Als die im April 2006 mit 89 Jahren verstorbene Stadtforscherin Jane Jacobs im Oktober 2004 für einen letzten Vortrag in ihre ehemalige Heimatstadt New York zurückkehrte, bereitete ihr das Publikum einen großen Empfang. Fast die gesamte Urbanisten- und Planungsprominenz der Stadt war erschienen und feierte die 1968 nach Kanada ausgewanderte „Grande Dame“ der nordamerikanischen Stadtforschung mit stehenden Ovationen. Einer Einladung des New Yorker City Colleges folgend, war sie gekommen, um die Auftaktrede für eine neue Vorlesungsreihe zu Ehren Lewis Mumfords zu halten, der an dem besagten College im Norden Manhattans studiert hatte. Es war, als schlösse sich ein Kreis: Jacobs’ Karriere hatte 1961 mit der Publikation ihres Erstlingswerks „Death and Life of Great American Cities“ in New York ihren Anfang genommen; der Inhalt dieses Buchs verwickelte sie dann in einen Jahre andauernden Streit mit Mumford. Am Ende ihres Schaffens angelangt, entschied sie sich als erste Referentin der zu Mumfords Ehren eingerichteten Vorlesungsreihe, in New York ihren alten Gegenspieler zu würdigen. Bedeutungsschwer war Jacobs’ Auftritt aber auch deshalb, weil er zum Ausdruck brachte, wie sehr sich das Verhältnis zwischen der Planungskritikerin Jacobs und der planenden Zunft in den USA über die Jahrzehnte geändert hatte. Zu Beginn ihrer Karriere wegen ihrer mangelnden akademischen Ausbildung in der von Männern dominierten Profession noch als „Hausfrau“ belächelt, stieg Jacobs innerhalb weniger Jahre zu einer der meistbeachteten Persönlichkeiten der amerikanischen Stadtforschung auf.1 Jacobs’ Bedeutung als Kritikerin modernistischer Planungsexzesse und Mitbegründerin eines neuen Verständnisses städtischer Entwicklung und Planung ist Grund genug, sich ihres ersten und wohl wichtigsten Werks erneut zu widmen - dem Essay „Death and Life of Great American Cities“, der in einem deutschen Nachruf auf Jacobs als „urbanistische Bibel des späten 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde.2
„Dieses Buch ist ein Angriff auf die landläufige Stadtplanung und den landläufigen Umbau der Städte. [...] Mein Angriff [...] richtet sich [...] gegen die Prinzipien und die Ziele orthodoxer Stadtplanung und Sanierung.“ (S. 9) Angesichts dieser kampfeslustigen ersten Zeilen des Buchs überrascht es nicht, dass „Death and Life of Great American Cities“ häufig als Verriss der von Jacobs als „Pseudowissenschaft“ (S. 16) abgetanen Expertenplanung der Moderne beschrieben wird. Dies ist nicht unzutreffend, aber doch etwas verkürzt - schließlich ist das Werk weit mehr als eine mitunter polemische Kritik. Das Buch ist auch eine beobachtungsstarke, häufig poetische Hommage an die Schwungkraft und Lebendigkeit städtischen Lebens sowie ein in weiten Teilen gelungener Versuch, die Entwicklung von Großstädten und urbanen Nachbarschaften besser zu begreifen.
Differenzierter zu verstehen, wie Großstädte und urbane Nachbarschaften „im wirklichen Leben“ (S. 9) funktionieren, war für Jacobs eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung planerischer Handlungsvorschläge und Theorien. Der „konventionellen“ Stadtplanung der Moderne warf sie vor, genau in diesem Punkt versagt zu haben. Städte waren für Jacobs „Organismen, die voll unerforschter, aber deutlich miteinander verbundener und gewiss begreifbarer Beziehungen sind“ (S. 11), bzw. auch „Laboratorien, voll von Experimenten und Irrtümern, Fehlschlägen und Erfolgen [...], in denen die Stadtplanung hätte lernen und ihre Theorien bilden und ausprobieren sollen“ (S. 217). Das Versäumnis, die Eigenschaften städtischer Entwicklung zu studieren, sowie die Tendenz, sich von abstrakten und ideologiebehafteten Prinzipien leiten zu lassen, waren für Jacobs die Hauptgründe für eine Stadtentwicklungspraxis, deren Mittel genauso beklagenswert seien wie ihre Ziele (S. 11).
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Jacobs’ vernichtende Bewertung räumlicher Planung war eng mit ihrem persönlichen Werdegang verknüpft. 1916 in Scranton/Pennsylvania geboren, zog sie kurz nach Beendigung ihrer Schulzeit ins turbulente New York, um dort als Journalistin zu arbeiten. Von der Dynamik der Metropole beeindruckt, entwickelte Jacobs in den folgenden Jahren ein verstärktes Interesse an den Eigenschaften städtischer Räume, das durch die Architektentätigkeit ihres Ehemanns zusätzlichen Ansporn erhielt. Anfang der 1950er-Jahre gelang es Jacobs, eine Stelle bei dem anerkannten Magazin „Architecture Forum“ zu erhalten. Beeinflusst von den Erlebnissen in ihrem nächsten Wohnumfeld, dem New Yorker Stadtteil Greenwich Village, kristallisierten sich in den folgenden Jahren zwei eng miteinander verknüpfte Interessenschwerpunkte heraus, die auch den Inhalt von „Death and Life of Great American Cities“ prägen sollten: eine Begeisterung für die (Selbst-)Organisation und Vielfalt städtischer Räume sowie eine Skepsis gegenüber den Zielen und Methoden öffentlicher Planung, die sich - ausgestattet mit großzügigen Mitteln Washingtons - in den späten 1940er- und den 1950er-Jahren daran machte, Amerikas Städte von Grund auf zu „erneuern“.3 Schockiert von der Zerstörung gewachsener Nachbarschaften durch die von Großsiedlungen, Bürotürmen und Schnellstraßen geprägte Praxis des „Urban Renewal“, schrieb Jacobs einen vielbeachtenden Artikel im Wirtschaftsmagazin „Fortune“, der die Rockefeller Foundation dazu veranlasste, ihr ein Schreibstipendium anzubieten. Dieses ermöglichte das Buch „Death and Life of Great American Cities“.4
„Die Pseudowissenschaft der Stadtplanung und ihre Schwester, die Kunst des formalen Städtebaus, haben immer noch nicht mit dem trügerischen Ausruhen in Wunschdenken, vertrautem Aberglauben, Vereinfachungen und Symbolen gebrochen, haben noch immer nicht das Abenteuer begonnen, sich über die wirkliche Welt zu vergewissern. [...] So werden wir es also unternehmen, uns [...] mit diesem Buch in die wirkliche Welt hinauszuwagen [...], [u]m an das anscheinend geheimnisvolle und widersprüchliche Verhalten von Großstädten heranzukommen [...].“ (S. 16) Es waren Beobachtungen städtischen Alltags, die die Grundlage für Jacobs’ Analysen und Schlussfolgerungen bildeten. Warum prosperierten einzelne Stadtteile, während andere wirtschaftlich und sozial im Niedergang begriffen waren? Warum stieg in einzelnen Bezirken die Kriminalität extrem an, während andere Gegenden mit ähnlichen demographischen Rahmendaten keinen Zuwachs von Gewalttaten, Diebstählen und Vandalismus verzeichneten? Jacobs war der Auffassung, dass Antworten auf derartige Fragen nur durch eine möglichst unvoreingenommene Beobachtung der betreffenden Orte selbst zu finden seien.
In Quartieren wie dem Bostoner North End oder ihrem eigenen Stadtteil, dem Greenwich Village, bemerkte Jacobs, dass gerade Gegenden, die modernistischen Planungsgrundsätzen zufolge aufgrund ihrer alten Bausubstanz und Kleinteiligkeit, ihrer gemischten Nutzungs- und Sozialstruktur sowie ihrer hohen Nutzungsdichte schon längst zu Slums hätten verkommen müssen, häufig ein besonders hohes Maß an Ordnung und Vitalität aufwiesen. Doch warum? Jacobs, die im Rahmen ihrer Recherche mehrere amerikanische Städte bereiste, kam zu einer ebenso einfachen wie revolutionären Schlussfolgerung, die vorherige Annahmen auf den Kopf stellte: Nachbarschaften wie das North End widersetzten sich dem Verfall nicht trotz ihrer ungeordneten Bau-, Nutzungs- und Sozialstruktur, sondern gerade weil sie diese Eigenschaften besaßen! Besondere Bedeutung maß Jacobs in diesem Zusammenhang dem Prinzip der „Mannigfaltigkeit“ bei, denn sie stellte fest, dass lebenswerte und stabile Stadtteile zwar häufig sehr unterschiedliche Eigenschaften aufwiesen, in der Regel aber ein Merkmal teilten: das Vorhandensein „untereinander abhängiger, feinkörnig gesäter, verschiedenartiger Nutzungen, die sich ständig gegenseitig, sowohl wirtschaftlich als auch sozial gesehen, stützen“ (S. 17). Die These, dass solche Mannigfaltigkeit städtischer Entwicklung und Prosperität nicht entgegenstand, wie es Vertreter des Leitbilds der nach Funktionen unterteilten und aufgelockerten Stadt zur damaligen Zeit behaupteten, sondern gerade der Vitalität städtischer Räume diente, war das Kernargument des Buchs, das weit über die USA hinaus Resonanz fand.5 Jacobs leistete einen entscheidenden Beitrag zu der in den 1970er- und 1980er-Jahren vollzogenen Rehabilitierung der durchmischten Stadt alter Prägung, die von der Stadtplanung der Moderne zuvor für obsolet erklärt worden war.
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Zu fragen bleibt, aufgrund welcher Effekte der „Mannigfaltigkeit“ ein so zentraler Stellenwert zukam. Dies erörterte Jacobs gleich in mehreren Kapiteln ihres Buchs. So stellte sie anhand einiger einfacher Beispiele überzeugend dar, dass städtische Vielfalt eine intensivere Nutzung öffentlicher Räume bewirke, dass dies wiederum ein hohes Maß an sozialer Kontrolle gewährleiste und damit zur Sicherheit von Straßen und Plätzen beitrage (S. 44). Durchmischte städtische Räume waren Jacobs zufolge auch deshalb sicherer, weil sie kontaktfördernd wirkten und dadurch das Vertrauen der Bewohner sowie deren Identifikation mit ihrem Wohnumfeld stärkten (S. 27ff.). Zudem seien gewachsene Nachbarschaften im Gegensatz zu „starren und trägen [Neubau-]Siedlungen“ wirtschaftlich dynamischer, was nicht nur den Nachbarschaften selbst, sondern auch Städten insgesamt zugute komme. So ergab sich für Jacobs als eine weitere Kernthese, dass die Prosperität großer Städte entscheidend von dem Zustand städtischer Nachbarschaften abhänge. Es komme darauf an, die endogenen Potenziale gewachsener Nachbarschaften anzuerkennen, statt sie durch Kahlschlagsanierung ihrer Qualitäten zu berauben.
Die „New York Times“ feierte „Death and Life of Great American Cities“ - über 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung - als das „vielleicht wichtigste Einzelwerk der Stadtplanungsgeschichte“.6 Die Bedeutung von Jacobs’ Arbeit ist unbestritten, und trotzdem bleiben am Ende der Lektüre offene Fragen. Jacobs’ Text suggeriert, dass die Krise amerikanischer Städte Ende der 1950er-Jahre primär auf das Versagen städtischer Planung sowie den damit einhergehenden Niedergang gesunder Nachbarschaften zurückzuführen war. Eine historische Einordnung der damals zu Tage tretenden urbanen Krise des Landes oder eine Analyse der politischen und ökonomischen Kontexte ihres Untersuchungsgegenstandes blieb die Autorin jedoch weitgehend schuldig. Entwicklungen, die außerhalb des Einflussgebiets städtischer Planung lagen und das in den 1950er-Jahren an Bedeutung gewinnende Phänomen der Suburbanisierung begünstigten, erwähnte sie kaum.7 Ebenso oberflächlich blieb Jacobs’ Analyse lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Politik, die - wie die Stadtforschung heute weiß - die Entwicklung amerikanischer Städte entscheidend beeinflusste.8 Solche „Leerstellen“ sind es, die Jacobs den Vorwurf eingehandelt haben, die Fähigkeit von Städten und Nachbarschaften zur Selbstorganisation und -regulation zu überschätzen und mit ihren wortgewaltigen, aber nicht immer differenzierten Tiraden gegen staatliche Interventionen der in den 1980er-Jahren einsetzenden „Neoliberalisierung“ amerikanischer Stadtentwicklungspolitik zusätzlichen Schwung verliehen zu haben.9 Tatsächlich preisen heute besonders Anhänger marktwirtschaftlich geprägter Stadtentwicklung Jacobs’ Œuvre als Lehrbuch, was jedoch eine irreführende Lesart ist.
Jacobs’ Bedeutung als Kämpferin für einen behutsameren Umgang mit dem Kulturgut und Lebensort „Stadt“ gebietet es stattdessen, sich mit ihrem Werk kritisch auseinanderzusetzen, um auf diesem Weg die Stadtforschung wie auch die Stadtentwicklung voranzubringen. Die Bedeutung des vorgestellten Buchs für die Geschichtswissenschaften liegt sicher nicht in seinem historisch-analytischen Gehalt - erst in späteren Werken begann Jacobs ein stärkeres Interesse an historisch angelegten Forschungsvorhaben zu entwickeln.10 „Death and Life of Great American Cities“ ist in erster Linie dadurch ein geschichtswissenschaftlich relevantes Werk geworden, dass es selbst Geschichte gemacht hat.
1 Vgl. u.a. Robert Fulford, Abattoir for sacred cows: three decades in the life of a classic, in: Max Allen (Hg.), Ideas that Matter: The Worlds of Jane Jacobs, Ontario 1997, S. 5-10, hier S. 7.
2 Oliver Herwig, Ein Leben für die Stadt. Zum Tod von Jane Jacobs, in: Frankfurter Rundschau, 27.4.2006, S. 15.
3 Vgl. u.a. Peter Hall, Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design in the 20th Century, Oxford 1988; Stephen V. Ward, Planning the Twentieth-Century City. The Advanced Capitalist World, Chichester 2002.
4 Vgl. Roger Montgomery, Is there Still Life in „The Death and Life“?, in: Journal of the American Planning Association 64 (1998), S. 269-274, hier S. 270; Alice Sparberg Alexiou, Jane Jacobs: Urban Visionary, New Brunswick 2006.
5 Auch der Stadt- und der Städtebaudiskurs in der Bundesrepublik sind von Jacobs’ Arbeit beeinflusst worden. Ihr Buch wurde nach der deutschen Erstausgabe von 1963 viermal neu aufgelegt und intensiv rezipiert. Kurze Zeit vorher oder kurz darauf erschienene Publikationen verdeutlichen allerdings auch, dass eine Kritik an der orthodoxen Moderne sowie eine Neubewertung der „alten Stadt“ bereits vor Bekanntwerden von Jacobs’ Thesen im Entstehen waren. Vgl. Wolf Jobst Siedler/Elisabeth Niggemeyer, Die gemordete Stadt, Berlin 1961; Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a.M. 1965.
6 Robert Fulford, When Jane Jacobs Took on the World, in: New York Times Book Review, 16.2.1992, S. 1.
7 Vgl. u.a. Kenneth T. Jackson, Crabgrass Frontier. The Suburbanization of the United States, Oxford 1985; Robert Fishman, Bourgeois Utopias. The Rise and Fall of Suburbia, New York 1987.
8 Vgl. u.a. Peter Dreier/John H. Mollenkopf/Todd Swanstrom, Place Matters: Metropolitics for the Twenty-First Century, Lawrence 2001.
9 Vgl. Montgomery, Is there Still Life (Anm. 4).
10 Vgl. u.a. Jane Jacobs, The Economy of Cities, New York 1969 (dt.: Stadt im Untergang. Thesen über den Verfall von Wirtschaft und Gesellschaft in Amerika, Frankfurt a.M. 1970); dies., Cities and the Wealth of Nations. Principles of Economic Life, New York 1984.