Der Hungertod in Bildern

Fotografien in der öffentlichen Debatte um Hungerhilfe für Bengalen 1943


  1. Krieg, Kolonialismus und Zensur
  2. Eine kurze Entstehungsgeschichte der »Statesman«-Fotografien
  3. Auswirkungen der Fotografien auf die öffentliche Debatte in Bengalen
  4. Zirkulation und Umdeutung der »Statesman«-Fotografien in Großbritannien
  5. Die Nichtverwendung der »Statesman«-Fotografien in den USA
  6. Fazit

Anmerkungen

[Ich danke Heike Wieters, Tatjana Tönsmeyer, Jan-Holger Kirsch und Maria Framke für Kommentare und Hinweise.]

Wollten die Leser*innen des »Statesman« am 22. August 1943 das Kreuzworträtsel lösen, brauchten sie starke Nerven. In der englischsprachigen Zeitung, die im indischen Kalkutta (dem heutigen Kolkata) und in Neu-Delhi erschien, befand sich das Sunday Crossword diesmal unmittelbar neben der Fotografie einer jungen, hungernden Mutter und ihrem Kind, die zusammengekauert und nur mit wenigen Lumpen bekleidet auf einem Gehweg in Kalkutta lagen. Im Hintergrund des Bildes war der abgemagerte Körper eines Mannes zu sehen, dessen Sterbebett-Haltung erahnen ließ, dass auch Frau und Kind der Hungertod bevorstand. Die beigefügte Bildunterschrift untermauerte diese Vermutung.1

»Bengal’s Foodless«  (aus: The Statesman, 22.8.1943, unpaginiert. Leider waren die Zeitungsseiten nur als Scans vom Mikrofilm und dementsprechend in sehr schlechter Qualität verfügbar.)
»Bengal’s Foodless«
(aus: The Statesman, 22.8.1943, unpaginiert. Leider waren die Zeitungsseiten nur als Scans vom Mikrofilm und dementsprechend in sehr schlechter Qualität verfügbar.)

Mit insgesamt fünf Fotografien ausgezehrter, teilweise ohnmächtiger und entblößter bengalischer Frauen und Kinder hob die Zeitung an diesem Tag das Elend in Kalkutta hervor. Die Bilder waren die ersten Fotos der Hungersnot, die unmissverständlich auf die Notlage in der östlichen Provinz Britisch-Indiens verwiesen. Aus diesem Grund spielte der »Statesman« eine besondere Rolle dabei, das Leid der bengalischen Bevölkerung sowohl in Indien als auch außerhalb der britischen Kolonie sichtbar zu machen. Während sich in nahezu jeder historischen Abhandlung zur Bengalischen Hungersnot (auch als Great Bengal Famine bekannt) Vermerke zu dieser Rolle der Fotografien des »Statesman« finden lassen,2 hat die Geschichte der Fotos selbst – ihre Entstehung, Zirkulation und Rezeption – bis heute wenig Aufmerksamkeit erhalten.3 Die folgenden Ausführungen sollen dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Untersucht werden die Auswirkungen der Veröffentlichung und Reproduktion der Fotografien im Zusammenhang zeitgenössischer Forderungen nach Hungerhilfe. Hierzu folgt der Beitrag den Bildern des »Statesman« von Indien ausgehend nach Großbritannien und in die USA, um ihre Bedeutung im öffentlichen Diskurs zu untersuchen. Dieser Blick auf die Verbreitung der Fotos über nationale und imperiale Grenzen hinaus eröffnet eine neue Perspektive auf die Geschichte der Hungersnot.

1. Krieg, Kolonialismus und Zensur

Die historische Forschung zur Bengalischen Hungersnot hat sich bereits ausgiebig mit der Frage der Ursachen dieser verheerenden humanitären Krise auseinandergesetzt und dabei zurecht auf die Komplexität ihrer Genese verwiesen.4 Maßgeblich für die Entstehung der Hungersnot war Indiens Beteiligung am Zweiten Weltkrieg, die nicht nur in Bengalen, sondern in ganz Indien zu weitreichenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen führte. Als bedeutende britische Kolonie war Indien trotz der Proteste des Indian National Congress (INC) in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen worden und trug nun Truppen und Ressourcen zur alliierten Kriegsanstrengung bei. Die inflationsbedingte Entwertung von Löhnen und die steigenden Preise versperrten insbesondere landlosen Arbeitern und Kleinbauern den Zugang zu Lebensmitteln und resultierten vielerorts in Mangel- und Unterernährung.5 Darüber hinaus nahm Bengalen 1942 eine wichtige Rolle in der Verteidigung der östlichen Grenze des British Empire ein. Die Alliierten antworteten auf die wachsende Bedrohung durch Japan mit der Stationierung britischer und nordamerikanischer Soldaten in Bengalen. Sie verschärften die Lebensmittelsituation in der Provinz, indem sie Militärbasen auf landwirtschaftlich genutzten Flächen errichteten.6 Die Kolonialregierung entschloss sich ebenso dazu, Fischerboote zu konfiszieren und Reisvorkommen aufzukaufen, um potentiellen japanischen Invasoren das Vordringen in Bengalen zu erschweren – und entzog Reisbauern auf diese Weise ihre Erwerbsgrundlage.7 Letztlich beendete die Einnahme Burmas durch Japan im Frühjahr 1942 die Einfuhr von Reis nach Bengalen, der für die Lebensmittelversorgung der Provinz wichtig gewesen war.

Die ersten Anzeichen der Hungersnot zeigten sich bereits im Juni 1942, als Offiziere der Britisch-Indischen Armee berichteten, dass der Hunger im Osten Bengalens für ein »reichliches Angebot« (»abundant supply«) neuer Rekruten sorge.8 Um die ausgezehrten Männer in die Lage zu versetzen, den Kriegsdienst auszuüben, wurden Lager errichtet, in denen die Rekruten zunächst regelmäßige Mahlzeiten erhielten.9 Trotz dieser und weiterer Hinweise auf die Notlage der Landbevölkerung konnte sich die Hungersnot in den Folgemonaten ungehindert ausbreiten. Sie spitzte sich im Juni 1943 dramatisch zu, als hunderttausende Menschen auf der Suche nach Arbeit und Lebensmitteln ihre Dörfer verließen und nach Kalkutta flohen.

Die indische und die internationale Presse brachten die Bengalische Hungersnot erst Ende August 1943 in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Die späte und eher dürftige Berichterstattung war zu einem Großteil dem Vorgehen der britischen Kolonialmacht geschuldet. Letztere leugnete das Ausmaß des Hungers in Indien und nutzte die Kriegsgesetzgebung, um den Informationsfluss auszudünnen, der Bengalen mit dem restlichen Indien und der Welt verband.10 Auch hier stand das Vorgehen der Kolonialregierung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg: Kalkutta war ein wichtiger Standort für die Produktion kriegsrelevanter Materialien, und die Kolonialregierung bemühte sich auch während der Hungersnot um die Aufrechterhaltung der Kriegsgüterproduktion. Deshalb wollte sie vermeiden, dass Lebensmittel für die Hungerhilfe in den ländlichen Regionen Bengalens eingesetzt wurden. Zudem befürchteten koloniale Kriegsstrategen seit dem Einmarsch Japans in Burma, dass das Wissen um die Hungersnot dem Kaiserreich einen taktischen Vorteil verschaffen und einen Anreiz für einen Militärschlag bieten würde. Folglich nutzte der Kolonialstaat die vorhandenen Kriegsgesetze zur Einschränkung der Pressefreiheit. Dazu achteten der Chief Press Adviser der zentralen indischen Regierung und seine Mitarbeiter darauf, dass es Begriffe wie »famine«, »starvation« oder »corpse« nicht in Zeitungsausgaben schafften, die außerhalb Bengalens vertrieben wurden.11 Stattdessen enthielten Berichte Euphemismen wie »food situation« oder »sick destitute«, die angesichts weltweiter kriegsbedingter Krisenherde wohl wenig Aufregung verursachten. So konnte die öffentliche Kritik an dem Ausbleiben adäquater Maßnahmen zur Hungersnotbekämpfung minimiert werden. Dass sich dies änderte, lag zweifelsohne auch an der Sichtbarkeit der Krise, die sich mit der Publikation der »Statesman«-Fotografien einstellte.

Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, die Publikation der fotografischen Zeugnisse der Hungersnot im »Statesman« mit dem Beginn der Forderung nach Nothilfe (oder der Nothilfe selbst) gleichzusetzen. Bereits als sich erste Anzeichen einer Lebensmittelkrise in Teilen Bengalens abzeichneten, begannen Hilfsorganisationen Freiwillige zu mobilisieren, die Essen und Medizin verteilten.12 Organisationen wie die seit 1828 bestehende hinduistische Reformbewegung Brahmo Samaj oder die 1897 gegründete Ramakrishna-Mission verfügten über jahrzehntelange Erfahrung in der Hungerhilfe; andere Hilfskomitees fanden sich als Reaktion auf die Hungersnot zusammen und griffen meist auf einen reichen Erfahrungsschatz ihrer Mitglieder zurück, die zuvor Flüchtlingen und Opfern kommunaler Unruhen zu Hilfe geeilt waren.13

Darüber hinaus besaß die Forderung nach Hungerhilfe trotz der Zensur in Indien schon vor der Veröffentlichung der »Statesman«-Fotografien eine transnationale Dimension. Obwohl sich die Kolonialregierung bemühte, den Informationsfluss zwischen Kolonie und Metropole zu regulieren, waren die vom Hunger betroffenen Regionen nicht völlig isoliert. Beispielsweise informierten bengalische Ortsgruppen der All-India Women’s Conference (AIWC), einer bedeutenden indischen Frauenorganisation, bereits Mitte 1943 die Hauptversammlung des AIWC in Bombay über die Zustände in Bengalen. Mitglieder der Hauptversammlung korrespondierten wiederum mit der Vertretung der AIWC in London, die eng mit britischen Frauenorganisationen zusammenarbeitete und nun in Großbritannien bei verschiedenen Versammlungen auf die Situation in Bengalen aufmerksam machte.14 Zudem befand sich bereits seit dem Sommer 1942 eine kleine Delegation der britischen Quäkerorganisation Friends Ambulance Unit (FAU) in Kalkutta. Sie war nach Indien gereist, um den zivilen Opfern der Bombardierung Kalkuttas durch Japan zu helfen. Angesichts der akuten Not wurde die FAU jedoch stattdessen in der Hungerhilfe aktiv und unternahm bald Schritte, um die britische Öffentlichkeit in ihre Hilfsbemühungen einzubeziehen.15 Durch diese vielfältigen persönlichen und institutionellen Netzwerke erhielten Anhänger*innen der indischen Unabhängigkeitsbewegung sowie weitere Kritiker*innen des Kolonialismus in Großbritannien und den USA Informationen zur Lage in Bengalen. Einige von ihnen nutzten diese, um auf das dortige Leid aufmerksam zu machen und von der Regierung British-Indiens Hilfe zu fordern.16 Das in London ansässige India Relief Committee und das später in New York gegründete India Famine Relief Committee konnten sogar selbst Gelder organisieren, die der Hungerhilfe privater Organisationen zugutekamen. Trotz dieser diversen Bemühungen machte das Ausmaß der Krise das Eingreifen der Kolonialregierung unabdingbar. Mit Unterstützung der Royal Air Force und geleitet vom neuen Vizekönig Archibald Wavell wurde im November 1943 Nahrungsmittelhilfe nach Kalkutta und in die ländlichen Regionen Bengalens gebracht. Für eine geschätzte Anzahl von über drei Millionen Menschen kam diese Hilfe jedoch zu spät.17

Festzuhalten bleibt, dass es die gleichzeitigen Bemühungen verschiedener Personen und Institutionen inner- und außerhalb Indiens waren, die es schließlich vermochten, die Hungersnot in Bengalen einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen und so den Druck auf die Kolonialregierung zu erhöhen. Nichtsdestoweniger befeuerte und untermauerte die Veröffentlichung der ersten Fotografien der Hungersnot im August 1943, und ihre Weiterverbreitung in den folgenden Wochen, bestehende Forderungen nach adäquaten Hilfsmaßnahmen.

2. Eine kurze Entstehungsgeschichte der »Statesman«-Fotografien

Der »Statesman« war eine der meistgelesenen englischsprachigen Tageszeitungen Britisch-Indiens. Obwohl die Tatsache, dass sich das Blatt in britischem Besitz befand, eine gewisse Nähe zum Kolonialregime implizierte, galt es vielen als objektiv und genoss auch bei der indischen Bevölkerung großes Ansehen.18 Die Publikation der Fotografien im August war Teil einer zweimonatigen Kampagne des »Statesman«, die die indische Regierung in Delhi und Whitehall dazu bewegen sollte, die Hungersnot zu bekämpfen. Zunächst hatte der »Statesman« mit ungewöhnlich scharfer Kritik eine adäquate politische Reaktion auf den Hunger in der östlichen Provinz Britisch-Indiens gefordert. Als sich abzeichnete, dass Worte die Regierung nicht umstimmen konnten, suchte die Redaktion nach anderen Möglichkeiten, Aufmerksamkeit zu generieren, und fand eine Lücke in den Presserichtlinien. Diese hatten schriftliche Verweise auf die Hungersnot zwar ausdrücklich verboten, aber zur Verwendung von Fotos geschwiegen. Aufgrund dieser Ambiguität der Presserichtlinien hofften der Herausgeber des »Statesman« Ian M. Stephens und seine Mitarbeiter, dass die Gegenmaßnahmen der Zensurbehörde milde ausfallen würden – eine Vermutung, die sich bewahrheitete.19

Die Entscheidung des »Statesman«, gerade mit Hilfe von Fotografien ein öffentliches Bewusstsein für die Hungersnot schaffen zu wollen, erscheint naheliegend. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren Fotos Bestandteil der Berichterstattung über Hungersnöte in Indien und ein häufig bemühtes Mittel zur Spendenakquise.20 Vor allem ausländische Missionare griffen gern auf das Medium zurück, um ihren Geldgebern in Großbritannien und Nordamerika die Not der indischen Bevölkerung einerseits und die behauptete Relevanz ihrer Arbeit andererseits näherzubringen.21 Aber auch indische Institutionen, die sich in der Hungerhilfe engagierten, begannen bereits früh, ihre Tätigkeiten mit der Kamera zu dokumentieren.22 Deshalb verwundert es nicht, dass Fotos auch Teil der Presseberichte über die Bengalische Hungersnot waren. Vielmehr stellt sich die Frage, ob für die späte Entstehungszeit der Bilder allein die Zensur verantwortlich war. In seinen Memoiren spricht Stephens wiederholt die Schwierigkeit an, Fotografien des Hungers zu schaffen, die sich dazu eigneten, das Interesse des modernen Medienkonsumenten zu wecken. So schreibt er beispielsweise: »Horrid though it may be to say, multitudinous death from this cause [famine] looked at merely optically, regarded without emotion as a spectacle, is until the crows get at it, the rats and kites and dogs and vultures very dull.«23 Die graduelle Verelendung der Bevölkerung war laut Stephens optisch wenig »spektakulär« und folglich ungeeignet, um Leser*innen von der Notwendigkeit zu überzeugen, Hilfe zu leisten. »Herausragende« Bildmotive hingegen konnten im August 1943 ohne Zweifel gefunden werden, da sich die Situation der geflüchteten Landbevölkerung zunehmend verschärft hatte. Um die gewünschten Bilder zu machen, mussten Fotografen des »Statesman« lediglich ein paar Schritte gehen – und kehrten nach wenigen Stunden mit Bildmaterial zurück.24 Anschließend entschied die Redaktion, welche Aufnahmen veröffentlicht wurden. Stephens zufolge waren einige der Bilder aufgrund ihres Inhalts »utterly unpublishable«.25 Welche Motive als publizierbar bzw. nicht publizierbar galten, bleibt jedoch unklar. Der ersten Veröffentlichung von Bildern folgten bald weitere Fotoserien, die durch Nahaufnahmen sterbender, abgemagerter Kinder und Einzelaufnahmen toter, auf der Straße liegender Körper der Darstellung des Leids zusätzliche Drastik verliehen.

Sowohl der Fokus auf die körperliche Auszehrung der Hungerleidenden als auch die Dominanz der Darstellung von Frauen und Kindern entsprachen gängigen Bildkonventionen.26 Frauen und Kinder waren bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Grenzen Indiens hinaus ein etabliertes Motiv von Elendsfotografie – nicht nur im Kontext von Hungersnöten.27 Die dargestellte Verwundbarkeit, die assoziierte Gefährdung von Mutterschaft und Mutterliebe und die Schutzbedürftigkeit der Abgebildeten konnten Empathie hervorrufen. Die Darstellung des Leids von Frau und Kind hatte zugleich einen appellativen Charakter, der gängigen sozialen Geschlechternormen entsprechend den Mann in die Pflicht nahm, Schutz zu gewähren. Im speziellen Kontext Britisch-Indiens richteten sich Bilder bengalischer Frauen zusätzlich an die weißen Kolonialherren, die sich schon Mitte des 19. Jahrhunderts zu Rettern der indischen Frau erklärt hatten.28 Die »Statesman«-Fotos der Hungersnot in Bengalen griffen also auf ein Bildrepertoire zurück, das innerhalb und außerhalb Indiens fest etabliert war.

3. Auswirkungen der Fotografien
auf die öffentliche Debatte in Bengalen

Die Deutlichkeit, mit der die Bilder des »Statesman« auf die Hungersnot verwiesen, erhöhte den Druck auf die Zensurbehörde, weitere Berichte zuzulassen. Nach der Veröffentlichung der ersten Fotos im »Statesman« schlossen sich bengalische Politiker zusammen, um gegen die Willkür der Zensur zu protestieren, die insbesondere die Pressefreiheit jener Zeitungen einschränkte, die Sympathien mit der indischen Nationalbewegung hegten. Gerade erst hatte der Chief Press Adviser untersagt, dass die bedeutende englischsprachige Zeitung »Amrita Bazar Patrika«, die sich im Gegensatz zum »Statesman« in indischem Besitz befand, einen Kommentar zur Lage in Bengalen veröffentlichte. Über die Grenzen tiefer politischer Gräben hinweg waren sich Bengalens Politiker einig, dass es angesichts der »Statesman«-Fotografien der indischen Presse nicht länger verweigert werden könne, über das wahre Ausmaß des Hungers zu berichten.29 Dass die Zensurbehörde Zugeständnisse machte, zeigte sich, als kurz darauf die »Amrita Bazar Patrika« eine erste eigene Fotoserie ver­öffentlichte.

Während die dortigen Bildmotive denen des »Statesman« ähnelten, lassen sich auch visuelle Zeugnisse finden, die von gängigen Konventionen abwichen. Besonders erwähnenswert sind die zahlreichen bildlichen Darstellungen, die in der kommunistischen Presse zirkulierten und die sich trotz inhaltlicher Überschneidungen an vielen Stellen vom etablierten Repertoire der Pressefotografie absetzten. Zahlreiche Künstler*innen arbeiteten 1943/44 an der Seite der Kommunistischen Partei Indiens, um das Leid der bengalischen Bevölkerung abzubilden, und boten so eine wichtige, alternative Stimme im öffentlichen Diskurs.30 Die Fotografien Sunil Janahs (1918–2012), die ebenfalls im letzten Drittel des Jahres 1943 entstanden, beschränkten sich oftmals nicht auf die Darstellung von Opfern, sondern suchten Perspektiven, die einen würdevollen Blick ermöglichten.31 Anstelle der mittlerweile typischen Inszenierung nackter und entstellter Körper machte Janah Porträtaufnahmen, die dem anonymen Leid buchstäblich ein Gesicht verliehen.32 Darüber hinaus schuf die kommunistische Presse durch die Dokumentation von Frauenprotestmärschen im Frühjahr 1943 und die Mitarbeit von Aktivistinnen in der Hungerhilfe im weiteren Verlauf der Krise einen Gegenpol zur Darstellung femininer Hilflosigkeit.33

Inwiefern sich kommunistische Künstler*innen gezielt von anderen Elendsdarstellungen abzugrenzen versuchten, bedarf weiterer Untersuchungen – zumal sie solche Darstellungen auch oft reproduzierten.34 Implizite Hinweise finden sich etwa im bengalischen Theaterstück »Nabanna«, das eine bedeutende künstlerische Aufarbeitung der Hungersnot darstellt. »Nabanna« wurde von der Indian People’s Theatre Association (IPTA) 1944 in Indien aufgeführt, sowohl innerhalb als auch außerhalb Bengalens, um Gelder für die Hungerhilfe und den Wiederaufbau der Provinz zu mobilisieren.35 Das Skript des Theaterstücks floss später in das Filmdebüt des berühmten Regisseurs und Autors K.A. Abbas (1914–1987) ein. »Dharti ke Lal« (im Englischen: »Children of the Earth«) feierte 1946 Premiere und gilt bis heute nicht nur als wichtiges Zeitzeugnis, sondern auch als bedeutendes kinematographisches Werk. IPTA stand der Kommunistischen Partei Indiens nahe und unterstützte diese beim Sammeln von Spenden für die Hungerhilfe, welche die Partei durch das People’s Relief Committee in Bengalen verteilte. Die Laiendarsteller*innen, die »Nabanna« aufführten, waren selbst in der Hungerhilfe aktiv gewesen und verwischten damit gezielt Grenzen zwischen Zeugenschaft, Erinnerung und Fiktion. »Nabanna« enthält einen kritischen Kommentar zum Gebaren englischsprachiger Fotografen. Im Theaterstück bieten die dargestellten Fotojournalisten Hungerleidenden Geld an, um sie dazu zu bringen, vor der Kamera zu posieren. Anstelle von Mitgefühl zeigten die Fotografen dieser Szene zufolge ein ausgeprägtes Interesse am Geschäft mit dem Elend.36

Die Publikation der Fotos im »Statesman«, der rasch weitere Bildveröffentlichungen in anderen Zeitungen und Zeitschriften folgten, vergrößerte das Bewusstsein für die Hungersnot in Indien. Zeitlich korrelierte dieser Umstand mit einem Anwachsen der Spendenbereitschaft. Lokale Hilfsorganisationen, die sich seit Monaten in der Hungerhilfe engagierten, erhielten nun zusätzliche Unterstützung.37 Um die Hungersnot erfolgreich einzudämmen, war aber weiterhin das Einschreiten der Kolonialregierung notwendig. Um diese zum Handeln zu bewegen, war die Erhöhung des öffentlichen Drucks auf die Regierung in Großbritannien besonders wichtig.

4. Zirkulation und Umdeutung der
»Statesman«-Fotografien in Großbritannienn

Etwa einen Monat nach ihrer Veröffentlichung in Bengalen tauchten erste Fotografien des »Statesman« in der britischen Presse auf. Einzelne Bilder wurden zunächst von der »Sunday Pictorial« reproduziert, die dem moderat linken politischen Spektrum angehörte und bereits durch regierungskritische Aussagen Unmut auf sich gezogen hatte.38 Die Herausgeber der britischen Tageszeitung versahen die Motive des »Statesman« mit einer neuen Bildunterschrift. Diese führte das Sterben in Bengalen auf das »beschämende Versäumnis« (»shameful neglect«) der kolonialen Regierung zurück und forderte »ganz Großbritannien« auf, die Regierung unter Druck zu setzen, sofortige Hilfe zu schicken.39 Darüber hinaus bediente sich die Zeitung eines Vergleichs, der die britische Regierung noch deutlicher wegen ihrer Untätigkeit anklagte. Die »Sunday Pictorial« spielte mit der Ähnlichkeit der Bilder aus Bengalen zu den Fotografien der Hungersnot in Griechenland, die durch die deutsche Besetzung verursacht worden war und durch die Hilfsleistungen des neu gegründeten Oxford Committee for Famine Relief (später Oxfam) Aufmerksamkeit in Großbritannien erhielt.40 Die Bildunterschrift erinnerte britische Leser*innen daran, dass es sich bei den Hungerleidenden in Bengalen nicht um Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands handelte, sondern um Bürger*innen des British Empire.41 Auf diese Weise bildeten die Greueltaten der NS-Zeit bereits vor der Veröffentlichung von Bildern aus Konzentrationslagern in Großbritannien einen Bezugspunkt, der dazu diente, eine moralische Verpflichtung britischer Medienkonsument*innen zur Hungerhilfe in Britisch-Indien zu artikulieren.

Nach ihrer ersten Veröffentlichung in Großbritannien wurden die »Statesman«-Fotografien auf vielfältige Weise reproduziert und verändert. Der jüdische Karikaturist Victor Weisz (1913–1966), der 1935 aus Deutschland nach Großbritannien geflüchtet und nun unter seinem Alias »Vicky« für den »News Chronicle« tätig war, fand Inspiration in den Bildern des »Statesman«. Vicky verwendete die Bilder als Grundlage für Karikaturen der Hungersnot und nutzte seine künstlerische Freiheit, um das fotografisch hervorgehobene Leid weiter zu verdichten und zu intensivieren. Während Vicky durch den Einsatz harter Konturen die für Karikaturen gängigen Übertreibungen erzielte, verschmolz er mitunter Inhalte mehrerer Fotografien zu einer einzigen Karikatur, wobei er andere Personen und Objekte verschwinden ließ. Neben der Veröffentlichung im »News Chronicle« wurden Vickys Zeichnungen 1944 zu einer selbstständigen Publikation zusammengefügt. Sie erhielten durch das Vorwort des indischen Literaturkritikers und Autors Mulk Raj Anand (1905–2004) eine neue Botschaft. Anand blickte mit Hoffnung auf die Nachkriegszeit und nahm die Zeichnungen zum Anlass, die effektive Bekämpfung von Armut und Hunger zu fordern.42

»Bengal’s Plight«. Der Zeichner Vicky nahm die beiden Fotos links als Vorlage für seine eigene Darstellung.  (Ausschnitt aus: The Statesman, 29.8.1943, unpaginiert)
»Bengal’s Plight«. Der Zeichner Vicky nahm
die beiden Fotos links als Vorlage für seine eigene Darstellung.
(Ausschnitt aus: The Statesman, 29.8.1943, unpaginiert)
»Give us this day our daily bread«. Solche christlichen Formeln, die den Darstellungen der Hungersnot beigefügt wurden, dienten vor allem zur Identifikation der Betrachter*innen mit den Betroffenen.  (aus: 9 Drawings of Vicky. Introduction by Mulk Raj Anand, London 1944, S. 15)
»Give us this day our daily bread«. Solche christlichen Formeln,
die den Darstellungen der Hungersnot beigefügt wurden,
dienten vor allem zur Identifikation der Betrachter*innen mit den Betroffenen.
(aus: 9 Drawings of Vicky. Introduction by Mulk Raj Anand, London 1944, S. 15)

Zuvor hatte Anand die lauter werdenden Forderungen nach Hilfe für die bengalische Bevölkerung bereits mehrfach unterstützt. Während im Sommer 1943 die Kolonialregierung das Ausmaß der Krise in Bengalen noch leugnete, gingen einzelne Verfechter*innen des indischen Anti-Kolonialismus und britischen Anti-Imperialismus in London auf die Straße, um Druck auf die Regierung auszuüben.43 Die Veröffentlichung der Bilder des »Statesman« befeuerte die politische Agitation dieser Gruppen, die sich der Fotografien bedienten. Dabei verschmolzen Forderungen nach Nothilfe und nach politischen Zugeständnissen. So entstanden beispielsweise Flugblätter, welche die Bilder des »Statesman« nutzten, um neben sofortiger Lebensmittelhilfe die Freilassung inhaftierter politischer Gefangener zu fordern. Nach dem Aufruf Mohandas K. Gandhis zum sofortigen Rückzug der Kolonialmacht aus Indien im August 1942, der mit landesweiten Protesten einhergegangen war, war die Führung des INC inhaftiert worden. Die Freilassung der politischen Elite Indiens galt vielen Zeitgenossen als Schlüssel zur raschen Bekämpfung der Hungersnot in Bengalen.

Dieses beidseitig bedruckte Flugblatt der Indian Freedom Campaign findet sich zwischen den Ausgaben des »Socialist Commentary« von 1943, die im Labour History Archive & Study Centre des People’s History Museum Manchester stehen.
Dieses beidseitig bedruckte Flugblatt der Indian Freedom Campaign findet sich zwischen den Ausgaben des »Socialist Commentary« von 1943, die im Labour History Archive & Study Centre des People’s History Museum Manchester stehen.

Ein weiteres Beispiel für die Nutzbarmachung der Hungersnot-Fotografien durch anti-koloniale und anti-imperiale Netzwerke findet sich in einer Oktober-Ausgabe des »New Leader«, dem Sprachrohr der sozialistischen Independent Labour Party. In einer Collage wurden zwei Fotos des »Statesman« mit Abbildungen des britischen Premierministers Winston Churchill und des Innenministers Herbert Morrison kombiniert.44 Durch die Anordnung der Fotos beugen sich die beiden Männer scheinbar über die am Boden liegenden und hockenden bengalischen Frauen und Kinder, während sie mittels beigefügter Zitate den kolonialen Herrschaftsanspruch Großbritanniens in Indien beteuern. Beide Politiker waren bereits einschlägig dafür bekannt, den politischen Forderungen der indischen Unabhängigkeitsbewegung nur geringes Verständnis entgegenzubringen. In der Collage verwiesen Churchill und Morrison auf die vermeintlichen Wohltaten der britischen Kolonialherrschaft in Indien – Aussagen, die durch die Elendsfotografien ins Absurde gezogen wurden.

»What we have we hold«  (aus: The New Leader, 16.10.1943, S. 3)
»What we have we hold«
(aus: The New Leader, 16.10.1943, S. 3)

Diese Einbettung der Bilder in kolonialkritische Berichte erhöhte den Druck auf die britische Regierung. Entscheidend hierfür war die Reputation, die der »Statesman« in Großbritannien besaß und die es Gegnern der Hungerhilfe erschwerte, die Bilder als Inszenierungen abzutun. In den folgenden Wochen geriet der Secretary of State for India L.S. Amery zunehmend in Erklärungsnot. Die India League – eine wichtige Institution indischer Nationalisten, die sowohl in London als auch in verschiedenen städtischen Hochburgen indischer Arbeiter und Seefahrer in Großbritannien vertreten war – übersetzte die englischsprachigen Presseberichte in Bengali, Urdu und Hindi, um sie der indischen Diaspora in Großbritannien zugänglich zu machen.45 Dies zeigte schnell Wirkung. Als Amery im Oktober in seinem Wahlkreis Sparkbrook öffentlich reden wollte, wurde er von einem wütenden Mob indischer Arbeiter und Seeleute bedrängt und musste den Rückzug antreten.46 Unterdessen wurden nicht nur in Großbritannien Forderungen an die Regierung erhoben, Nothilfe nach Bengalen zu schicken. Proteste gegen die Zensur in Indien und gegen das Sterben in Bengalen wurden auch in den USA lauter.

5. Die Nichtverwendung der »Statesman«-Fotografien in den USA

Der Widerspruch gegen die Untätigkeit der britischen Regierung und der Ruf nach einem Einschreiten der Vereinigten Staaten wurde von einem breiten Bündnis indischer und nordamerikanischer Kolonialismus-Kritiker*innen getragen.47 Ähnlich wie in Großbritannien hatte es die Presse in den USA lange Zeit versäumt, über die Krise in Bengalen zu berichten. Zwar hatte die »Herald Tribune« bereits 1942 erklärt, dass die ländliche Bevölkerung Indiens unter den wirtschaftlichen Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges litt, doch blieb es bei solchen einzelnen Schlaglichtern.48 Während die Zensur in Indien die Informationen ausdünnte, die die Presse in den USA erreichten, waren es vor allem die Kriegsereignisse in Europa, die den Hunger in Indien überschatteten und das Interesse der nordamerikanischen Medien an der Situation in Indien schwächten.

Anders als in Indien und Großbritannien konnten Befürworter*innen der Hungerhilfe in den USA nicht von der Triebkraft der Bilder profitieren, obwohl die Fotografien des »Statesman« bereits im September 1943 durch die amerikanische Botschaft in London an das US-amerikanische State Department weitergeleitet worden waren. Auch der amerikanische Generalkonsul in Kalkutta, der sich früh dafür ausgesprochen hatte, dass die USA den Druck auf Großbritannien erhöhen sollten, um Hilfe von offizieller Seite zu ermöglichen, übermittelte Ausgaben des »Statesman« an die Regierung in Washington. Gleichwohl war die US-Regierung nicht davon zu überzeugen, ihren wichtigsten Kriegspartner zur politischen Kursänderung zu zwingen. Folglich verzichteten die nordamerikanischen Behörden darauf, die Bilder an die Presse weiterzuleiten.49 Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Bilder auch auf andere Weise in die USA gelangten, doch sie wurden nicht Teil der dortigen Medienberichte. Erst gegen Ende November alarmierten zunächst Zeichnungen der Hungersnot, die der Künstler und Kriegsberichterstatter Millard Sheets (1907–1989) erstellt hatte, die Leser*innen des populären Magazins »Life«.50 Im Dezember 1943 folgten erste Fotografien. Es waren die Aufnahmen des Magnum-Fotografen William Vandivert (1912–1989), die neben hungernden Frauen und Kindern, die sich in einer Warteschlange aneinanderreihten, auch das Aufladen von toten Körpern auf ein Lastenfahrzeug und das Verbrennen von Leichen zeigten.51 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Bildzeugnisse hatte die britische Kolonialregierung die Hungersnot bereits anerkannt und Hilfe gesandt. Dies erleichterte es der US-Regierung, aufkommende öffentliche Forderungen nach einem eigenen Engagement in der Nothilfe zurückzuweisen und zu argumentieren, dass die Beseitigung der bengalischen Hungersnot in den Zuständigkeitsbereich Großbritanniens falle. Dennoch hatte die Berichterstattung von »Life« einen positiven Effekt auf die Mobilisierung nichtstaatlicher Hungerhilfe. Das öffentliche Bewusstsein für die Hungersnot erleichterte es, private Spender*innen dazu zu bringen, die Arbeit des American Friends Service Committee (AFSC) zu finanzieren. Die Quäkerorganisation engagierte sich seit kurzem in Bengalen, um den Überlebenden, die in eine tiefe ökonomische und soziale Krise gestürzt worden waren, beim Wiederaufbau zu helfen.52

6. Fazit

Den »Statesman«-Fotografien, die während der Bengalischen Hungersnot von 1943 entstanden sind, wird oftmals eine besondere Rolle in der Entstehung öffentlicher Forderungen nach Nothilfe zugesprochen. Allerdings wurden die Verwendung der Fotos in öffentlichen Debatten um Hungerhilfe und ihre Mobilisierungswirkung bisher keiner kritischen Reflexion unterzogen. Deshalb hat dieser Beitrag den Zusammenhang zwischen der Veröffentlichung der Bilder und der Forderung nach Hungerhilfe in den Mittelpunkt gestellt.

Während sich eine Kausalität zwischen der Publikation der Fotografien und der Entsendung von Nothilfe schwer nachweisen lässt, deutet die zeitliche Abfolge der Ereignisse darauf hin, dass die Bilder dazu beitrugen, den öffentlichen Druck auf die Kolonialregierung in Indien und Großbritannien zu erhöhen – bis zu deren Einlenken im November 1943. Darüber hinaus korrelierte die Veröffentlichung der Bilder mit einem Anwachsen nichtstaatlicher Hungerhilfe indischer und britischer Organisationen. In Bengalen nutzten Politiker und Zeitungsverleger die Publikation der Aufnahmen, um Folge-Veröffentlichungen durchzusetzen, und berichteten so mit größerer Freiheit über die Hungersnot. Schnell entstanden weitere fotografische Zeugnisse, die auch gezielt verwendet wurden, um Spenden für die Hungerhilfe zu generieren. In Großbritannien hingegen blieben die Bilder des »Statesman« lange die einzigen Fotos der Hungersnot. Doch eigneten sich kolonialkritische und anti-imperiale Gruppen die Bilder an und nutzten sie, um neben der Hungerhilfe für Bengalen auch politische Zugeständnisse von der britischen Kolonialmacht zu fordern. In den USA wiederum hatten die »Statesman«-Fotografien nahezu keinen Einfluss auf die Mobilisierung von Hungerhilfe für die bengalische Bevölkerung. Erst die Veröffentlichung von William Vandiverts Fotos in der Dezember-Ausgabe des Magazins »Life« im Jahr 1943 machte die Hungersnot für Nordamerika »sichtbar«. Auch in diesem Fall ist zu beobachten, dass der Anfang der Berichterstattung über den Hunger in Bengalen mit der Veröffentlichung erster Bilder der Krise zusammenfiel und so die Hilfsbemühungen nichtstaatlicher Akteure begünstigte.

Die hier vorgestellte Betrachtung ausgewählter Fotografien hat darüber hinaus gezeigt, dass Bildquellen eine Annäherung an die bisher wenig untersuchten nichtstaatlichen Reaktionen auf die Hungersnot erlauben und einen Zugang bieten, um die Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren am öffentlichen Diskurs zu erschließen. Besonders die Umdeutung der »Statesman«-Fotografien in Großbritannien wirft ein Schlaglicht auf die Verflechtung von Hungerhilfe mit der Geschichte der indischen Unabhängigkeitsbewegung und der Dekolonisierung. Fragt man nach der Verbreitung von Fotografien über nationale und imperiale Grenzen hinweg, werden größere Zusammenhänge öffentlicher Debatten um Hungerhilfe kenntlich.


Anmerkungen:

1 »A young mother, with a child clasped to her breast, weak from want of food, lies on the pavement of a Calcutta street, while a man, apparently on the verge of death, is in the background.« Bengal’s Foodless, in: The Statesman, 22.8.1943, unpaginiert.

2 Siehe hierzu exemplarisch: Cormac Ó Gráda, Eating People Is Wrong, and Other Essays on Famine, Its Past, and Its Future, Princeton 2015, S. 42f.; Janam Mukherjee, Hungry Bengal. War, Famine and the End of Empire, London 2015, S. 125f.; Srimanjari, Through War and Famine. Bengal 1943–45, Delhi 2009, S. 180; James Vernon, Hunger. A Modern History, Cambridge 2007, S. 148f.

3 Das fehlende Interesse an der Geschichte dieser speziellen Fotos ist ein Indiz für eine noch weitreichendere Forschungslücke. Historiker*innen haben sich bisher kaum mit den fotografischen und anderen künstlerischen Zeugnissen der Hungersnot in Bengalen auseinandergesetzt. Es finden sich zwar einige Studien, die sich mit den Werken bengalischer Künstler*innen beschäftigen, die während und nach der Hungersnot entstanden sind. Doch finden diese Analysen abseits der Humanitarismus-Forschung statt, die sich in den letzten Jahren vermehrt der Hunger- und Elendsfotografie zugewandt hat. Für Arbeiten zur künstlerischen Darstellung der Hungersnot von 1943 siehe u.a. Sanjukta Sunderason, Shadow-Lines: Zainul Abedin and the Afterlives of the Bengal Famine of 1943, in: Third Text 31 (2017), S. 239-259; Emilia Terracciano, Art and Emergency. Modernism in Twentieth-Century India, London 2018, S. 69-124 (Kap. 2: Beyond or in Emergency? The Emergence of Photography during the 1943 Bengal Famine: Sunil Janah).

4 Die folgenden Ausführungen bleiben daher notwendigerweise skizzenhaft. Für eine umfassendere Besprechung der Ursachen der Hungersnot siehe u.a. Mukherjee, Hungry Bengal (Anm. 2); Madhusree Mukerjee, Churchill’s Secret War. The British Empire and the Ravaging of India during World War II, New York 2010; Srimanjari, Through War and Famine (Anm. 2).

5 Christopher A. Bayly, ›The Nation Within‹: British India at War 1939–1947, in: Proceedings of the British Academy 125 (2004), S. 265-285; Mark B. Tauger, The Indian Famine Crises of World War II, in: British Scholar 1 (2009), S. 166-196; Indivar Kamtekar, A Different War Dance: State and Class in India 1939–1945, in: Past & Present 176 (2002), S. 187-221.

6 Yasmin Khan, The Raj at War. A People’s History of India’s Second World War, London 2015, S. 162-170.

7 Ebd., S. 200-219.

8 Bisheshwar Prasad/Bishen L. Raina (Hg.), Official History of the Indian Armed Forces in the Second World War, 1939–45. Medical Services. Administration, Delhi 1953, S. 564.

9 Ebd.

10 Für die Arbeit der kolonialen Zensurbehörden während des Zweiten Weltkrieges in Indien siehe Sanjoy Bhattacharya, Propaganda and Information in Eastern India, 1939–1945. A Necessary Weapon of War, Richmond 2001.

11 Ian M. Stephens, Monsoon Morning, London 1966, S. 187f.

12 Ich untersuche die Hungerhilfe in Bengalen ausführlich in einem Kapitel meiner Dissertation. In Auszügen wird die nichtstaatliche Hungerhilfe ebenfalls besprochen in Anwesha Roy, Making Peace, Making Riots. Communalism and Communal Violence. Bengal 1940–1947, Delhi 2018, S. 69-103; Gargi Chakravartty, Emergence of Mahila Atma Raksha Samiti in the Forties. Calcutta Chapter, in: Tanika Sarkar/Sekhara Bandyopadhyaya (Hg.), Calcutta. The Stormy Decades, Delhi 2015, S. 177-203; Abhijit Sarkar, Fed by Famine: The Hindu Mahasabha’s Politics of Religion, Caste, and Relief in Response to the Great Bengal Famine, 1943–1944, in: Modern Asian Studies 54 (2020), S. 2022-2086.

14 All-India Women’s Conference Papers. Correspondence Relating to Relief Work Done by A.I.W.C. in Bengal Famine of 1943. The Nehru Memorial Museum & Library (NMML); Renuka Ray, My Reminiscences. Social Development During Gandhian Era and After, New Delhi 1982, S. 107.

15 Steven Patrick Baumann, Quaker Relief and Rehabilitation: The Bengal Famine 1942–45, in : Quaker Studies 25 (2020), S. 95-112; Tegla Davies, Friends Ambulance Unit. The Story of the F.A.U. in the Second World War 1939–1946, London 1947; Geoffrey Carnall, Gandhi’s Interpreter. A Life of Horace Alexander, Edinburgh 2010, S. 162f.

16 Die Verflechtungen zwischen Indien und Großbritannien sowie ihren Einfluss auf die Mobilisierung von Hungerhilfe 1943 habe ich an anderer Stelle ausführlicher besprochen. Siehe Joanna Simonow, The Great Bengal Famine in Britain: Metropolitan Campaigning for Food Relief and the End of Empire, 1943–44, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 48 (2020), S. 168-197.

17 Die genaue Anzahl der Todesopfer bleibt umstritten. Eine ausführliche Analyse findet sich in Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford 1982, S. 195-216. Anm. der Red.: Siehe zu diesem Buch auch den Beitrag von Florian Hannig im vorliegenden Heft.

18 Mukherjee, Hungry Bengal (Anm. 2), S. 125.

19 Stephens, Monsoon Morning (Anm. 11), S. 178-182.

20 Christina Twomey/Andrew J. May, Australian Responses to the Indian Famine, 1876–78: Sympathy, Photography and the British Empire, in: Australian Historical Studies 43 (2012), S. 233-252.

21 Heather Curtis, Depicting Distant Suffering: Evangelicals and the Politics of Pictorial Humanitarianism in the Age of American Empire, in: Material Religion 8 (2012), S. 153-182.

22 Deborah Hutton, Raja Deen Dayal and Sons: Photographing Hyderabad’s Famine Relief Efforts, in: History of Photography 31 (2007), S. 260-275.

23 Stephens, Monsoon Morning (Anm. 11), S. 184.

24 Über die Fotografen und die weiteren Umstände der Anfertigung der Fotografien liegen leider keine Informationen vor. Die hier gemachten Aussagen beruhen auf den Erinnerungen von Ian Stephens.

25 Stephens, Monsoon Morning (Anm. 11), S. 182. Eine spannende wissenschaftliche Auseinandersetzung zum Thema Ethik, Bilder und Publikationspraxis findet sich im nachfolgenden Themendossier: Christine Bartlitz/Sarah Dellmann/Annette Vowinckel (Hg.), Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, in: Visual History, 20.7.2020.

26 Siehe hierzu auch Parama Roy, Women, Hunger, and Famine. Bengal, 1350/1943, in: Bharati Ray (Hg.), Women of India. Colonial and Post-Colonial Periods, Delhi 2005, S. 392-423, und Margaret Kelleher, The Feminization of Famine. Expressions of the Inexpressible?, Durham 1997, S. 162-221.

27 Siehe hierzu Heide Fehrenbach, Children and Other Civilians. Photography and the Politics of Humanitarian Image-Making, in: dies./Davide Rodogno (Hg.), Humanitarian Photography. A History, Cambridge 2015, S. 165-199; Katharina Stornig, Promoting Distant Children in Need: Christian Imagery in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Johannes Paulmann (Hg.), Humanitarianism and Media. 1900 to the Present, New York 2019, S. 41-66; Thomas Hertfelder, Unterwegs im Universum der Deutungen. Dorothea Langes Fotozyklus »Migrant Mother«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 11-39.

28 Catherine Hall, Of Gender and Empire: Reflections on the Nineteenth Century, in: Philippa Levine (Hg.), Gender and Empire, Oxford 2007, S. 46-76.

29 Bengal Food Situation. Dr. Mookerjee’s Statement. Adjournment Motion Re: Ban On Publication, in: Amrita Bazar Patrika, 1.9.1943, S. 1.

30 Siehe z.B. Sanjukta Sunderason, As ›Agitator and Organizer‹: Chittaprosad and Art for the Communist Party of India, 1941–48, in: Object 13 (2011), S. 76-95.

31 Beispiele finden sich in Sunil Janah, Photographing India, Oxford 2013. Janahs Fotografien wurden hauptsächlich von kommunistischen Netzwerken innerhalb Indiens reproduziert und durch Ausstellungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.

32 Vgl. Tanushree Ghosh, Witnessing Famine: The Testimonial Work of Famine Photographs and Anti-Colonial Spectatorship, in: Journal of Visual Culture 18 (2019), S. 327-357, v.a. S. 341-350.

33 Solche Bilder finden sich in Ausgaben von »Peopleʼs War« und »Janayuddha«, die beide von der Kommunistischen Partei Indiens publiziert wurden.

34 Siehe hierzu ebenfalls Ghosh, Witnessing Famine (Anm. 32).

35 Siehe z.B. Sharmishtha Saha, Theatre and National Identity in Colonial India, Singapore 2018, S. 119-152.

36 Roy, Women, Hunger, and Famine (Anm. 26), S. 403.

37 Dieser Trend spiegelt sich vielerorts in Quellen nichtstaatlicher Hilfsbemühungen wider, etwa in: Correspondence relating to relief work done by AIWC in Bengal Famine of 1943, in: All-India Women’s Conference Papers, NMML.

38 Dies erwähnen James Curran/Jean Seaton, Power without Responsibility. Press, Broadcasting and the Internet in Britain, London 2002, S. 62-66.

39 They are dying of hunger, in: Sunday Pictorial, 26.9.1943, S. 7.

40 Siehe etwa Violetta Hionidou, Famine and Death in Occupied Greece, 1941–1944, Cambridge 2005; Maggie Black, A Cause of Our Times: Oxfam. The First Fifty Years, Oxford 1992, S. 1-21.

41 They are dying of hunger (Anm. 39).

42 9 Drawings of Vicky. Introduction by Mulk Raj Anand, London 1944.

43 Simonow, The Great Bengal Famine in Britain (Anm. 16), S. 175-185.

44 »What we have we hold«, in: The New Leader, 16.10.1943, S. 3.

45 Extract from New Scotland Yard Report no. 257 dated 27 October 1943. Asia, Pacific & Africa Collections (APAC), India Office Records (IOR): L/P&J/12/455.

46 Amery Gets the Bird, in: Socialist Appeal, November 1943, S. 3; Police Protection for Amery, in: The Town Crier, 18.12.1943, S. 1.

47 M.S. Venkataramani, Bengal Famine of 1943. The American Response, Delhi 1974.

48 Der Artikel löste Reaktionen der Kolonialregierung in Whitehall aus. Der Text selbst und die Kontroverse können eingesehen werden in: Poverty and Famine: British Press Service (New York) request for an article, APAC, IOR: L/I/1257. File 478/A.

49 Venkataramani, Bengal Famine of 1943 (Anm. 47), S. 27-31.

50 Life’s Reports. The Bengal Famine, in: Life, 22.11.1943, S. 16-21. Zahlreiche Ausgaben von Life wurden durch Google digitalisiert und können unter <https://books.google.de/books/about/LIFE.html?id=R1cEAAAAMBAJ&redir_esc=y> eingesehen werden.

51 William Vandivert, Famine in India. One million Indians die to point the terrible moral of inflation, in: Life, 20.12.1943, S. 38-44.

52 Die Spendenakquise und Arbeit des AFSC werden in den Berichten der Organisation aufgegriffen. Siehe z.B.: A Report in Friendsʼ Famine Relief in India 1945. Together with a Report of American Relief for India, Inc., in: John Rich Papers. Haverford College Quaker & Special Collections; Baumann, Quaker Relief (Anm. 15), S. 102-110.

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