruchtlosen Debatte um Diktaturgleichsetzung und Opferkonkurrenz zu entgehen. Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass die sakralisierende Autorisierung der aus eigenem Erleben schöpfenden Überlebenserinnerung angesichts der insgesamt so viel geringeren gesellschaftlichen Anerkennung des GULag-Leidens in den Ländern des früheren sowjetischen Herrschaftsbereichs an Plausibilität einbüßt.

Doch das Problem reicht tiefer: Die Autorität des moralischen Zeugen mit der Autorität des historischen Forschers auf eine Stufe zu stellen verträgt sich nicht mit dem disziplinären Selbstverständnis einer Geschichtswissenschaft, die auch im Zeichen eines kulturgeschichtlichen Paradigmas dem Konzept der historischen Wahrheit nicht völlig abschwören will. Die Anerkennung des biographischen Zeugnisses als eines legitimen Konkurrenten um die historische Deutungsmacht droht ungewollt die Scheidelinie von Faktizität und Fiktionalität zu verwischen, und es verknüpft Erkenntnis und Moral unter demokratischem Vorzeichen kaum weniger eng, als es die politisch gebundene Geschichtswissenschaft der sozialistischen Staatenwelt ein halbes Jahrhundert lang mit ihrem Dogma der Einheit von Objektivität und Parteilichkeit unter diktatorischer Herrschaft tat. Die Alarmglocken des Faches müssen schrillen, wenn Aleida Assmann das theoretisch so entwickelte Instrumentarium zur Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Narrative in der Oral History als „Erzählungen anonymer Geschichtszeugen“ der Beglaubigungskraft auch ‚faktisch inakkurater‘ Zeugnisse nachgeordnet wissen will, die dafür aber mit der Aura biographischer Unmittelbarkeit ausgestattet sind. Hier droht nicht weniger, als dass mit dem Pathos der Erinnerung die Geschichte wieder zum Mythos wird.

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In einem zweiten Argumentationsschritt bettet Aleida Assmann die fachliche und öffentliche Rolle des Zeitzeugen in die unterschiedlichen Strategien ein, die die Verarbeitung der NS-Vergangenheit seit 1945 bestimmt haben. Die Fortsetzung der zunächst dominanten „Strategie des Vergessens“ hat sich angesichts der Schwere des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens als dauerhaft unmöglich erwiesen und wurde von einem heute gültigen „Erinnerungsvertrag“ abgelöst, der im gemeinsamen Erinnern die historische Wahrheit rehabilitiert und den Opfern die Last des Erlittenen zu tragen hilft. Als weitere Form der Bewältigung einer traumatischen Vergangenheit hat sich das „transitorische Erinnern“ erwiesen, das historische Schuld mit dem therapeutischen Ziel ihrer Überwindung wachruft. Für die Zukunft Europas schlägt Aleida Assmann schließlich ein viertes Modell des „dialogischen Erinnerns“ vor, das den nationalen Verständigungsrahmen sprengt und ein europäisches Gedächtnis installiert, in dem die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in ihren unterschiedlichen Täter-Opfer-Konstellationen als im doppelten Sinne geteilte Geschichte erzählt werden kann.

Das besondere Verdienst dieser Modellbildung liegt darin, dass sie Erinnern und Vergessen als eine Einheit betrachtet. Der Umgang mit der Vergangenheit steht immer in der Spannung zwischen Memoria und Amnesie, und Aleida Assmann macht überzeugend darauf aufmerksam, dass in der Geschichte der menschlichen Zivilisation seit der Antike nicht das Erinnern, sondern weit stärker das Vergessen den Umgang mit den schwierigen Erbschaften der Vergangenheit bestimmt hat - nach dem Peloponnesischen Krieg und der Ermordung Caesars nicht anders als nach dem Dreißigjährigen Krieg.

Zugleich provoziert die Typisierung des Verhältnisses von Erinnern und Vergessen allerdings Einwände, deren erster sich auf den überzeitlichen und interkulturellen Geltungsanspruch des Modells und seiner Kategorien richtet. Lassen sich so unterschiedliche Phänomene wie die westdeutsche Schlussstrichmentalität der 1950er-Jahre und die afrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen der 1990er-Jahre auf einer gemeinsamen, an den Polen des Erinnerns und des Vergessens ausgerichteten Skala vergleichen? Aleida Assmann kann so verfahren, weil sie ihren Überlegungen einen psychoanalytisch geschulten Deutungsansatz zugrunde legt, der den gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit als Trauerarbeit zu begreifen erlaubt und die unterschiedlichen Muster der Vergangenheitsbewältigung als Strategien zur Heilung einer psychosozialen Störung in Gestalt „negativer Erinnerungen“, „depressiver Schatten“ und „schwerer Traumatisierung“ definiert.

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Eine solche Übernahme des Traumabegriffs in die historische Erkenntnisbildung ist allerdings keineswegs unproblematisch.4 Sie ersetzt historische Wertmaßstäbe durch anthropologische bzw. therapeutische,5 und sie tendiert dazu, alle nicht auf erinnernde Aufarbeitung orientierten Repräsentationen der Vergangenheit als kulturelle Anomalien zu deuten, die angesichts der traumatischen Last der Vergangenheit zum „Scheitern“ führen können oder gar eine durch Erinnerungsschübe hervorgerufene Wiederkehr des Verdrängten provozieren. Den von Aleida Assmann verwendeten Leitkategorien der Gedächtnisforschung ist damit eine unbefangene Parteinahme für die Überlegenheit der eigenen Vergangenheitsvergegenwärtigung gegenüber anderen Zeiten und Kulturen gleichsam schon begrifflich eingebrannt. Ihr Typenmodell verleiht einem opferzentrierten Modell der kompensatorischen Vergangenheitsbesinnung überhistorische Geltung, das selbst heute nur im europäischen Westen akzeptiert ist und auch dort erst seit wenigen Jahrzehnten.

Als Selbstauskunft über den westlichen Gedenkkonsens der Gegenwart ist das von Aleida Assmann entwickelte Strategienbündel zur Bewältigung der Last einer genozidalen und kriegerischen Gewaltvergangenheit einleuchtend und hilfreich. Als zeithistorisches Interpretationskonzept hingegen steht es im Widerspruch zu der vielfach gesicherten Erkenntnis, dass die Vergangenheitsverarbeitung sozialer Gruppen in der Moderne in aller Regel weder primär gezielten Strategien folgt noch gar ein Bewusstsein ihrer Unzulänglichkeit oder gar des verdrängenden Ausweichens in sich trägt, sondern sich stets an den sinnweltlichen Normalitätsstandards ihrer Zeit ausrichtet. Selbst das von Hermann Lübbe diagnostizierte „kommunikative Beschweigen“ der Vergangenheit wurde erst im Nachhinein fassbar, und der Beweis wäre leicht zu führen, dass auch die 1950er-Jahre keineswegs allein eine Zeit der Stille darstellten, sondern zugleich durch eine permanente Aufrufung der Vergangenheit gekennzeichnet waren6 - nur geschah dies eben nicht auf Grundlage derselben Orientierungsmuster, die unseren heutigen Erinnerungsdiskurs leiten.

Wie problematisch es ist, die geschichtskulturellen Wertvorstellungen der eigenen Gegenwart zum Maßstab der historischen Urteilsbildung zu machen, zeigt sich an der von Aleida Assmann selbst erläuterten Bedeutung des verordneten Vergessens in der dreitausendjährigen Geschichte der europäischen Zivilisation. Über die Jahrhunderte hinweg ließ sich die Last der Vergangenheit offenbar überwiegend erfolgreicher und politisch integrativer durch entschlossene Abkehr von ihr statt durch fortwährende Hinwendung zu ihr tragen. Allein die Sogkraft der Pathosformel der Erinnerung in unserer Zeit verleitet zu dem zweifelhaften Schluss, dass das Vergessen zumindest unter den Bedingungen extremer Gewaltausübung auf Dauer zum Scheitern verurteilt sei: Noch ist keineswegs ausgemacht, wie unhaltbar beispielsweise das postsowjetische Schweigen über den stalinistischen Terror langfristig sein wird und ob es sich tatsächlich zu einer schwärenden Belastung der politischen Kultur Russlands auswachsen wird. Auch die Gewalterfahrung des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 und wieder des Ersten Weltkrieges besaßen in zeitgenössischer Perspektive einen historisch unerhörten Ausnahmecharakter, ohne doch deswegen eine besondere „Erinnerungsqualität“ zu schaffen, wie es nach dem therapeutischen Modell zur Verarbeitung traumatisierender Vergangenheiten hätte sein müssen.

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Das Kernproblem des von Aleida Assmann zur Diskussion gestellten Modells liegt darin, dass es seine gedächtniswissenschaftlichen Analysekategorien nicht selbst als historisch wandelbar auffasst. Tatsächlich aber unterliegt nicht nur die Relation zwischen Erinnern und Vergessen einer unaufhörlichen Verschiebung und Neujustierung, sondern ebenso der kulturelle Bedeutungsrahmen, in dem Erinnern und Vergessen ihren semantischen Sinn und ihre appellative Kraft entfalten können. Zugleich trägt der Begriff des Vergessens eine normative Prägung in sich, die unserem Zeitgeist entspricht, aber deswegen noch lange nicht den Denkwelten früherer Epochen. Das Wort „Vergessen“ besitzt einen aktiven und einen passiven Bedeutungsgehalt; es kann ebenso den unbeabsichtigten Verlust wie - in der „damnatio memoriae“ - die gezielte Entsorgung beschreiben. Immer aber bezeichnet es heute eine Abweichung vom Gewöhnlichen und Anerkannten - gleichviel, ob auf dem Wege der ungewollten Verarmung oder der gewollten Verfälschung. Eben dieses gilt aber keineswegs für alle Zeiten; nicht zufällig sind die Amnesie als Gedächtnisschwäche und die Amnestie als staatliche Vergebung etymologisch bedeutungsgleich und gehen gemeinsam auf das griechische Verb „a-mnemoneo“ = „aus dem Gedächtnis verlieren“ zurück.

Ob geschichtliches Verschwinden als schmerzlicher Verlust oder unauffällige Erneuerung, als Vergangenheitsvernichtung oder Zukunftsanpassung gefasst wird, hängt allein von den geltenden Orientierungsmustern der jeweiligen Gegenwart ab. Auch in unserer Zeit würde die Reinigung des öffentlichen Raumes von unliebsam gewordenen Zeichen überwundener Herrschaft, wie sie etwa gegenwärtig in Spanien zu beobachten ist,7 nicht als Vergessen gelten. Die Städtebaugeschichte im vergangenen 20. Jahrhundert der Extreme lehrt, wie vielfältig die Mechanismen sind, die die Zeugnisse der Vergangenheit überschreiben. Sie reichen von der gezielten Dekontaminierung bis zum unbefangenen Überschreiben des Überlieferten durch pragmatische Nachnutzung. Allemal wirkmächtiger als das tätige und gezielte Vergessen im Sinne der Vergangenheitsverdrängung erweisen sich dabei die erinnerungskulturellen Achsenverschiebungen, die sich hinter dem Rücken der Akteure vollziehen. Das vielleicht grandioseste Beispiel eines solchen historischen Wertewandels bietet der tiefgreifende Übergang von einer zur Nachahmung auffordernden historischen Heldenkultur hin zu einer nach Distanzierung und Selbstbesinnung strebenden Opferkultur. Mimesis versus Katharsis - in dieser Polarität von historischer Stolzkultur und historischer Schamkultur lässt sich der öffentliche Geschichtsdiskurs des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts fassen, der es so schwer macht, für die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern oder das Gedenken an die Opfer des stalinistischen Sowjetregimes eine gemeinsame europäische Sprache zu finden. Aleida Assmanns Plädoyer für die Dignität der Erinnerung lässt sich nicht ablösen von dem großen Umschwung unseres Geschichtsdenkens von der Heroisierung zur Viktimisierung, der das Leiden des einzelnen über die Ansprüche des Kollektivs gestellt hat und der mit der kulturellen Ächtung der Gewalt ebenso einhergeht wie mit dem Bedeutungsgewinn des Individuums und seines Schutzes im Denken unserer Zeit.

Es scheint mir nur konsequent zu sein, dass den von Aleida Assmann entwickelten Strategien des Umgangs mit der Last der Vergangenheit keine klare Trennung zwischen historischer Erkenntnis und politischem Interesse, zwischen Vergangenheitsverständnis und Zukunftsgestaltung, zwischen distanzierter Beobachtung und handelndem Engagement zugrunde liegt. Insbesondere das Konzept des „dialogischen Erinnerns“, das die beschränkte Grammatik nationaler Gedächtniskonstruktionen durch eine bessere, europäische Grammatik ersetzen will, argumentiert mit der lebensweltlichen Nützlichkeit ebenso wie mit dem analytischen Gewinn: Es will daran gemessen werden, ob es den transnationalen Dialog zu stärken und den Bürgerkrieg der Erinnerungen einzuhegen vermag. Noch kaum reflektiert ist hingegen, welche geschichtskulturellen Kosten der hinter diesem Ansatz verborgene und erstaunliche Einklang von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit nach sich zieht, der sich auf Basis eines gemeinsamen antitotalitären Grundkonsenses in den letzten drei Jahrzehnten herausgebildet und mittlerweile ein florierendes Vergangenheitsgewerbe hervorgebracht hat, für das in Programmatik wie Problematik der so schillernde Begriff der „Aufarbeitung“ steht.8

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In der Selbstimmunisierung der Gegenwart, die sich als erfolgreich von den Krankheiten der Vergangenheit geheilt begreift, wiederholt sich eine überaus traditionelle Selbstverortung, wie sie nicht anders auch zu früheren Zeiten gegolten hat. Die Beförderung der biographischen Erinnerung zu einem gleichwertigen Partner der Geschichtswissenschaft, die sich mit dem Konzept der Gedächtnisforschung mehr oder minder ausgeprägt verbindet, steht in Gefahr, au fond die historische Selbstgewissheit der Gegenwart affirmativ zu stärken, statt sie mit den Mitteln der Wissenschaft zu befragen. Zu diskutieren bleibt, wie sich dies mit dem Selbstverständnis einer Historie verträgt, die nicht bloßer Zulieferbetrieb, sondern ebenso kritisches Korrektiv ihrer Zeit sein will.

Anmerkungen: 

1 Vgl. z.B. Hermann Lübbe, Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz 1983, Zitate S. 56, S. 35, S. 16.

2 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 11; siehe auch Aleida Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, in: Lutz Musner/Gotthart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung - Praxis - Positionen, Wien 2002, S. 27-45.

3 Hans Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a.M. 2002, S. 39-73, bes. S. 61ff.; Christoph Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff - Methoden - Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 548-563, bes. S. 555.

4 Vgl. hierzu: Wulf Kansteiner, Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma: Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945, in: Friedrich Jaeger/Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 109-138; Harald Weilnböck, „Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben“. Trauma-Ontologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen, in: Mittelweg 36 16 (2007) H. 2, S. 2-64.

5 So auch bei Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff (Anm. 2), S. 45: „Dem kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs wächst [...] eine wichtige Aufgabe der reflektierenden Beobachtung und therapeutischen Begleitung sozialer und politischer Prozesse zu.“

6 Siehe etwa Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001.

7 „Sämtliche Symbole und Denkmäler des Franco-Regimes (1939-1975) sollen in Spanien aus dem Straßenbild verschwinden. Das sieht der Entwurf eines Gesetzes zur Rehabilitierung der Opfer der Diktatur und des vorangegangenen Bürgerkrieges (1936-1939) vor, auf den sich eine Arbeitsgruppe unter Führung der regierenden sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) im spanischen Parlament geeinigt hat. Monumente, Gedenktafeln oder Wappen zu Ehren des Franco-Regimes, wie es sie noch an öffentlichen Gebäuden in Spanien gibt, sollen entfernt und Straßen sowie Plätze umbenannt werden.“ (dpa, Symbole der Franco-Diktatur sollen in Spanien verschwinden, in: Welt, 12.10.2007.)

8 Hierzu näher: Martin Sabrow, Das Unbehagen an der Aufarbeitung. Zur Engführung von Wissenschaft, Moral und Politik in der Zeitgeschichte, in: Thomas Schaarschmidt (Hg.), Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2008, S. 11-20.

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