Im Zuge der Recherchen zu meiner Dissertation klingelte ich im März 2023 im
8. Wiener Gemeindebezirk an einer unscheinbaren Haustür.1 Drinnen lagerten, im Keller der Wohnanlage, mehrere Aktenordner und unzählige Bücher: ein kleiner Teil des Erbes des Bibliotheksvereins »Jirásek« und damit des Lebenswerks des Bibliotheksvorsitzenden und Sozialdemokraten Ludwig Kolin.2 Das Material befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Übergangszustand zwischen einer projektfinanzierten Lagerung im »Forschungszentrum für historische Minderheiten« (angeschlossen an das Volkskundemuseum Wien) und seiner neuen Heimat im Schulverein »Komenský«.3 In den darauffolgenden Stunden arbeitete ich mich in dem kalten Keller frierend, aber begeistert durch das Material, das besondere Einblicke in die Lebenswelt tschechoslowakischer Migrant:innen4 in Wien ermöglicht. Den Bestand und seinen Urheber möchte ich hier vorstellen.
1. Ein tschechischer Sozialdemokrat in Wien
Ludwig (abweichend auch Ludvík) Kolin wurde 1924 in Wien in eine tschechisch-österreichische Familie geboren.5 Sein Vater war sehr aktiv in den Vereinen der tschechischen Minderheit in Wien wie auch in der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei in Österreich.6 In diesem Umfeld wuchs Ludwig Kolin auf, der in Wien die tschechische Schule besuchte und später eine Ausbildung zum Kaufmann absolvierte.7 Während des Zweiten Weltkrieges engagierte er sich im tschechischen Widerstand, was 1943 zu seiner Inhaftierung durch die Gestapo führte.8 Nach dem Ende des Krieges erhielt Kolin eine Anstellung im Ministerium für Arbeit und Soziales im Arbeitsamt Ottakring in Wien.9 Als nach der Machtübernahme der Kommunist:innen in der ČSR 1948 viele Tschechoslowak:innen nach Österreich migrierten, war Kolin im Arbeitsministerium dafür zuständig, ihnen Stellen zu vermitteln.10 Kolin wurde außerdem immer wieder selbst zum »Fluchthelfer«, da er häufig Wege fand, Menschen aus der Tschechoslowakei nach Wien zu bringen. Aufgrund dessen wurde er im Oktober 1967 bei einer privaten Reise, die er anlässlich der Hochzeit eines Freundes unternahm, in der Tschechoslowakei verhaftet und in ein Gefängnis bei Brünn gebracht.11 Dort wurde er im März 1968 wegen Beihilfe zum Verlassen der Republik angeklagt. Der Vorwurf traf zu, denn Kolin hatte zu diesem Zeitpunkt versucht, dem Sohn einer befreundeten Familie, die bereits nach Österreich gekommen war, zur Ausreise zu verhelfen. Der junge Mann wurde mit einem gefälschten Pass ebenfalls verhaftet, jedoch ohne Anklage freigelassen.12
Kolins Verhaftung war ein Politikum: Er war lange Jahre für den österreichischen Staat tätig gewesen und als Sozialdemokrat gut vernetzt im politischen Wien sowie in der Sozialistischen Internationalen.13 Auch der damalige österreichische Außenminister und spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger (parteilos) beobachtete den Fall und setzte sich für die Freilassung Kolins ein.14 Da der Prozess im März 1968 bereits in die Zeit des »Prager Frühlings« fiel und die tschechoslowakische Justiz im Kontext der sich ändernden politischen Gemengelage unsicher war, wie mit dem Fall zu verfahren sei, wurde Kolin zwar offiziell verurteilt, nach monatelanger Haft jedoch freigelassen und nach Österreich zurückgeschickt.15 Diese Erfahrung verstärkte Kolins Engagement weiter. Zwar hatte er noch in der Haft seiner Ehefrau geschrieben, er werde sich aus der Politik zurückziehen; die Entwicklungen im tschechischen, respektive tschechoslowakischen, Milieu in Wien bewegten ihn jedoch zum Gegenteil.16
Kurz nach seiner Rückkehr kam es zur Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei und damit zum Ende des »Prager Frühlings«.17 Als Folge gelangten bereits im Spätsommer 1968 über 162.000 Tschechoslowak:innen nach Wien, um dort zumindest vorläufig Schutz zu suchen.18 Kolin, der es als seine Pflicht ansah, den »Landsleuten« zu helfen, musste feststellen, dass er mit dieser Sicht innerhalb der tschechischen Minderheit in Wien ziemlich isoliert war.19 Seine ehemaligen Mitstreiter:innen im Minderheitsrat20 setzten vielmehr auf eine Annäherung an die kommunistischen Vereine der Tschechoslowak:innen in Wien und an die Tschechoslowakei, wofür Kolin vor dem Hintergrund der jüngst überstandenen Haft kein Verständnis hatte. Vom Vorsitz des Vereins »Tschechisches Herz« und der »Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei« trat er daher zurück; fortan engagierte er sich primär im Verein »Nová Vlast«.21
Ausgangspunkt der Arbeit von »Nová Vlast« war, sowohl räumlich als auch strukturell, der sozialdemokratische Bibliotheks- und Leseverein »Jirásek«, dessen Vorsitz ebenfalls Kolin innehatte.22 Die Bibliothek entwickelte sich aus der bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten öffentlichen Bibliothek der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei in Österreich.23 Kolin selbst bezeichnete die Bibliothek im Rückblick als einen wichtigen »Zufluchtsort für tausende Tschechen, die als Flüchtlinge nach Österreich kamen«, während »der vier Jahrzehnte[,] in denen in der Tschechoslowakei Unfreiheit herrschte«.24
Der Verein »Nová Vlast« (»Neue Heimat«) wurde 1971 gegründet, um Tschechoslowak:innen, die nach Österreich migrierten, bei ihrer Ankunft und beim Einleben zu unterstützen. Der Verein positionierte sich klar gegen die kommunistische Regierung in der Tschechoslowakei und gegen die »pragfreundlichen« Gruppierungen innerhalb der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Minderheit in Wien. Daher war der Verein stets auch im Visier der tschechoslowakischen Staatssicherheit.25
»Nová Vlast« arbeitete eng mit dem Bibliotheksverein Jirásek zusammen und konzentrierte sich auf Hilfeleistungen bei Arbeits- und Wohnungssuche, Asyl- und Staatsbürgerschaftsanträgen sowie beim Spracherwerb. Der Verein unterhielt Kontakte zum amerikanischen Fonds für tschechoslowakische Flüchtlinge in New York, aber auch zum österreichischen Bundespräsidenten und zu verschiedenen österreichischen Ministerien.26 In den späten 1970er-Jahren besonders wichtig war das Büro des Bundeskanzlers Bruno Kreisky (SPÖ). Ihm dankte Kolin 1978 mit einer Postkarte »anlässlich des zehnjährigen Jahrestages der Okkupation« für »das große Verständnis«, das er Kolin und seinen »Landsleuten in der ČSR« entgegenbringe.27 Die Postkarte selbst war von der »Czechoslovak National Association of Canada« gedruckt worden. Kanada war ein wichtiges Zielland für die tschechoslowakische Migration nach 1968, da der kanadische Staat sehr an der Zuwanderung arbeitsfähiger Menschen interessiert war. Zusammen mit kanadischen NGOs unterstützte der Staat die Betreuung, aber vor allem den zügigen Transit tschechoslowakischer Migrant:innen.28
(Kreisky-Archiv, VII.1 ČSSR, Postkarte an Kreisky)
Ob als Bezirksrat, Mitarbeiter im Arbeitsamt oder Aktivist in der Sozialdemokratie und im Verein »Nová Vlast« – Kolin war über Jahrzehnte eine verlässliche Anlaufstelle für Migrant:innen aus der Tschechoslowakei, denen er bei allen Fragen mit Rat und Tat zur Seite stand.29 Dabei ist eine Vielzahl von Dokumenten zusammengekommen, die einen tiefen Einblick in das Alltagsleben der tschechoslowakischen Emigration in Wien ermöglichen.
Der Bestand um den aufgelösten Bibliotheksverein umfasst neben über 6.000 Büchern (meist belletristische Literatur mit Schwerpunkt auf Werken der tschechoslowakischen Zwischenkriegszeit und tschechische Literatur aus Wien) auch etwa zwei Dutzend unsortierte Ordner mit persönlichen Aufzeichnungen und Korrespondenzen Kolins. Besonders interessant sind hierbei die Briefwechsel mit Migrant:innen und Kolins Interventionen bei den österreichischen Behörden. Diese Dokumente umfassen Einspruchserklärungen gegen die Nichtanerkennung des Flüchtlingsstatus, Briefe an Kolin mit der Bitte um Hilfe oder Korrespondenzen mit Wiener Behörden. Die meisten Dokumente thematisieren jedoch weniger die »großen« Fragen, etwa nach Asyl und Aufenthaltsstatus, sondern Aspekte des alltäglichen Lebens, wie Verfahren um die Anerkennung von Abschlüssen, die Verkürzung von Lehrzeiten sowie Konflikte zwischen verschiedenen Personen oder mit Behörden. Dabei ist das Besondere, dass sich durch die beigefügten Anmerkungen, Stellungnahmen und Korrespondenzen untereinander die Sichtweisen der Migrant:innen selbst und nicht nur diejenigen der Behörden erschließen lassen. So ermöglicht der Bestand einen lebensweltlichen Einblick, der Migrant:innen als Akteur:innen und Individuen mit ihren Erwartungen, Enttäuschungen, Hoffnungen zeigt.30
Vertreter:innen der neueren Migrationsforschung haben bereits umfassend argumentiert, wie wichtig es ist, eine solche »Erforschung und Rekonstruktion der Lebenswelten und Institutionen« von Migrant:innen zu verfolgen, die »in der öffentlichen Diskussion mit ihrer Fixierung auf integrationspolitische Fragestellungen […] oftmals unerkannt und unverstanden bleiben«.31 Für die historische Migrationsforschung ist dieser Blick auf alltägliche Lebenswelten und die Handlungsmacht der Migrant:innen eine Herausforderung, da die Quellen eine solche Rekonstruktion oftmals nicht oder nur eingeschränkt zulassen.32 Der vorliegende Bestand ermöglicht jedoch einen ausschnittartigen Blick in die Strukturen migrantischer (Selbst-)Ermächtigung.
»Lieber Genosse Kolin! Mein Neffe Jan B.33 ist im Lager Traiskirchen. Er hat die Quarantäne vorbei und darf das Lager verlassen. Mein Neffe wird Dich am Dienstag den 4.7[.] um 7 Uhr früh anrufen. […] Bitte sei nicht böse, wenn wir Dich wieder belästigen aber Du verständigst dich viel besser mit meinem Neffen, als ich wo ich leider die Sprache nicht behersche [sic].«34
Der Verfasser dieses Schreibens vom 29. Juni 1978 sprach nur schlecht oder gar nicht Tschechisch und konnte daher mit seinem gerade aus der Tschechoslowakei ausgereisten Neffen nicht gut kommunizieren, weshalb er Kolin um Hilfe bat. Dieses Schreiben liegt, wie fast alle Dokumente im Bestand, auf Deutsch vor. Tschechischsprachiges Material taucht meist nur auf, wenn es sich um Akten der tschechoslowakischen Administration handelt. Zwar ist anzunehmen, dass es deutlich mehr Korrespondenzen in tschechischer Sprache gegeben haben muss, doch scheint Kolin diese entweder nicht archiviert zu haben, oder sie sind bei der Auflösung des Bibliotheksbestandes verlorengegangen.
Das erwähnte Schreiben zeigt einen zentralen Aspekt der Rolle Kolins sehr deutlich: Er war in zweifacher Hinsicht ein Übersetzer. Zum einen konnte er aufgrund seiner fließenden Tschechisch- und Deutschkenntnisse zwischen österreichischen Behörden und tschechoslowakischen Migrant:innen vermitteln; zum anderen kannte er sowohl die internen Abläufe der Ämter als auch die Bedürfnisse der Migrant:innen. Kolin übersetzte die vielfältigen Lebensläufe der Migrant:innen in das homogene Bild eines »Flüchtlings« aus dem Sozialismus, das von den österreichischen Behörden erwartet wurde.35 Dies wird am folgenden Beispiel deutlich: Alena H., die 1981 nach Wien migriert war, erhielt am 9. November 1981 den Bescheid, dass sie nicht als Flüchtling anerkannt werde und damit keine Genehmigung zum weiteren Aufenthalt in Österreich habe. Als Begründung wurde angeführt, es hätten keine politischen Gründe für eine Flucht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vorgelegen. Alena H. widersprach dieser Einschätzung: Sie sei in der Tschechoslowakei an dissidentischen Aktivitäten beteiligt gewesen. Nachdem sie miterlebt habe, wie immer mehr Personen aus ihrem Umfeld für derartige Tätigkeiten verhaftet worden seien, habe sie sich entschieden, ihrem Mann, der bereits vor ihr das Land verlassen habe, nach Wien zu folgen.36 Die Geschichte von Alena H. ist exemplarisch für die Situation von Frauen in der tschechoslowakischen Dissidenz. Diese übten oftmals verborgene Tätigkeiten aus, etwa die Reproduktion und Distribution von Texten oder Periodika. Wie Marketa Spiritova beschrieben hat, waren diese Tätigkeiten zwar existenziell für die Bürgerrechtsbewegung in der ČSSR, allerdings nicht so prestigeträchtig wie die Arbeit der Männer, die meist die Gesichter der Bewegung waren.37
Da Alena H. zunächst nicht dem österreichischen Bild eines »Flüchtlings« entsprach, musste sie mit Kolins Hilfe ihren Lebenslauf »übersetzen«, damit er sich dem administrativ gewünschten Bild annäherte. Mit seiner Unterstützung verfasste sie ein Schreiben, welches ihre Situation darlegte. Sie argumentierte zum einen mit ihren persönlichen Netzwerken, die ihr bescheinigen würden, dass sie eine oppositionelle Tätigkeit ausgeübt habe. Dabei bezog sie sich auf den Fall ihres Mannes, der eine »identische« Tätigkeit ausgeübt habe und bereits Asyl erhalten hatte. Ein weiterer Referenzpunkt von Alena H. war der in Österreich zu diesem Zeitpunkt gut vernetzte und bekannte Sozialdemokrat Přemysl Janýr,38 den sie als einen Freund bezeichnete und der ihre Tätigkeit bezeugen könne. Die wiederholte Nennung Janýrs war vermutlich kein Zufall, sondern eine von Kolin vorgeschlagene Taktik, um Alena H.s Position mehr Gewicht zu verleihen. Neben der Betonung der oppositionellen Relevanz ihres Umfelds schilderte Alena H. auch ihre eigenen Tätigkeiten, vor allem das Vervielfältigen inoffizieller Literatur und verbotener Musikaufnahmen. Dass es sich hierbei um ernstzunehmende oppositionelle Arbeit handelte, begründete sie damit, dass viele ihrer Freund:innen aufgrund solcher Tätigkeiten bereits umfassende Repression erleiden mussten. Immer wieder finden sich auch Verweise auf Personen, Strukturen oder Gesetze der österreichischen Regierung, die eine tiefe Kenntnis der internen Abläufe vermuten lassen und nahelegen, dass das Schreiben in Teilen von Kolin selbst verfasst wurde, der ihre Einstufung als politischer Flüchtling rechtfertigte.
Die Erfahrung und der Einfluss Kolins werden auch aus der folgenden Korrespondenz mit einem Amtsdirektor des Innenministeriums deutlich. Sie betrifft laufende Berufungen gegen die Nichtanerkennung des politischen Flüchtlingsstatus von Libuše und Alois S. sowie von Jindřich J.: »Werter Herr Amtsdirektor! Vor allem bitte ich Dich zu entschuldigen, daß ich Dich wieder einmal belästige, doch habe ich wieder zwei Fälle, welche Berufungen gegen die Nichtanerkennung als politischer Flüchtling eingebracht haben. […] Ich würde Dich, lieber Herr Amtsdirektor, ersuchen, falls die Aktenlage so günstig ist, daß den Berufungen nach Möglichkeit stattgegeben wird. Für deine Mühewaltung danke ich Dir vielmals und grüße Dich mit aufrichtigen Freundschaftsgrüßen, dein Ludwig.«39
Wortwahl und Tonalität der Korrespondenz implizieren, dass Kolin und der zuständige Direktor eine freundschaftliche oder mindestens vertraute Verbindung pflegten und dass die Intervention Kolins ein wiederkehrender Vorgang war. Solche Verbindungen ermöglichten es ihm, für die Migrant:innen zu lobbyieren und so teilweise rechtsstaatliche Spielräume zu nutzen. Tatsächlich konnte aufgrund der durch Kolin eingelegten Berufungen zumindest in einem der beiden hier angesprochenen Fälle (dem des Ehepaars Libuše und Alois S.) ein positiver Bescheid erwirkt werden. Der Ausgang des Falls von Jindřich J. ist in dem vorliegenden Material nicht dokumentiert.
Kolins Arbeit beschränkte sich keineswegs auf die unmittelbaren rechtlichen Fragen nach Asylstatus oder Staatsbürgerschaft, sondern umfasste auch Beratung und Unterstützung bei Wohnraumbeschaffung und -ausstattung. Zu diesem Themenfeld liegen verschiedene Dokumente vor, die jedoch teils unvollständig und unsortiert sind. Sie vermitteln trotzdem einen deutlichen Eindruck – wie auch das folgende Beispiel illustriert: Die Eheleute C. baten bei der zuständigen Abteilung des Flüchtlingsfonds der Vereinten Nationen in Wien um die Zuteilung einer Wohnung. Jiří C. war mit seiner Frau Zdenka C. am 23. Juli 1969 nach Österreich gekommen und von dort »aus politischen Gründen« nicht in die Tschechoslowakei zurückgekehrt. Nach eigener Aussage war ihre Wohnsituation in Wien sehr prekär, da die Miete mit 2.000 Schilling monatlich zu teuer und die Wohnung darüber hinaus in einem »gesundheitsschädlichen« Zustand sei.40 Daher ersuchten sie um die Zuteilung einer neuen Wohnung. Im Bestand findet sich ein weiteres Dokument zu dem Paar, das sich ohne Kontext kaum zuordnen lässt. Mit einem Schreiben vom 19. September 1980 wandte sich Zdenka C. an die »Magistratsabteilung 52 – Hausbesorgungsreferat« der Stadt Wien. Es scheint ein Antwortschreiben auf die Kündigung einer Wohnung oder eines Dienst- bzw. Wohnverhältnisses zu sein. Frau C. gab an, die ihr zur Last gelegten Versäumnisse (mangelhafte Instandhaltung einer Wohnung) seien unzutreffend gewesen.41 Weitere Informationen finden sich jedoch nicht. Der gesamte Bestand ist fragmentarisch und eignet sich daher kaum, um vollständige Geschehnisse zu rekonstruieren. Für eine alltagsgeschichtliche Betrachtung migrantischer Lebenswelten sind die Quellen dennoch höchst aufschlussreich. Sie vermitteln einen Eindruck von den vielfältigen Biographien und zeigen die alltäglichen Kämpfe tschechoslowakischer Migrant:innen, ohne ausschließlich die Sicht der Behörden wiederzugeben.
Ein anderes Beispiel für ein solches Fragment ist die Geschichte der Familie V., die in verschiedenen Dokumenten des Quellenbestandes vorkommt. So findet sich ein Schreiben mit dem Titel »Gesuch um Genehmigung[,] eine kleine Waschmaschine aufstellen zu dürfen«, adressiert an die »Sozialbau Hausverwaltung« und datiert auf den 23. August 1973. Dort heißt es: »Ich ersuche höfflich [sic] um die Bewilligung zur Aufstellung einer kleinen Waschmaschine (60 cm Tiefe, Breite 40 cm) im Bad meiner Wohnung. Für Ihr Entgegenkommen herzlichst dankend, zeichne ich mit dem Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung.«42
Dieses Beispiel zeigt, wie sehr auch alltägliche Fragen nur durch das Navigieren eines strikten Abhängigkeitsverhältnisses beantwortet werden konnten. Die Einbeziehung Kolins stellte einen Versuch dar, die eigene Wirkmächtigkeit in diesem Verhältnis zu stärken – oftmals erfolgreich. So bedankte sich Herr V. in einem weiteren Dokument für eine Beihilfe zum Ankauf von Einrichtungsgegenständen in Höhe von 6.000 Schilling, die für ihn und seine Familie »von wesentlicher Bedeutung« gewesen sei.43 Das Gesuch um diese Beihilfe liegt dem Dokument ebenfalls bei und wurde damit begründet, dass die Familie eine Wohnung gekauft habe und die Ersparnisse dafür genutzt worden seien. Für die Wohnung, besonders für das Kinderzimmer, würden nun Möbel gebraucht, für die die Familie jedoch kein Geld habe. Das Ansuchen ist auf den 28. Dezember 1972 datiert, woraus ersichtlich wird, dass die Bearbeitungszeit über ein halbes Jahr betrug.44 Anhand solcher Dokumente erkennt man die Abhängigkeit der tschechoslowakischen Migrant:innen vom Wohlwollen der österreichischen Behörden.
Wie die Wiener Historikerin Vlasta Valeš bereits 2008 betont hat, wurde Ludwig Kolins Beitrag zur Unterstützung von tschechoslowakischen Migrant:innen in Österreich bislang weder ausreichend erforscht noch gewürdigt.45 Der vorgestellte Bestand ist trotz seiner Fragmentierung ein spannender Ausgangspunkt für eine zeithistorische Migrationsforschung, die Personengruppen nicht auf ihren Status als »Flüchtlinge« oder Migrant:innen reduziert, sondern ihre eigenen Erfahrungen und Handlungen in den Mittelpunkt rückt.
Damit stellen die Dokumente, die sich jetzt im Archiv der tschechischen Schule »Komenský« am Sebastianplatz 3 in Wien befinden, eine interessante Ergänzung zu Materialien der österreichischen Behörden und der internationalen Hilfsorganisationen dar, die etwa Sarah Knoll in ihrer Dissertation zur österreichischen Asylpolitik im Kalten Krieg untersucht hat.46 Wie Knoll herausarbeitet, verfolgte Österreich vor allem eine Transitpolitik, wonach Migrant:innen aus Ost(mittel)europa zwar temporär willkommen waren, jedoch nur dann, wenn sie schnellstmöglich in aufnahmewillige Drittstaaten weitervermittelt werden konnten. Staaten wie Kanada, die in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren einen hohen Bedarf an Arbeitskräften hatten, waren hier oftmals dankbare Partner für die österreichische Administration.47 Seit den späten 1970er-Jahren änderte sich die Situation jedoch, da die österreichische Wirtschaftsleistung sich verschlechterte und auch die internationalen Partner weniger Arbeitskräfte benötigten. Die österreichische Flucht- und Migrationspolitik wurde daher in den 1980er-Jahren immer restriktiver.48 Diese Entwicklung lässt sich in den Dokumenten des Bibliotheksvereins »Jirásek« nachvollziehen, da viele der ablehnenden Bescheide zwischen 1975 und 1985 datiert sind.
Darüber hinaus zeigen die Quellen die Schwierigkeiten, mit denen Migrant:innen konfrontiert waren, die in Österreich selbst eine Existenz aufbauen wollten – was seitens der österreichischen Behörden zu keinem Zeitpunkt gewollt war.49 Die fragmentarischen Dokumente aus dem hier vorgestellten Bestand können genutzt werden, um die Perspektiven der von der österreichischen Migrationspolitik Betroffenen sichtbar zu machen und so neue Schlaglichter auf die transnationale Geschichte während des Kalten Krieges zu werfen.
Anmerkungen:
1 An dieser Stelle möchte ich mich herzlichst bei Regina Wonisch bedanken, die mir den Zugang zum Bestand ermöglichte.
2 Siehe für mehr Informationen zum Bestand auch: Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Forschungszentrum für historische Minderheiten, URL: <https://www.fzhm.at/1128>.
3 Der Schulverein »Komenský« betreibt die letzte tschechische Schule in Wien am Sebastianplatz 3. Als die vermutlich größte und beständigste der tschechischen Institutionen in Wien war der Verein in der Lage, die Bestände in das schuleigene Archiv zu überführen.
4 In diesem Text spreche ich einheitlich von »Migrant:innen«, um deutlich zu machen, dass Zuschreibungen wie »Flüchtlinge« oder »Exilant:innen« Kategorisierungen sind, die aus politischen Motiven getätigt wurden bzw. werden und sich als Analysekategorien nicht eignen.
5 Heinz Tichy, Im Gedenken an Ludwig Kolin (1924–2010), in: Richard Basler/Heinz Tichy, Neue Entwicklungen der Volksgruppen in Wien. 30 Jahre Wiener Arbeitsgemeinschaft, Wien 2015, S. 255-256, hier S. 255.
6 Marie Brandeis, Wir kamen von anderswo... Interviewbuch mit Tschechen und Slowaken in Österreich, Prag 2003, S. 50.
7 Ebd., S. 52.
8 Tichy, Im Gedenken an Ludwig Kolin (Anm. 5), S. 255.
9 Brandeis, Wir kamen von anderswo… (Anm. 6), S. 52.
10 Ebd., S. 48.
11 Ebd., S. 46.
12 Ebd., S. 50.
13 Ebd., S. 46-49.
14 Ebd., S. 46.
15 Ebd., S. 50.
16 Ebd., S. 51.
17 Silke Stern, Die tschechoslowakische Emigration: Österreich als Erstaufnahme- und Asylland, in: Stefan Karner u.a. (Hg.), Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, Bd. 1: Beiträge, Köln 2008, S. 1025-1042, hier S. 1026.
18 Vera Mayer, Tschechen in Wien. Alte und neue Migration am Beispiel des tschechischen Vereinswesens, in: Peter Heumos (Hg.), Heimat und Exil. Emigration und Rückwanderung, Vertreibung und Integration in der Geschichte der Tschechoslowakei, München 2001, S. 59-72, hier S. 62.
19 Richard Basler, Ein kurzer Überblick über die Lage der Wiener Tschechen, in: Heinz Tichy/Ernö Deak/Richard Basler (Hg.), Von Minderheiten zu Volksgruppen. 20 Jahre Wiener Arbeitsgemeinschaft, Wien 2004, S. 83-99, hier S. 88.
20 Der Minderheitsrat der tschechischen und slowakischen Volksgruppe in Österreich (Menšinová rada české a slovenské větve v Rakousku) wurde 1925 gegründet und 1942 von den Nationalsozialisten aufgelöst. 1951 wurde er reaktiviert. Politisch repräsentierte er das freiheitlich-demokratische Lager, das eine Kooperation mit der kommunistischen Tschechoslowakei kategorisch ablehnte. Ihm gegenüber stand die pragfreundliche Vereinigung der Tschechen und Slowaken in Österreich (Sdružení Čechů a Slováků v Rakousku). Vgl. Mayer, Tschechen in Wien (Anm. 18), S. 61.
21 Brandeis, Wir kamen von anderswo… (Anm. 6), S. 51.
22 Vlasta Valeš, Die Integration der tschechoslowakischen Flüchtlinge in die tschechische Volksgruppe in Wien nach 1968, in: Der Donauraum 48 (2008) H. 1-2, S. 135-144, hier S. 139.
23 Ludwig Kolin, Bibliotheksverein »Jirásek« in Wien, in: Helena Basler u.a. (Hg.), Die Wiener Tschechen 1945–2005, Bd. 1: Zur Geschichte einer Volksgruppe, Wien 2006, S. 102-104, hier S. 102.
24 Ebd., S. 103.
25 Ota Koutny, Der Verein »Vlast – Nová Vlast«, in: Basler u.a., Die Wiener Tschechen 1945–2005 (Anm. 23), S. 114-118, hier S. 114.
26 Ebd., S. 115.
27 Kreisky-Archiv, VII.1 ČSSR, Postkarte an Kreisky, 2.10.1978.
28 Sarah Knoll, Zwischen Aufnahme und Transit. Österreichische Asyl- und Flüchtlingspolitik im Kalten Krieg, Bielefeld 2024, S. 133.
29 Valeš, Die Integration der tschechoslowakischen Flüchtlinge (Anm. 22), S. 139.
30 Vgl. Heiko Haumann, Lebenswelten und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Forschung, Wien 2012, S. 91.
31 Boris Nieswand/Heike Drotbohm, Einleitung: Die reflexive Wende in der Migrationsforschung, in: dies. (Hg.), Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung, Wiesbaden 2014, S. 1-37, hier S. 3.
32 Jochen Oltmer, Migration aushandeln: Perspektiven aus der Historischen Migrationsforschung, in: Andreas Pott/Christoph Rass/Frank Wolff (Hg.), Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?, Wiesbaden 2018, S. 239-254, hier S. 242.
33 Die Namen der in den Quellen genannten Personen werden in diesem Text anonymisiert, da nicht auszuschließen ist, dass Informationen lebender Personen betroffen sind.
34 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Brief an Ludwig Kolin, 29.6.1978.
35 Wie verschiedene Autor:innen bereits deutlich gemacht haben, war Migration aus dem östlichen Europa über die Grenzen des Eisernen Vorhangs meist nur möglich, wenn die Migrant:innen vom »Westen« als »Flüchtlinge« eingestuft wurden, da Fluchtbewegungen aus dem Sozialismus seitens »westlicher« Staaten für innen- und außenpolitische Ziele genutzt werden konnten. Vgl. hierzu etwa Albert Scherr/Karin Scherschel, Wer ist ein Flüchtling? Grundlagen einer Soziologie der Zwangsmigration, Göttingen 2019, S. 22; Philipp Ther, Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Berlin 2018, S. 254; Jannis Panagiotidis/Hans-Christian Petersen, Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Weinheim 2024, S. 118.
36 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Berufung gegen den Bescheid über Nichtanerkennung als Flüchtling I-SD-59.941-StB/81, 14.1.1982.
37 Marketa Spiritova, »Ich habe lieber gedient als zu schreiben«: Die Rolle der Frau in dissidentischen Netzwerken in der Tschechoslowakei nach 1968, in: Klaus Roth (Hg.), Soziale Netzwerke und soziales Vertrauen in den Transformationsländern. Ethnologische und soziologische Untersuchungen/Social Networks and Social Trust in the Transformation Countries. Ethnological and Sociological Studies, Zürich 2007, S. 101-119.
38 Přemysl Janýr (1926–1998) war ein Sozialdemokrat und Journalist, der nach der Invasion des Warschauer Paktes die ČSSR verlassen hatte. In Wien gründete er den migrantischen »Kulturklub der Tschechen und Slowaken«; er war eine zentrale Persönlichkeit der tschechoslowakischen Minderheit in Wien und hatte viele Kontakte innerhalb der SPÖ.
39 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Berufung gegen Bescheid über die Nichtanerkennung als politischer Flüchtling, 14.5.1985.
40 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Ansuchen um Zuweisung einer Wohnung bezw. finanziellen Zuschuß beim Ankauf (Ablöse) einer Altwohnung, 26.6.1975.
41 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Bezug zu Schreiben vom 5.9.1980, Zahl MA-52-3-02.064/80/HRRR, 19.9.1980.
42 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Gesuch um Genehmigung[,] eine kleine Waschmaschine aufstellen zu dürfen, 23.8.1973.
43 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Danksagung zur Beihilfe zum Ankauf von Einrichtungsgegenständen, 23.8.1973.
44 Forschungszentrum für historische Minderheiten, Bibliothek des Büchereivereins Jirásek, Ansuchen um Zuerkennung einer Möbelbeihilfe, 28.12.1972.
45 Valeš, Die Integration der tschechoslowakischen Flüchtlinge (Anm. 22), S. 139.
46 Knoll, Zwischen Aufnahme und Transit (Anm. 28).
47 Jan Raska, Czech Refugees in Cold War Canada, Winnipeg 2018, S. 175.
48 Knoll, Zwischen Aufnahme und Transit (Anm. 28), S. 269.
49 Vgl. Maximilian Graf/Sarah Knoll, Das Ende eines Mythos? Österreich und die Kommunismusflüchtlinge, in: Börries Kuzmany/Rita Garstenauer (Hg.), Aufnahmeland Österreich. Über den Umgang mit Massenflucht seit dem 18. Jahrhundert, Wien 2017, S. 206-229.

