Zeitgeschichte neurodivers?

Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation

  1. Diversitätsforderungen in der Zeitgeschichte
  2. Diverse Gehirne behaupten ihre Identität
  3. Neurodiversifizierung der Geschichtswissenschaft?
    Inhalte und Personen

Anmerkungen

1. Diversitätsforderungen in der Zeitgeschichte

In der akademischen wie der breiteren Öffentlichkeit ist der Begriff der Diversität gegenwärtig nahezu universal anschlussfähig. Der Gründungsdirektor des Göttinger Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Steven Vertovec stimmt gar Loretta Lees zu, die schon 2003 bemerkte, mit Diversität verhalte es sich wie mit Mutterschaft oder Apfelkuchen: Man könne nur mit größeren Schwierigkeiten dagegen sein.1 In den letzten dreißig Jahren ist Diversität zunächst in den USA und dann auch in Westeuropa sowohl als sozialwissenschaftliche Analysekategorie wie auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und zur Aushandlung von Teilhabeansprüchen immer bedeutsamer geworden.2 Diversität ist das normative Leitbild staatlicher und internationaler Antidiskriminierungsprogramme, die, wie etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in der Bundesrepublik, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität […] verhindern oder […] beseitigen« sollen (§ 1).3 Das öffentliche Bekenntnis zu Diversität ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit in Unternehmen und Organisationen, die oft Strategien des Diversitätsmanagements entwickeln.4 Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Diversitätsbejahung liegt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, der zweiten Frauenbewegung, aber auch der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung sowie der Behindertenrechtsbewegung, die vor allem seit den 1970er-Jahren in den USA und in Westeuropa für die Anerkennung ihrer marginalisierten und diskriminierten Subjektpositionen stritten.5

Wissenschaftlich, gesellschaftlich, ökonomisch und politisch gilt Diversität inzwischen oft als ein Wert an sich. Seine Legitimität speist sich dann aus normativen Emanzipations- und Gleichberechtigungsforderungen. Darüber hinaus wird das Diversitätspostulat aber auch damit begründet, dass die Zunahme an Vielfalt in einer Organisation, einer Behörde, einem Unternehmen oder einer akademischen Disziplin deren Leistungsfähigkeit erhöhe, genauso wie die Biodiversität, die parallel zum Leitbegriff der Ökologie avancierte, Ökosysteme resilienter gegenüber zukünftigen Schocks mache.6 Gerade die »Vielstimmigkeit und Banalität« des Diversitätsbegriffs sieht Vertovec als Ursache seines Erfolgs: Je nach Kontext begründe Diversität Ansprüche auf Anerkennung ökonomischer und kultureller Schäden, die aus vergangener Diskriminierung resultieren, auf gleichmäßige politische und gesellschaftliche Repräsentation oder auf besondere staatliche Leistungen.7

Als kultureller Wert ist Diversität heute in Westeuropa und den USA zwar hegemonial, aber keinesfalls unumstritten. Konservative Kritiker*innen versuchen eigene Besitzstände gegen die unter dem Begriff der Diversität erhobenen Teilhabeansprüche zu verteidigen und sind allenfalls bereit, bestimmte Ansprüche anzuerkennen – etwa von Frauen, nicht aber von Menschen mit Migrationshintergrund oder Behinderung. Auf der politischen Linken wird demgegenüber meist der grundsätzlichere Einwand gegen den Begriff der Diversität und die mit ihm oft verbundene Identitätspolitik erhoben, sie ließen Differenzen bestehen und naturalisierten diese oftmals sogar, anstatt sie zu überwinden. Zudem vernachlässige Diversitätspolitik systematisch soziale Differenzen zugunsten von ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität.8 Schließlich machen sich nicht alle der genannten Emanzipationsbewegungen die Vorstellung zu eigen, Teil einer allgemeineren Diversitätsbewegung zu sein – vor allem von feministischer Seite wird dies, genauso wie eine generelle diversitätspolitische Agenda, bisweilen abgelehnt.

In Bezug auf Wissenschaften und Bildungseinrichtungen wurde die Diversitätsdebatte zunächst in den Vereinigten Staaten geführt, wo sie auch eine Schärfe erreichte, die sie hierzulande bisher nicht hat. Seit der Supreme Court mit dem Urteil »Regents of the University of California v. Allan Bakke« 1978 anerkannt hatte, dass die Diversität der Studierendenschaft ein legitimes Kriterium bei der Zulassung an Universitäten sei, versuchen diese ihre Diversität durch »affirmative action«-Programme zu steigern oder auszutarieren.9 In den vergangenen Jahren, nicht zuletzt angesichts eines US-Präsidenten, der unter selbsterklärten Rassist*innen »good people« zu erkennen meinte, und der »Black Lives Matter«-Bewegung, wurde die Diversitätsdebatte auch in der anglo-amerikanischen Geschichtswissenschaft mit erhöhter Vehemenz geführt. 2016 erklärte etwa der Vorsitzende der American Historical Association (AHA) Patrick Manning es zum Ziel der Vereinigung, die Diversität des Faches zu erhöhen. Dabei bezog er die Diversitätsforderung sowohl auf die Inhalte der Geschichtswissenschaft als auch auf die Personen, die sie betreiben: »By ›diversity‹ I refer first to diversity among practitioners and students of history: in gender, ethnicity, nationality, sexual orientation, economic status, and racial categorization.«10 Wenn zudem die Themen, Methoden und räumlichen Bezüge diverser würden, so Manning weiter, werde Geschichtswissenschaft komplexer, nuancierter und letztlich besser. Zwei Jahre später erläuterte auch der Herausgeber der »American Historical Review« (AHR) Alex Lichtenstein, die Zeitschrift müsse »dekolonisiert« werden: »I have come to believe that the AHR should take the risk of confronting its own potential complicity in the inability of the profession to divest itself fully of its past lack of openness to scholars and scholarship due to race, color, creed, gender, sexuality, nationality, and a host of other assigned characteristics.«11 Ähnliche Forderungen wurden 2018 aus dem Bericht der Race, Ethnicity, and Equality Working Group der britischen Royal Historical Society abgeleitet.12

Im Unterschied zum allgemeinen Diversitätsdiskurs fehlt in den Statements und Diskussionen über die Diversifizierung der Geschichtswissenschaft die Kategorie der Behinderung.13 Auch in der sozialwissenschaftlichen Diversitätsdiskussion kommen die theoretischen Bezüge vor allem aus den Gender, Queer und Postcolonial Studies – nicht aus den Disability Studies. So enthält das »Routledge International Handbook of Diversity Studies« zwar einen Aufsatz zu »Disability and Diversity«,14 zugleich aber neun Beiträge, die sich mit Race und Ethnicity beschäftigen. Wenn bei der geforderten Erhöhung der Diversität auf Disability Bezug genommen wird, geht es zumeist um körperliche, nicht um geistige Behinderung. Gerade in diesem Feld hat sich seit den 1990er-Jahren aber, wiederum ausgehend vom anglo-amerikanischen Raum, unter dem Begriff der Neurodiversität eine lebhafte und instruktive Diskussion darüber entwickelt, ob bestimmte Wahrnehmungs- und Denkweisen, welche die Psy-Wissenschaften bisher als »krankhaft« oder »gestört« klassifizieren, nicht vielmehr als divers und gleichwertig begriffen werden sollten. Dabei schließen Vertreter*innen der Neurodiversitätsbewegung explizit an die Erfahrungen und Forderungen der Bürgerrechts- und Frauen- sowie der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung an.

In der Geschichtswissenschaft wurde diese Neurodiversitätsdiskussion, wenn überhaupt, bisher nur im engen Feld der Psychiatriegeschichte zur Kenntnis genommen. Daher werde ich sie im Folgenden kurz skizzieren, um dabei zu zeigen, dass sich in ihr die erkenntnistheoretischen und wissenschaftskommunikativen Herausforderungen der Diversitätsdebatte mit besonderer Radikalität zeigen. Im Anschluss werde ich fragen, welche Konsequenzen die Anerkennung von Neurodiversität für eine diversitätsbejahende Geschichtswissenschaft haben kann. Wie bei der allgemeinen Diversitätsdebatte lässt sich dies sowohl auf die Inhalte der Forschung als auch auf ihr Personal beziehen: Wie könnte Neurodiversität die Inhalte des Faches sowie seine personelle Zusammensetzung ändern, und in welchem Maß ist das erstrebenswert?

2. Diverse Gehirne behaupten ihre Identität

Mit seiner populären Geschichte des Autismus unter dem Titel »NeuroTribes« verschaffte der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist Steve Silberman 2015 der bis dahin vor allem in Betroffenenkreisen und einschlägigen Internetforen geführten Neurodiversitätsdiskussion breite öffentliche Aufmerksamkeit. Ausgehend von der Beobachtung des sprunghaften Anstiegs von Autismusdiagnosen seit den 1990er-Jahren und ihrer Häufung im Silicon Valley vertritt Silberman die Position: »[…] conditions like autism, dyslexia, and attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) should be regarded as naturally occurring cognitive variations with distinctive strengths that have contributed to the evolution of technology rather than mere checklists of deficits and dysfunctions.«15 Den Begriff »Neurodiversität« hatte die australische Soziologin Judy Singer schon Ende der 1990er-Jahre geprägt, als bei ihrer Tochter Autismus diagnostiziert wurde und diese Diagnose auch ihr eigenes Verhalten und das ihrer Mutter in neuem Licht erscheinen ließ: »Odd bits of my history which hadn’t ever fitted into the race/class/gender/parents-are-to-blame discourses now began to come into sharp focus.«16 Während Schwarze, Frauen, Homosexuelle und Menschen mit körperlichen Behinderungen seit den 1970er-Jahren Vereinigungen gegründet, ihre Stimmen hörbar gemacht hätten und erfolgreich für ihre Rechte eingetreten seien, gelte das nicht für diejenigen, die neurologisch von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen abwichen. Für Singer war aber klar, dass auch die Neurodiversen in die Reihe der Identitätsbewegungen gehörten: »The ›neurologically different‹ represent a new addition to the familiar political categories of class/gender/race and will augment the insights of the social model of disability. The rise of neurodiversity takes postmodern fragmentation one step further. Just as the postmodern era sees every once too solid belief melt into air, even our most taken-for-granted assumptions – that we all more or less see, feel, touch, bear, smell, and sort information in more or less the same way (unless visibly disabled) – are being dissolved.«17

Tatsächlich hatten sich die Strukturen des Behindertenaktivismus in den 1970er-Jahren im Zuge der allgemeineren Emanzipationsforderungen der 68er- und der Frauenbewegung sowie der Neuen Sozialen Bewegungen in Westeuropa und den USA grundlegend gewandelt.18 Zunehmend wandten sich Menschen mit Behinderungen selbst gegen die doppelte Marginalisierung, dass ihnen sowohl gesellschaftliche Teilhabe als auch die Möglichkeit der Artikulation ihrer Interessen abgesprochen wurde.19 Unter dem Slogan »Nothing About Us Without Us« setzten sich weltweit aber vor allem Menschen mit körperlichen Behinderungen für die Abschaffung der Strukturen ein, die sie in ihren Entfaltungsmöglichkeiten behinderten.20 Dabei waren sie durchaus erfolgreich und trugen mit dazu bei, das medizinische Defizitmodell von Behinderung durch ein sozial-kulturelles Verständnis zu ersetzen und Barrierefreiheit bzw. Integration und Inklusion zu gesellschaftlichen Leitwerten zu machen.21 Menschen mit geistigen Behinderungen blieben in diesen Gruppen aufgrund ihrer oft geringeren Fähigkeiten zur Artikulation und Soziabilität meist marginal. Parallel hatte allerdings schon seit den 1960er-Jahren die Antipsychiatriebewegung massive Kritik an den Zuständen in den psychiatrischen Kliniken geübt, die als »totale Institutionen« eher dazu geeignet seien, Menschen psychisch krank zu machen, als zu ihrer Gesundung beizutragen.22 Die Kritik der Anstaltspsychiatrie mündete während der 1970er-Jahre international in Reformbestrebungen; sie führte zur stärkeren Deinstitutionalisierung von psychiatrischen Patient*innen, die sich nun in offeneren Lebens- und Therapieformen wiederfanden.23

Nicht zuletzt als Konsequenz der Antipsychiatriebewegung wurde seit den 1970er-Jahren auch das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit bzw. geistiger Normalität und Abnormität neu verhandelt. Vor dem Hintergrund einer linken Kapitalismus- und Gesellschaftskritik wurde die Gesellschaft insgesamt für das psychische Leiden Einzelner verantwortlich gemacht, ja psychisches Leiden geradezu als normale Reaktion auf eine kranke Gesellschaft gesehen.24 Funktionieren und Mitmachen erschienen demgegenüber als eigentlich krankhaft und abnorm. Zugleich verbreitete sich mit der internationalen Rezeption der Arbeiten Michel Foucaults und anderer Autor*innen die theoretische Auffassung, dass psychische Normalität keine natürliche Entität ist, sondern vielmehr erst durch die Abgrenzung vom Kranken und Abnormen entsteht, dass »unsere ganz normalen Wünsche und Gefühle, Ideen und Phantasien, unsere normale Ökonomie und unser normales gesellschaftliches Handeln, unsere normale Rationalität – daß unsere Normalität nur noch in der strikten Abgrenzung von allem Nicht-Normalen zu fassen ist«.25

Auch wenn zu dieser Normalitäts- und Normalisierungskritik einzelne Psychiatrie-Erfahrene beitrugen, handelte es sich doch eher um ein Gespräch über Menschen, die als geistig behindert oder psychisch krank klassifiziert wurden, als um einen von diesen selbst getragenen Diskurs. Denn schließlich verfügten diese zumeist in einem geringeren Maße über die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes, die es ihnen ermöglicht hätte, ihre jeweils eigenen Sichtweisen zu artikulieren. Ihre Interessen vertraten vielmehr vor allem Elternvereinigungen wie die »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.« oder die National Society for Autistic Children in den USA.26 In ihrem Bemühen um Entstigmatisierung versuchten solche Vereinigungen seit den 1980er-Jahren unter anderem die Person/Human First Language durchzusetzen, die Menschen nicht auf ihre Behinderungen reduzieren, sondern ihr Menschsein in den Vordergrund stellen sollte: Es sollte »Mensch mit Behinderung« statt »Behinderter« gesagt werden. In Deutschland kam diese sprachliche Veränderung, die von den Verbänden der Blinden und Gehörlosen und anderen Betroffenen allerdings von Beginn an als wiederum stigmatisierend abgelehnt wurde, im Jahr 2000 auch in der Umbenennung der 1964 gegründeten »Aktion Sorgenkind« in »Aktion Mensch« zum Ausdruck.

Waren Menschen mit körperlichen Behinderungen oder körperlich Behinderte also seit den 1970er-Jahren verstärkt selbst für ihre Rechte eingetreten, verringerte sich die Sprachlosigkeit psychisch kranker, geistig behinderter oder eben neurodiverser Menschen erst mit der Ausweitung und Zunahme von Autismusdiagnosen seit den 1980er-Jahren.27 Neben Kindern wurde jetzt zunehmend auch bei Erwachsenen Autismus diagnostiziert, und das Spektrum reichte von nicht-sprachlichen Autist*innen, die zu Bewältigung ihres Alltags dauerhaft auf Hilfe anderer angewiesen sind, bis zu Menschen, die hochgradig artikulationsfähig und beruflich erfolgreich sind – häufig auch Asperger-Autisten genannt. Letztere beanspruchten genauso wie die »Krüppelgruppen« der 1970er-Jahre, dass nicht mehr über sie, sondern von und mit ihnen selbst gesprochen wurde. Autist*innen bildeten damit den Kern der Neurodiversitätsbewegung, die aber breiter ist und auch weitere Formen geistiger Andersartigkeit zu repräsentieren beansprucht.

Als Geburtsstunde der Neurodiversitätsbewegung gilt gemeinhin ein Vortrag, den der intersexuelle Autist Jim Sinclair 1993 auf der International Conference on Autism in Toronto hielt, nachdem frühere Versuche, auf den von Eltern und psychiatrischen Expert*innen dominierten Versammlungen der Autism Society of America zu sprechen, gescheitert waren.28 Schon zuvor hatte Sinclair gemeinsam mit Donna Williams und einigen anderen Autist*innen das Autism Network International (ANI) gegründet, das in expliziter Abgrenzung zu den von Eltern geleiteten Verbänden eine Organisation von Autist*innen für Autist*innen sein sollte. Nach ersten Anfängen mit einem gedruckten Newsletter, der den programmatischen Titel »Our Voice« trug, ermöglichte das Internet seit Mitte der 1990er-Jahre die rasche internationale Ausbreitung über den ANI-Listserver.29 Im Unterschied zu den von Nicht-Autist*innen organisierten Konferenzen, die viele Autist*innen als optische, akustische und soziale Überforderung wahrnahmen, kam ihnen das Format der asynchronen, schriftlichen Kommunikation eher entgegen.30 Zugleich organisierte das ANI aber auch sogenannte Autreat-Camps, bei denen Autist*innen über mehrere Tage nur in Gemeinschaft anderer Autist*innen sein konnten, und davon inspiriert gründeten sich lokale Selbsthilfegruppen von Autist*innen.31 Seit 2005 feiert die Gruppe Aspies for Freedom nach dem Vorbild der Schwulenbewegung zudem am 18. Juni jeweils den Autistic Pride Day.32

In seinem Vortrag von 1993 verglich Sinclair sich selbst und andere Autist*innen mit Außerirdischen, also mit Wesen, die sich ganz grundsätzlich von den übrigen Menschen unterschieden. Autismus, führte er aus, sei keine Krankheit, die therapiert werden könne und überwunden werden müsse, sondern es handele sich vielmehr um eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur bzw. eine Identität. Es sei »a way of being«: »It is pervasive; it colors every experience, every sensation, perception, thought, emotion, and encounter, every aspect of existence. It is not possible to separate the autism from the person – and if it were possible, the person you’d have left would not be the same person you started with.«33 An die zuhörenden Eltern gerichtet, fuhr Sinclair fort, ihr Wunsch, den Autismus ihrer Kinder zu heilen, sei daher gleichbedeutend mit dem Wunsch, dass ihr autistisches Kind nicht mehr existiere und ein nicht-autistisches Kind an seine Stelle trete. Entsprechend lehnte Sinclair auch die Person First Language ab. Denn Autismus mache das Wesen eines Menschen aus und bestimme seine Identität: »I can be separated from things that are not part of me, and I am still the same person. […] But autism is part of me. Autism is hard-wired into the ways my brain works. I am autistic because I cannot be separated from how my brain works.«34 Das autistische Gehirn eines neurodiversen Menschen funktioniere anders als das Gehirn eines »neurotypischen Menschen«, sei aber deswegen nicht minderwertig. In ihrer internen Kommunikation verkehrt die Neurodiversitätsbewegung rhetorisch gern Normalität und Abnormität, zeitweise etwa mit einem Institute for the Study of the Neurologically Typical, und wehrt sich dagegen, dass autistisches Verhalten von anderen als Abweichung von einer erstrebenswerten Norm verstanden wird.35

Die Neurodiversitätsbewegung basiert darauf, dass introspektives Wissen um das eigene Selbst und Verhalten gegen die Zumutung eines rein auf externen Verhaltensbeobachtungen basierenden Wissens anderer über die eigene Person in Stellung gebracht wird. Obwohl bisher nicht bekannt ist, ob und auf welche Weise sich die Gehirne autistischer Menschen systematisch von denen neurotypischer unterscheiden, behaupten Vertreter*innen der Neurodiversitätsbewegung aber auch oft, ihre grundsätzlich andersartige Weltwahrnehmung und Denkweise sei das Resultat einer spezifischen neuronalen Struktur ihres Gehirns.36 So beschreibt Jane Meyerding, wie sie sich im Prozess ihrer autistischen Selbsterkenntnis schrittweise von universalen Gleichheitsannahmen verabschiedet habe: »I used to think I was like everyone else. Now I think I am different from most people, including most of the people with whom I share more or less identical demographics. My brain works somewhat differently from most brains (from ›normal‹ brains).«37 Mit der neurologischen Differenzbehauptung wird die identitätspolitische Strategie der Neurodiversitätsbewegung insofern gestärkt, als die Annahme einer grundsätzlichen Verschiedenartigkeit nun scheinbar nicht nur auf introspektivem Wissen basiert, sondern auf der naturwissenschaftlichen und intersubjektiv nachvollziehbaren natürlichen Varianz physischer Phänomene.

Die Annahme, beim Autismus und anderen Phänomenen, die im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) sowie der International Classification of Diseases (ICD) gelistet werden, handele es sich um neurodiverse Formen der Identität, hat weitreichende Konsequenzen für die Frage, wie gesellschaftlich mit ihnen umzugehen ist.38 So erklärt Simon Baron-Cohen, der das Autism Research Centre an der University of Cambridge leitet, wenn man Autismus als Konsequenz der Diversität möglicher Gehirne begreife, von denen keines normal, sondern alle einfach nur verschieden seien, handele es sich nicht mehr unbedingt um eine psychische Störung.39 Von einer solchen sei nur zu sprechen, wenn ein Individuum subjektiv leide und/oder in allen möglichen Umgebungen »below an average level of functioning« falle. Autist*innen zum Beispiel zeigten aber in einer Umgebung, die ihren Wahrnehmungsbesonderheiten Rechnung trüge, nicht nur keinen Leidensdruck, sondern oft auch normale oder höhere Leistungen als neurotypische Menschen. Analog zur Homosexualität, die als therapiebedürftige Störung galt, bis sie mit dem DSM III 1980 als natürliche Variante sexueller Orientierungen anerkannt wurde, müsse daher genauso für Teile des Autismusspektrums die Frage gestellt werden, ob es sich überhaupt um eine Störung handele.

Angesichts der Zunahme von Autismusdiagnosen betrifft dies einen wachsenden Teil der Bevölkerung. Gingen Psychiater*innen 1966 davon aus, dass nur etwa vier von 10.000 Kindern autistisch seien, wird gegenwärtig zumeist geschätzt, dass etwa ein Prozent der Kinder autistisch sei.40 Schließt man andere im DSM gelistete Störungen mit ein, vergrößert sich die Zahl noch einmal erheblich.

Nachdem lange Zeit Konsens bestand, dass Autismus eine therapiebedürftige Störung sei, lehnt die Neurodiversitätsbewegung die Therapiebedürftigkeit nun grundsätzlich ab.41 In den einschlägigen Internetforen führen ihre Vertreter*innen geradezu glaubenskriegerische Auseinandersetzungen mit Elterninitiativen wie Cure Autism Now oder Defeat Autism Now! und kritisieren solche Autismustherapien, die ihrer Ansicht nach nur dazu dienen, autistisches Verhalten zu normalisieren und möglichst unanstößig für neurotypische Menschen zu machen.42 Stattdessen fordern sie, autismusfreundlichere Umwelten zu schaffen und die gesellschaftliche Toleranz für abnormes Verhalten zu erhöhen – eine Forderung, die auch auf andere neurodiverse Identitäten übertragen wird. Im Zentrum der Kritik steht dabei die sehr aufwendige, nach behavioristischen Prinzipien verfahrende Applied Behavior Analysis (ABA), die in den USA als Goldstandard der Autismustherapie gilt. Denn diese betrachte nur das offensichtliche Verhalten des Kindes als etwas, das im Falle des »Exzesses« reduziert und im Falle des »Defizits« stimuliert werden müsse, ohne nach der Funktion des Verhaltens für das Kind bzw. seinen Gründen und Ursachen zu fragen.43 Was für neurotypische Beobachter*innen als sinnloses und unmotiviertes, Lernprozesse behinderndes Verhalten erscheine (Händewedeln, Klatschen, rhythmisches Wippen, Hüpfen), könne aber aus der Perspektive der ersten Person sehr wohl sinnhaft sein. Schlimmstenfalls werde ein Verhalten wegkonditioniert, während der Schmerz, von dem es eigentlich entlasten solle, bestehen bleibe.44

Im Unterschied zu psychiatrischen Expert*innen, die oft eine vermittelnde Position zwischen Umweltveränderung und Therapie einnehmen und verhaltenstherapeutische Interventionen vor allem für eine bestimmte Gruppe von Autist*innen im Rahmen eines langfristigen Behandlungsplanes befürworten, gelten solche Interventionen aus Sicht der Neurodiversitätsbewegung als Menschenrechtsverletzungen.45 So erklärt die kanadische Autistin Michelle Dawson, zur Legitimation der Applied Behavior Analysis werde Autist*innen aufgrund ihres nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechenden Verhaltens die Menschlichkeit abgesprochen: »One wide­spread result of autism-ABA industry articles of faith is the dismantling of autistic people into series of bizarre and inappropriate behaviours. Similar dehumanizing strategies have formed the backbone of human rights violations throughout history.«46 Nach den Prinzipien der ABA gebe es keine autistischen Menschen, sondern nur unangemessene Verhaltensweisen, die mit intensivem Therapieeinsatz überwunden werden könnten, um damit überhaupt erst Menschen hervorzubringen. Demgegenüber betont Dawson den individuellen Sinn von Verhaltensweisen, die Ausdruck einer spezifisch autistischen Persönlichkeit seien.47 Als identitätspolitische Bewegung, die sich gegen normalisierende Bestrebungen richtet und stattdessen den Spielraum des legitimen Verhaltens erweitern will, stellte sich die Neurodiversitätsbewegung vor allem in die Tradition der LGBTIQ+-Emanzipationsbewegungen. Gerade bei der Kritik an der Applied Behavior Analysis wird dies explizit, weil ihr Erfinder Ole Ivar Lovaas selbst auch an Therapien zur Normalisierung von geschlechtsspezifisch wahrgenommenen Verhaltensweisen beteiligt gewesen war. Genauso wie die sexuelle Konversionstherapie die Existenz diverser, nicht den Normen entsprechender sexueller Identitäten nicht anerkenne, zerstöre auch die ABA das Leben der von ihr Betroffenen im Namen der Normalität, argumentiert etwa Melanie Yergeau: »Its aims are to socialize – to straighten – every embodied domain of its neuroqueer subjects.«48

3. Neurodiversifizierung der Geschichtswissenschaft?
Inhalte und Personen

Die Forderungen nach Anerkennung, Teilhabe und Repräsentation, welche die Neurodiversitätsbewegung erhebt, entsprechen diversitäts- und identitätspolitischen Positionen, die auch in den Frauen-, Black & Minority Ethnic oder LGBTIQ+-Bewegungen vertreten wurden und werden. In den Diskussionen um eine diversere Geschichtswissenschaft der vergangenen Jahre haben sie aber bisher keine Berücksichtigung gefunden. Man könnte argumentieren, das liege daran, dass sie weniger Menschen betreffen – und zwar eben diejenigen, die aufgrund einer geistigen Behinderung oder psychischen Störung nicht dazu in der Lage sind, an der Produktion historischen Sinns mitzuwirken. Erkennt man das Ziel der Diversität aber so an, wie dies etwa in der American Historical Association und der American Historical Review geschieht, kann man kaum vertreten, eine Bevölkerungsgruppe, die sich identitätspolitisch artikuliert, aufgrund ihrer Randständigkeit oder Andersartigkeit nicht zu berücksichtigen. Schließlich geht es bei der Diversitätsstrategie gerade darum, dass in der Geschichtswissenschaft auch marginalisierte Subjektpositionen sicht- und hörbar werden. Darüber hinaus ist es schon längst eine Grundannahme von Disability Studies und Disability History, dass Behinderung keine isoliert zu betrachtende medizinische Kategorie ist, sondern vielmehr »a key defining social category on a par with race, class, and gender«.49 Behinderung setzt Normalität genauso voraus wie Normalität Behinderung, sodass deren Nichtberücksichtigung und eine Begrenzung der Geschichte auf die neurotypischen, »temporarily abled bodies« unvollständig ist.

Nichtsdestoweniger wirft die Aufnahme von Neurodiversität in das diversitätspolitische Programm der Geschichtswissenschaften – wie wohl auch der meisten anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen – größere Schwierigkeiten auf als diejenige der anderen marginalisierten Subjektpositionen, die inzwischen zumindest in den Diversitätsbekenntnissen allenthalben anerkannt werden. Denn diese gehen zumeist grundsätzlich davon aus, dass Frauen, Menschen verschiedener Hautfarben und ethnischer Zuordnungen oder sexueller Orientierungen und Identitäten prinzipiell zu den gleichen intellektuellen Leistungen fähig sind wie weiße, heterosexuelle Männer und nur aufgrund von Kriterien aus dem Wissenschaftssystem ausgeschlossen werden, die nichts mit dieser Leistungsfähigkeit zu tun haben und dem System eigentlich fremd sein sollten.

Neurodiversität besagt demgegenüber, dass nicht nur die Erfahrungen neurodiverser Menschen, sondern auch ihre Denkweisen grundlegend andere sind, sodass sie selbst unter gleichen Bedingungen nicht zu den gleichen, sondern zu anderen Leistungen fähig sind. Neurodiversität stellt die Grundlagen geteilten Wissens und damit auch historischer Erkenntnis fundamentaler in Frage, indem sie eine Verschiedenartigkeit der Gehirne behauptet, aufgrund derer den Neurodiversen die Relevanzstrukturen, Wahrnehmungs-, Klassifikations- und Denkleistungen neurotypischer Menschen prinzipiell nur eingeschränkt zugänglich sind. Umgekehrt wird die nur begrenzte Verstehbarkeit aber auch für die autistischen oder anders diversen kognitiven Prozesse geltend gemacht und bisweilen explizit eine »Standpunktepistemologie« reklamiert. Diese stellt die Hegemonie, Universalität und Übersetzbarkeit wissenschaftlichen Wissens in Frage: »A standpoint position claims that authority over knowledge is created through direct experience of a condition or situation.«50 In diesem Sinne kann es dann kein vollständig intersubjektiv einholbares Wissen über die Erfahrung neurodiverser Menschen geben.

Die Idee einer Standpunktepistemologie, die sich gegen das richtet, was meist als universalistischer Wissens- und Objektivitätsbegriff der europäischen Aufklärung gefasst wird, ist als solche nicht neu. Sie stammt zunächst aus der marxistischen Denk­tradition, in der angenommen wird, dass die Klassenzugehörigkeit die jeweiligen gesellschaftlichen und individuellen Erkenntnismöglichkeiten wesentlich bestimmt. In ihrer postmodernen Variante negiert die Standpunktepistemologie zunächst die Existenz eines universalen, göttlichen Standpunktes, von dem aus die Objektivität und Wahrheit einer wissenschaftlichen Position ermittelt werden könnte.51 In ihrer Dekonstruktion wissenschaftlichen Wissens als weißes, männliches Herrschaftswissen haben sich auch feministische und postkoloniale Theoretiker*innen auf diese Position berufen. Im Projekt der feministischen Epistemologie ging es etwa darum, einer als hegemonial männlich begriffenen Objektivität eine feministische Objektivität entgegenzustellen.52 In den Subaltern Studies wurde grundsätzlich bezweifelt, ob Angehörige der kolonisierenden Nationen dazu in der Lage seien, die Diskriminierungserfahrung der Kolonisierten zu erfassen.53 In einer populäreren Form hat sich diese Diskussion in den vergangenen Jahren im Kunst- und Kulturbetrieb immer wieder an der Frage entzündet, ob Weiße die Diskriminierungserfahrungen Schwarzer erfassen können und darstellen dürfen. Wer dies negiert, beruft sich in der einen oder anderen Form auf die standpunkt­epistemologische Vorstellung, nur die tatsächliche Erfahrung einer marginalisierten oder subalternen Subjektposition qualifiziere dazu, Wissen über sie zu generieren.

Diversitäts- und identitätspolitische Positionen dieser Art haben in der letzten Zeit verstärkt Anlass zu aufgeregten feuilletonistischen Debatten geliefert. Sie sind allerdings weder in den Gender Studies noch in den Postcolonial Studies hegemonial, sondern werden auch und gerade von feministischer und postkolonialer Seite aus guten Gründen kritisiert. So argumentiert etwa die Soziologin Gurminder K. Bhambra, die Privilegierung der subalternen Perspektive kehre den falschen Objektivitäts­anspruch der europäischen Moderne nur um, anstatt ihn zu überwinden. Denn die Behauptung, dass die Perspektive der Subalternen von den Unterdrückern nicht erfasst und dargestellt werden könne, setze ihrerseits eine universalistische Position voraus, dass nämlich die Struktur der Unterdrückung objektiv erkannt werden könne und die Ursache dafür sei, dass Personen nur über ein bestimmtes Wissen verfügen könnten.54 Im Gegensatz zur Standpunktepistemologie schlägt Bhambra daher die Entwicklung von »connected histories« vor, die verschiedene Standpunkte miteinander kombinieren, anstatt einen – wenn auch jetzt vielleicht diversen – Standpunkt zu privilegieren.55

Aus ähnlichen Gründen ist die Vorstellung einer feministischen Standpunkt­epistemologie, die der weiblichen Subjektposition privilegierten Zugang zur Wahrheit zugesteht, ebenfalls nicht überzeugend, wie etwa Donna Haraway argumentiert hat: »Es gibt keine Möglichkeit, an allen Positionen zugleich oder zur Gänze an einer einzigen, privilegierten (unterdrückten) Position zu ›sein‹ […]. Die Suche nach einer solchen ›vollständigen‹ und absoluten Position ist die Suche nach dem fetischisierten, vollkommenen Subjekt einer oppositionellen Geschichte, das in der feministischen Theorie mitunter als die essentialisierte Dritte-Welt-Frau erscheint.«56 Wenn man sich nicht aus der wissenschaftlichen Debatte verabschieden und in eine identitätspolitisch definierte Gemeinschaft abtauchen, sondern gesellschaftlich etwas erreichen wolle, argumentiert Haraway, müsse man vielmehr an der Vorstellung einer geteilten Welt und des darüber zu erlangenden Wissens festhalten.57 Dieses sei aber nicht als universales, sondern nur als partikulares, lokalisiertes und situiertes Wissen formulierbar, sodass es entscheidend sei, »zwischen sehr verschiedenen – und nach Macht differenzierten – Gemeinschaften Wissen zumindest teilweise zu übersetzen«.58 An diese Debatten aus den Postcolonial Studies und Gender Studies anschließend, kann also auch die Anerkennung von Neurodiversität nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass allein Neurodiverse die Geschichte der Neurodiversen schreiben können, weil diese Geschichte neurotypischen Menschen nicht zugänglich sei. Denn »Identität […] produziert keine Wissenschaft«.59 Diese bedarf vielmehr der kritischen Reflexion eigener und fremder Positionierungen in kommunikativen Prozessen.

Wie kann dann aber ein Einbezug des Neurodiversen in die Geschichtswissenschaft aussehen? Genauso wie in der allgemeineren Diversitätsdiskussion lässt sich diese Frage sowohl auf die Inhalte beziehen als auch auf die Personen, die Geschichte schreiben und lehren. Inhaltlich wird Neurodiversität bisher vor allem in der Psychiatriegeschichte und der Disability History behandelt, wenn auch meist nicht unter diesem Begriff. Es handelt sich also um einen Gegenstand von Subdisziplinen, nicht um eine integrative Perspektive historischer Großerzählungen. Auch in diesen oder anderen Teilbereichsgeschichten könnte es aber produktiv sein, die Wahrnehmungsweisen und Weltaneignungen neurodiverser Menschen zu integrieren bzw. nicht einfach davon auszugehen, dass man es gemeinhin mit neurotypischen Akteuren zu tun hat. Überspitzt gesagt, sollte die Geschichte des Wahnsinns nicht nur in den Asylen, Kliniken und Praxen untersucht werden, sondern auch in den Parlamenten, Unternehmen, Familien, Verbänden, Städten und Dörfern sowie vielleicht auch in den Wissenschaften.

Unterkomplexe Rationalitätskonzepte und simplifizierende Annahmen über das interessengeleitete Handeln historischer Akteure werden ansatzweise bereits in der Mentalitätsgeschichte, der Erforschung des Eigen-Sinns und der jüngst boomenden Emotionsgeschichte in Frage gestellt. Eine genauere Auseinandersetzung mit der Neurodiversitätsliteratur könnte hier instruktiv sein, weil sie unsere Annahmen darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und unsere Subjektivitäts- und Rationalitätsvorstellungen noch einmal grundsätzlicher in Frage stellt, als das etwa in den Gender Studies und Postcolonial Studies der Fall ist. Als Perspektive könnte Neurodiversität so dazu beitragen, das historiographische Gespräch für vielfältigere, radikal andere Varianten menschlicher Lebens- und Deutungsweisen zu öffnen. Von deren Kenntnis würde auch die Beschreibung der Normalität oder des Neurotypischen profitieren, das letztlich erst durch das Diverse konstituiert wird. Dabei tendiert der Neurodiversitätsbegriff allerdings dazu, die Vorstellung einer Normalität am Ende ganz aufzulösen.

Konkret ist seit den 1980er-Jahren eine Vielzahl neurodiverser Selbstzeugnisse entstanden, in denen vor allem Autist*innen von ihrer Erfahrung berichten, gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein, weil sie bestimmten Leistungs- und Verhaltensstandards nicht entsprechen.60 Sie führen den Ausschluss sowohl auf ihre Schwierigkeiten zurück, die »ungeschriebenen Gesetze der sozialen Kommunikation« zu verstehen, als auch auf eine von ihnen selbst als Defizit wahrgenommene Unfähigkeit, diesem Verständnis entsprechend zu handeln.61 Sie schärfen damit den Blick für die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit Kommunikation gelingt, und eröffnen Perspektiven in Lebenswelten derer, die gesellschaftlich und historisch zwar nicht aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Klasse ausgeschlossen werden, aber doch aufgrund von Kriterien, die sie selbst nicht beeinflussen können. War die Geschichte des Wahnsinns seit den 1970er-Jahren ein produktives Forschungsfeld, wissen wir bislang weniger über diejenigen, die vielleicht nicht als wahnsinnig, aber doch als seltsam, dumm oder oder lernbehindert stigmatisiert wurden.

Die Neurodiversitätsdiskussion kann zudem den Blick auf die Geschichte mentaler Leistungsmessung insgesamt schärfen.62 Die Vorstellung, die sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ausgebildet hatte, dass Intelligenz eine »differenziale, quantifizierbare, unilineare« Einheit sei, welche die mentalen Fähigkeiten einer Person insgesamt erfasse, wurde schon seit den 1960er-Jahren in Frage gestellt.63 Die Erfahrungen neurodiverser Menschen untermauern diese Kritik, weil sie bei Intelligenz- wie auch bei anderen Psychotests extrem ungleichmäßig abschneiden. Ihre Selbstzeugnisse belegen die Arbitrarität der Tests, über die im Verlauf des 20. Jahrhunderts und bis in unsere Gegenwart zunehmend Lebenschancen verteilt werden, genauso wie die Kontingenz der Fähigkeit und Bereitschaft, sich ihnen zu unterwerfen.

Inhaltlich könnte ein stärkerer Einbezug von Neurodiversitätsperspektiven jenseits der Psychiatriegeschichte im engeren Sinn also produktive Fragehorizonte eröffnen. Aber kann und muss auch die Zusammensetzung der Geschichtswissenschaft selbst neurodiverser werden? Über die Aufnahme in das Fach entscheiden Tests in Form von Klausuren, schriftlichen Hausarbeiten, mündlichen Prüfungen, Master- und Doktorarbeiten, in denen geistige Fähigkeiten genauso abgeprüft werden wie Fähigkeiten zur Selbstorganisation und Selbstdarstellung vor Anderen. Mit der Bologna-Reform hat die Zahl und Vielfalt der Prüfungen, in denen angehende Historiker*innen ihre Leistungen unter Beweis stellen müssen, zugenommen. Schließen solche Verfahren neurodiverse Menschen systematisch aus? Blickt man auf die populäre Darstellung angeblich autistischer Wissenschaftler*innen in Büchern, Filmen und Fernsehserien, könnte man annehmen, das Gegenteil sei der Fall. Die Universität erscheint hier oft als Ort, der es gerade Menschen mit psychischen Störungen ermöglicht, beruflich erfolgreich zu sein, wenn sie zugleich über Spezialbegabungen verfügen. Solche Fälle gibt es tatsächlich, aber die überwiegende Mehrzahl derjenigen, für die die Neurodiversitätsbewegung zu sprechen beansprucht, scheitert an den Prüfungs- und Auswahlverfahren, die über akademischen und beruflichen Erfolg und Aufstieg entscheiden. Wenn überhaupt, dürften sich neurodiverse Menschen auch eher in den mathematischen, technischen und Computerwissenschaften finden lassen.64 Aufgrund der bisweilen besonderen mathematischen Fähigkeiten einzelner Autist*innen, ihren Begabungen zur pattern recognition, zum Programmieren oder schlicht zum Fokussieren kleiner Details wird in diesen Fächern und in entsprechenden Unternehmen auch bereits die Frage diskutiert, wie man die Zugangshürden für neurodiverse Menschen verringern und deren Potential besser nutzen kann.65

Bei den selbstverständlich für alle Fächer geltenden Maßnahmen zur Unterstützung anerkannt Schwerbehinderter im Studium und bei Auswahlverfahren an Universitäten und Forschungseinrichtungen hat man in den Geisteswissenschaften aber bisher vor allem körperlich und nicht geistig behinderte Menschen im Blick. Für die USA hat Mark Grimsley jüngst den Eindruck geschildert, dass geistige Behinderungen und psychische Krankheiten, die immerhin zwanzig Prozent der Bevölkerung betreffen, an den Universitäten, die sich eigentlich ihrer diversitätspolitischen Strategien loben, weiterhin stigmatisiert und verschwiegen werden: »We frame academic life in terms that presuppose a neurotypical brain and, consciously or unconsciously, regard people with mental disabilities as incapable of the work our profession demands. Does someone with Social Anxiety Disorder have any business in the classroom? Does an individual whose clinical depressions exact significant cost in productivity deserve extra time on the tenure clock? What about someone with Asperger’s syndrome who has an imperfect grasp of social cues or trouble speaking up with the enthusiasm and quickness we commonly consider a measure of intellect?«66 In der Geschichtswissenschaft wird die Inklusion neurodiverser Menschen, soweit ich sehe, bisher nur in der Didaktik zum Thema. Mit Bezug auf die Chancen und Grenzen eines inklusiven Geschichtsunterrichts wird hier allerdings vor allem diskutiert, welche Möglichkeiten es gibt, Menschen mit geistigen Behinderungen Geschichte nahezubringen.67 Deren Fähigkeiten werden in diesem Zusammenhang aber nicht als Ausdruck einer anderen, gleichermaßen legitimen, diversen Identität begriffen, sondern vielmehr als Defizite der sprachlichen und temporalen Differenzierung im Vergleich zur eigentlich anzustrebenden komplexen historischen Erkenntnis.

Was ist aber mit den Menschen, die aufgrund von psychischen Faktoren, die sie nicht selbst zu verantworten haben und die ihre neurodiverse Identität ausmachen, an den bisherigen Prüfungsformaten und Aufnahmekriterien scheitern? Man könnte es sich einfach machen und argumentieren, dass hier die Grundlagen der Geschichtswissenschaft abgeprüft werden: Wer sie nicht beherrscht, kann eben nicht an ihr mitwirken. Aber sind wir uns der Angemessenheit und Notwendigkeit unserer wissenschaftlichen Prüfungen so gewiss, dass wir mit Bestimmtheit sagen können, dass eine Person, die sie nicht erfüllt, nicht Historiker*in werden darf, weil sie die Geschichtswissenschaft schlechter und nicht besser machen würde? Immerhin hat der Verweis auf die angebliche Objektivität bestimmter Leistungsstandards auch lange zur systematischen Benachteiligung von Frauen in Auswahlverfahren geführt und wird daher hier genauso wie in Bezug auf Black & Minority Ethnic Groups kritisch diskutiert. Ist Diversität und die Inklusion von Neurodiversen ein so hoher Wert, dass wir die universale Gültigkeit von Prüfungs- und Auswahlverfahren überdenken müssen, weil sie in ihnen schlecht abschneiden?

Die Frage wirkt deshalb absurd, weil wir uns als geistig tätige Menschen betrachten und glauben, dass Geschlecht, Ethnie und sexuelle Orientierung keinen Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit haben, Formen der Neurodiversität aber per definitionem schon. Die Vorstellung neurodiverser Historiker*innen, die aufgrund ihrer mentalen Andersartigkeit vielleicht keine Dissertationen schreiben und nur wenig Aufsätze publizieren können, nicht vor fremden Menschen sprechen und nicht an Konferenzen teilnehmen können, berührt die Grundlagen der akademischen Geschichtswissenschaft. Aber ist es wirklich so, dass nur diejenigen, die dies alles können, diejenigen sind, welche die innovativsten historischen Perspektiven entwickeln? Oder setzen unsere Aufnahmekriterien wesentliche Elemente neurotypischen Verhaltens stillschweigend voraus und schließen damit Neurodiverse aus, die es nicht schaffen, ihre Überlegungen in Buchform zu bringen, aber dennoch viel über Geschichte zu sagen hätten? Schließlich haben verschiedene wissenschaftliche Stellen auch sehr verschiedene Anforderungsprofile, auf die im Fach aber mit der immer gleichen Ausbildung vorbereitet wird. Wir diskutieren seit Jahren zu Recht, dass in der Geschichtswissenschaft mehr Professuren mit Frauen besetzt werden müssen. Seit kurzem wird ebenfalls zu Recht gefordert, das Fach weiter für Menschen mit Migrationshintergrund zu öffnen. Bisweilen wird auch die Frage aufgeworfen, wie es eigentlich um die soziale Diversität der Historischen Institute steht, über die wir gar keine Daten haben. Von denjenigen, die das Fach diverser machen sollen, erwarten wir aber selbstverständlich, dass sie die Bildungseinrichtungen und Prüfungen mit Bravour durchlaufen haben. Würde die Geschichtswissenschaft nicht genauso und vielleicht sogar stärker profitieren, wenn wir versuchten, auch Neurodiverse und deren Marginalisierungserfahrungen zu integrieren?

Die Integration neurodiverser Perspektiven hat aber Grenzen, die durch die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Kommunikation über eine gemeinsame Welt und ihre Geschichte gezogen werden. Die Annahme inkommensurabler Gehirne, die mit der grundsätzlichen Unübersetzbarkeit zwischen neurotypischen und neurodiversen Erfahrungen und Welten einhergeht, ist dementsprechend keine Basis für eine inklusivere und vielfältigere Geschichtswissenschaft, sondern das Ende des wissenschaftlichen Gesprächs. Die Anerkennung von Neurodiversität kann auch nicht als Legitimation dafür dienen, wissenschaftliche Rationalität aufzugeben, sondern muss vielmehr dazu führen, sie mit dieser interpretatorisch einzuholen. Wer den Satz vom ausgeschlossenen Dritten grundsätzlich ablehnt oder Schwierigkeiten mit der Erzeugung sinnhafter Sätze hat, dessen Stimme wird kaum in den akademischen Geschichtsdiskurs zu integrieren sein. Können wir uns Menschen, die den Eindruck haben, Stimmen zu hören, deren Anweisungen sie erfüllen müssen, als Lehrende an Universitäten und Instituten vorstellen? Wohl kaum. Wir brauchen Kriterien, die es uns erlauben, Verschwörungsideologien wie zum Beispiel jene der Q-Anon-Bewegung als unterkomplexe und falsche Meinungen zu benennen, und können sie nicht als gleichermaßen legitime, vielleicht nur neurodiverse Weltsichten stehen lassen. Meine Hypothese wäre aber, dass uns dies weniger mit dem Ausschluss des Neurodiversen aus der Geschichte gelingt als vielmehr durch die intensivere Beschäftigung damit.


Anmerkungen:

1 Steven Vertovec, »Diversity« in the Social Imaginary, in: European Journal of Sociology 53 (2012), S. 287-312, hier S. 301. Für kritische Hinweise und Anmerkungen danke ich Constantin Goschler und Ulrike Schaper.

2 Georg Toepfer, Diversität. Historische Perspektiven auf einen Schlüsselbegriff der Gegenwart, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 17 (2020), S. 130-144; Steven Vertovec (Hg.), Routledge International Handbook of Diversity Studies, Abingdon 2015; Monika Salzbrunn, Vielfalt, Diversität, Bielefeld 2014.

4 Vertovec, »Diversity« in the Social Imaginary (Anm. 1); Regine Bendl/Edeltraud Hanappi-Egger/Roswitha Hofmann (Hg.), Diversität und Diversitätsmanagement, Wien 2012.

5 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 376-382.

6 David Heyd, Cultural Diversity and Biodiversity: A Tempting Analogy, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy 13 (2010), S. 159-179; Toepfer, Diversität (Anm. 2). Bezogen auf Wissenschaft und Bildung: Sandra G. Harding, Objectivity and Diversity, in: James A. Banks (Hg.), Encyclopedia of Diversity in Education, Los Angeles 2012, S. 1625-1630.

7 Vertovec, »Diversity« in the Social Imaginary (Anm. 1), S. 297-299.

8 Walter Benn Michaels, The Trouble with Diversity. How We Learned to Love Identity and Ignore Inequal­ity, New York 2006; Mark Lilla, The End of Identity Liberalism, in: New York Times, 18.11.2016; ders., The Once and Future Liberal. After Identity Politics, New York 2017.

10 Patrick Manning, Diversity: Among Historical Practitioners, in Research, and in Teaching, in: Perspectives on History. The Newsmagazine of the American Historical Association, 12.5.2016.

11 Alex Lichtenstein, Decolonizing the AHR, in: American Historical Review 123 (2018) H. 1, S. xiv-xvii, hier S. xv.

12 Hannah Atkinson u.a., Race, Ethnicity & Equality in UK History. A Report and Resource for Change, London 2018; Seth Denbo, A More Inclusive Discipline: The Royal Historical Society Investigates Race in UK University History Departments, in: Perspectives on History, 13.3.2020: »Even as associations advocate for change, they must acknowledge their historic place in maintaining hierarchies, even when that involves pernicious and rightly vilified discrimination based on race, ethnicity, gender, and other identities.« Zum Rassismus in der deutschen Geschichtswissenschaft neuerdings etwa Christina Morina/Norbert Frei, Rassismus und Geschichtswissenschaft, in: L.I.S.A., 24.9.2020.

13 Siehe als explizite, den Zustand problematisierende Ausnahme Mark Grimsley, The »Third Resource«: Managing Mental Illness in Academe, in: Perspectives on History, 1.11.2017.

14 Carol Thomas, Disability and Diversity, in: Vertovec, Routledge International Handbook of Diversity Studies (Anm. 2), S. 43-51.

15 Steve Silberman, NeuroTribes. The Legacy of Autism and the Future of Neurodiversity, New York 2015, S. 16.

16 Judy Singer, ›Why can’t you be normal for once in your life?‹. From a ›problem with no name‹ to the emergence of a new category of difference, in: Mairian Corker/Sally French (Hg.), Disability Discourse, Buckingham 1999, S. 59-67, hier S. 62.

17 Ebd., S. 64.

18 Elsbeth Bösl, Bundesdeutsche Behindertenpolitik im »Jahrzehnt der Rehabilitation«. Umbrüche und Kontinuitäten um 1970, in: Gabriele Lingelbach/Anne Waldschmidt (Hg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 2016, S. 82-115.

19 Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt a.M. 2017.

20 James I. Charlton, Nothing About Us Without Us. Disability Oppression and Empowerment, Berkeley 1998, S. 5.

21 Bösl, Bundesdeutsche Behindertenpolitik im »Jahrzehnt der Rehabilitation« (Anm. 18), S. 103.

22 Franz-Werner Kersting, Abschied von der »totalen Institution«? Die westdeutsche Anstaltspsychiatrie zwischen Nationalsozialismus und den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 267-292; Thomas S. Szasz, American Association for the Abolition of Involuntary Mental Hospitalization, in: American Journal of Psychiatry 127 (1970/71), S. 1698; Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Aus dem Amerikanischen von Nils Lindquist, Frankfurt a.M. 1973.

23 Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland, 1860–1980, Göttingen 2010, S. 461-477; Wilfried Rudloff, Das Ende der Anstalt? Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung in der Geschichte der deutschen Behindertenpolitik, in: Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 169-190; John Foot, The Man Who Closed the Asylums. Franco Basaglia and the Revolution in Mental Health Care, London 2015.

24 Maik Tändler, »Psychoboom«. Therapeutisierungsprozesse in Westdeutschland in den späten 1960er und 1970er Jahren, in: Sabine Maasen u.a. (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld 2011, S. 59-95.

25 Hans-Jürgen Heinrichs, Tintenfisch 13. Thema: Alltag des Wahnsinns, Berlin 1978, Umschlaginnenseite; Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1973, 4. Aufl. 1981; ders., Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt a.M. 2003.

26 Stoll, Behinderte Anerkennung? (Anm. 19), S. 16.

27 Lorna Wing, The Autistic Spectrum. A Guide for Parents and Professionals, London 1996; Rüdiger Graf, Vom »autistischen Psychopathen« zum Autismusspektrum. Verhaltensdiagnostik und Persönlichkeitsbehauptung in der Geschichte des Autismus, in: Gesnerus 77 (2020), S. 279-311.

29 Sinclair, Autism Network International (Anm. 28). Zum Online-Aktivismus der Behindertenrechtsbewegung allgemein siehe Filippo Trevisan, Disability Rights Advocacy online. Voice, Empowerment and Global Connectivity, New York 2017.

30 Singer, ›Why can’t you be normal for once in your life?‹ (Anm. 16); Nancy Bagatell, From Cure to Community: Transforming Notions of Autism, in: Ethos 38 (2010), S. 33-55; Jessica M.F. Hughes, Disability Rights Advocacy online. Voice, Empowerment, and Global Connectivity by Filippo Trevisan, in: Information, Communication & Society 20 (2017), S. 1773-1776.

31 Bagatell, From Cure to Community (Anm. 30).

32 Ebd., S. 41.

33 Jim Sinclair, Don’t Mourn for Us, in: Our Voice 1 (1993) H. 3, URL: <https://www.autreat.com/dont_mourn.html> (dortige Hervorhebung).

34 Ders., Why I Dislike »Person First« Language [1999], in: Autonomy. The Critical Journal of Interdisciplinary Autism Studies 1 (2013) H. 2.

35 Zum Institute for the Study of the Neurologically Typical: Francisco Ortega, The Cerebral Subject and the Challenge of Neurodiversity, in: BioSocieties 4 (2009), S. 425-445, hier S. 437. Mit Jürgen Link gesprochen vollzogen die Akteur*innen die Wende vom Protonormalismus zum flexiblen Normalismus. Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997, S. 54.

36 Ortega, The Cerebral Subject and the Challenge of Neurodiversity (Anm. 35); Temple Grandin/Richard Panek, The Autistic Brain. Thinking across the Spectrum, Boston 2013.

37 Jane Meyerding, Thoughts on Finding Myself Differently Brained, 26.6.2002, URL: <https://www.autreat.com/jane.html>.

38 Michael Orsini, Autism, Neurodiversity and the Welfare State: The Challenges of Accomodating Neurological Difference, in: Canadian Journal of Political Science 45 (2012), S. 805-827.

39 Simon Baron-Cohen, Editorial Perspective: Neurodiversity – a Revolutionary Concept for Autism and Psychiatry, in: Journal of Child Psychology and Psychiatry 58 (2017), S. 744-747, hier S. 746. In der allgemeineren medizinphilosophischen Diskussion findet sich eine ähnliche Position bei Georges Canguilhem: »Ich würde jetzt mit noch mehr Nachdruck die These verfechten, daß es an sich und a priori keine ontologische Differenz zwischen gelungenen und verfehlten Gebilden des Lebens gibt.« Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische. Aus dem Französischen von Monika Noll und Rolf Schubert, München 1976, S. 11-13.

40 Francesca Happé/Uta Frith, Annual Research Review: Looking Back to Look Forward – Changes in the Concept of Autism and Implications for Future Research, in: Journal of Child Psychology and Psychiatry 61 (2020), S. 218-232, hier S. 220; Bonnie Evans, The Metamorphosis of Autism. A History of Child Development in Britain, Manchester 2017, S. 1.

41 Amy Harmon, How About Not ›Curing‹ Us, Some Autistics Are Pleading, in: New York Times, 20.12.2004; Bagatell, From Cure to Community (Anm. 30), S. 44.

42 Ian Hacking, Humans, Aliens & Autism, in: Daedalus 138 (2009) H. 3, S. 44-59, hier S. 46-48; Andrew Solomon, Far from the Tree. Parents, Children and the Search for Identity, New York 2013, S. 219-292.

43 Patrick Kirkham, ›The Line Between Intervention and Abuse‹ – Autism and Applied Behaviour Analysis, in: History of the Human Sciences 30 (2017) H. 2, S. 107-126, hier S. 116.

44 Michelle Dawson, The Misbehaviour of Behaviourists. Ethical Challenges to the Autism-ABA Industry, 29.1.2004, URL: <https://www.sentex.ca/~nexus23/naa_aba.html>: »Where ABA needs scrutiny is when its power is used to remove odd behaviours which may be useful and necessary to the autistic (such as rocking, flapping, and analytical, rather than social or ›imaginative‹ play); and when typical, expected behaviours which may be stressful, painful, or useless to the autistic (such as pointing, joint attention, appropriate gaze, and eye contact) are imposed.«

45 Chandra Kavanagh, Accomodation or Cure: A Synthesis of Neurodiverse and Cure Theory Recommendations for Autism Action, in: AAPP Bulletin 22 (2015) H. 1, S. 4-8; Pier Jaarsma/Stellan Welin, Autism as a Natural Human Variation: Reflections on the Claims of the Neurodiversity Movement, in: Health Care Analysis 20 (2011), S. 20-30; Chong-Ming Lim, Accomodating Autistics and Treating Autism: Can We Have Both?, in: Bioethics 29 (2015), S. 564-572.

46 Dawson, The Misbehaviour of Behaviourists (Anm. 44).

47 Ebd.

48 Melanie Yergeau, Authoring Autism. On Rhetoric and Neurological Queerness, Durham 2017, S. 99; Margaret F. Gibson/Patty Douglas, Disturbing Behaviours: Ole Ivar Lovaas and the Queer History of Autism Science, in: Catalyst 4 (2018) H. 2, S. 1-28.

49 Catherine J. Kudlick, Disability History: Why We Need Another »Other«, in: American Historical Review 108 (2003), S. 763-793, hier S. 764.

50 Kapp, Autistic Community and the Neurodiversity Movement (Anm. 28), S. V.

51 Richard Rorty, Solidarity or Objectivity?, in: ders., Objectivity, Relativism, and Truth, Cambridge 1991, S. 21-34.

52 Nancy C.M. Hartsock, The Feminist Standpoint: Developing Ground for a Specifically Feminist Historical Materialism, in: Sandra Harding/Merrill B. Hintikka (Hg.), Discovering Reality. Feminist Perspectives on Epistemology, Metaphysics, Methodology, and Philosophy of Science, Dordrecht 2003, S. 283-310; Linda Alcoff/Elizabeth Potter (Hg.), Feminist Epistemologies, New York 1993.

53 Gyan Prakash, Subaltern Studies as Postcolonial Criticism, in: American Historical Review 99 (1994), S. 1475-1490; Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana 1988, S. 271-313.

54 Gurminder K. Bhambra, Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination, New York 2007, S. 29.

55 Ebd., S. 31.

56 Donna J. Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissensfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: dies./Carmen Hammer (Hg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M. 1995, S. 73-97, hier S. 86.

57 Siehe dazu aus anderem Diskussionszusammenhang auch Rüdiger Graf, Interpretation, Truth, and Past Reality: Donald Davidson Meets History, in: Rethinking History 7 (2003), S. 387-402.

58 Haraway, Situiertes Wissen (Anm. 56), S. 79.

59 Ebd., S. 87.

60 Zuerst 1986: Temple Grandin, Emergence. Labelled Autistic. A True Story, Boston 2005; Donna Williams, Nobody Nowhere. The Remarkable Autobiography of an Autistic Girl, New York 1992.

61 Temple Grandin/Sean Barron, Unwritten Rules of Social Relationships, hg. von Veronica Zysk, Arlington 2005; John Elder Robison, Look Me in the Eye. My Life with Asperger’s, London 2009; Axel Brauns, Buntschatten und Fledermäuse. Mein Leben in einer anderen Welt, 20. Aufl. München 2004; Arthur Fleischmann/Carly Fleischmann, »In mir ist es laut und bunt«. Eine Autistin findet ihre Stimme – ein Vater entdeckt seine Tochter. Aus dem Amerikanischen von Alexandra Baisch, München 2013.

62 Nina Verheyen, Die Erfindung der Leistung, München 2018.

63 John Carson, The Measure of Merit. Talents, Intelligence, and Inequality in the French and American Republics, 1750–1940, Princeton 2007, S. 159.

64 Silberman, NeuroTribes (Anm. 15).

65 Allison Levitsky, Brain Power: The Business Case for Hiring Neurodiverse Employees, in: Silicon Valley Business Journal, 23.1.2020.

66 Grimsley, The »Third Resource« (Anm. 13).

67 Bettina Alavi/Martin Lücke (Hg.), Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts. 2016; Christoph Kühberger/Robert Schneider (Hg.), Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts, Bad Heilbrunn 2016; Sebastian Barsch u.a. (Hg.), Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Frankfurt a.M. 2020.

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