Armut in China

Anspruch und Wirklichkeit der chinesischen Agrarpolitik seit den 1950er-Jahren

  1. Die Problematik der Armutskriterien
  2. Eine kurze Bilanz der chinesischen landwirtschaftlichen Entwicklungsstrategie 1949–1978
  3. Hohe Armutsquoten und eine zweite »Befreiung« der Bauern 1978–1985
  4. Stagnation, Steuer- und Abgabenlast und prekäre Existenz 1986–2004
  5. Eine grundlegende Wende in der Agrarpolitik seit 2005?
  6. Résumé

Anmerkungen

Im Jahr 2015 verkündeten die Vereinten Nationen, das erste ihrer »Millenniumsziele« – die Halbierung des Anteils der Armen und Hungernden an der Bevölkerung der Entwicklungsländer – sei erreicht, und den größten Beitrag dazu habe China geleistet, indem dort »zwischen 1990 und 2011 mehr als 439 Millionen Menschen aus der extremen Armut gehoben« worden seien.1 Gerade rechtzeitig zur Feier des 100. Jahrestages der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verkündete der chinesische Präsident Xi Jinping 2021 dann einen neuen Triumph: Es sei »das Wunder vollbracht [worden], dass die extreme Armut beseitigt wurde«.2 Diese Erfolgsmeldungen werden in einer aktuellen Publikation der Weltbank sogar noch übertroffen: »Mehr als 850 Millionen Menschen sind [seit 1978] aus der Armut gehoben worden.«3

Solche Nachrichten werden in China propagandistisch genutzt, um dem Regime Legitimation und internationales Renommee zu verschaffen. Im offiziellen chinesischen Diskurs ist es die Partei mit Xi Jinping an der Spitze, die dank ihrer effizienten Entwicklungsstrategie die Erfolge herbeigeführt habe. In ähnlicher Weise wurden seinerzeit die Erfolge der Agrarreform der Jahre 1978 bis 1984 der Parteiführung zugeschrieben, wenn nicht Deng Xiaoping als dem »Chefarchitekten« persönlich.

Dieses Narrativ spiegelt eine hierarchisch-patriarchale Sicht der historischen Entwicklung, die den aktiven Beitrag der Bauern und anderen Marginalisierten zur Überwindung der Armut unterschlägt. Es bestätigt das im chinesischen kommunistischen Konzept der »Massenlinie« und der »Führung durch die Kommunistische Partei« angelegte Bild eines bewusstlosen Volkes, das der Führung durch eine Avantgarde bedürfe, und erinnert an die kaiserzeitliche Vorstellung von der Beziehung zwischen Staat und Untertanen, wo sich sogenannte elterliche Beamte (fumuguan) um die Untertanen kümmern sollten wie Eltern um ihre Kinder. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Sicht von vielen westlichen Beobachtern geteilt wird. So war nicht nur in den Medien, sondern auch in der westlichen Chinaforschung das Bild von Deng Xiaoping als »Architekt« der Wirtschaftsreformen weit verbreitet.4

In diesem Aufsatz soll anhand der Analyse verfügbarer Daten und weiterer Belege erstens untersucht werden, welche Aussagekraft die verschiedenen von der Weltbank, vom chinesischen Statistikamt und anderen berechneten Armutsquoten beanspruchen können. Es ist zwar unstrittig, dass die Zahl der extrem Armen in China bis heute stark zurückgegangen ist und sich eine große städtische Mittelklasse herausgebildet hat. Doch sprechen viele Indizien für die Annahme, dass das Ausmaß der Armutsreduzierung geringer war als behauptet.

Zum zweiten sollen die Bilanz Chinas bei der Armutsbekämpfung in den historischen Kontext eingeordnet und die behaupteten Leistungen kritisch beleuchtet werden. Dabei wird sich zeigen, dass dieselbe Partei, die heute den »Sieg über die Armut« für sich als Erfolg verbucht, in den ersten 30 Jahren der Volksrepublik selbst für die Stagnation der agrarischen Entwicklung verantwortlich war. Trotz aller politischen Brüche war die Beziehung zwischen Landwirtschaft und Landbevölkerung auf der einen, den städtischen und industriellen Wirtschaftssektoren auf der anderen Seite ab den 1950er-Jahren insofern von Kontinuität geprägt, als der Agrarsektor das Kapital für den Auf- und Ausbau der Industrie akkumulieren, billige Nahrungsmittel und Rohstoffe liefern sowie als Reservoir von billigen Arbeitskräften fungieren sollte.

Die Analyse der Entwicklung der chinesischen Landwirtschaft nach 1978 soll drittens dann die These belegen, dass die bis heute erzielten Fortschritte bei der Armutsbekämpfung nicht den agrarpolitischen Initiativen der Zentrale sowie den staatlichen Hilfs- und Entwicklungsprogrammen zu verdanken sind, sondern vor allem der chinesischen Landbevölkerung und den aus den Dörfern abgewanderten sogenannten Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern. Diese Subalternen, denen meist keine oder nur eine geringe Agency zugebilligt wird, waren nicht bloß passive Opfer von Entscheidungen der Eliten, sondern traten selbst als Akteure auf. Dabei vollzog sich ihr Handeln in den drei Phasen der chinesischen Agrarentwicklung nach 1978 in unterschiedlichen Formen. Zwar mussten sich die Akteure an der dörflichen Basis immer im Rahmen der etablierten politischen Strukturen und im Wechselspiel mit den anderen Beteiligten der Agrarpolitik von der lokalen Ebene bis zur Zentrale bewegen, doch erscheint es mir sinnvoll, die weithin praktizierte Orientierung auf die Entscheidungsprozesse der Parteispitze und auf die Diskurse der intellektuellen Eliten in China durch die Perspektive von unten zu ergänzen.

In einem Aufsatz ist es nicht möglich, alle relevanten Aspekte dieses Themas zu behandeln. So kann die Frage der städtischen Armut und ihres Strukturwandels, der mit der massenhaften Migration ländlicher Arbeitskräfte in die Städte einsetzte, hier nicht diskutiert werden. Auch die regionalen Unterschiede und die soziale Ungleichheit in den Dörfern können im vorliegenden Text nicht oder nur am Rande einbezogen werden. Vielleicht kann mein Beitrag aber Impulse für weitere Forschungen geben.

1. Die Problematik der Armutskriterien

Will man den Anteil der Armen in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen oder Aussagen über die Entwicklung der Armut innerhalb eines Landes machen, muss man einen einheitlichen Standard definieren, die sogenannte Armutsgrenze (poverty line).5 Sowohl das chinesische Statistikamt wie auch die Weltbank und die UNO verwenden als alleiniges Maß für Armut ein bestimmtes in Geld berechnetes Pro-Kopf-Einkommen. Dieser Standard wird vielfach als unzureichend kritisiert, um Armut realistisch abzubilden. Als besseres Maß für die »Fähigkeit, als Mensch zu funktionieren«, gilt ein multidimensionaler Standard,6 der nicht nur die monetären Einkommen berücksichtigt, sondern daneben weitere essentielle Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben wie Zugang zu Bildung, zu medizinischer Versorgung, zu Trinkwasser, soziale Sicherheit etc.7 Doch hat sich diese realistischere Art der Bewertung in den Statistiken von Weltbank und anderen internationalen Institutionen nicht durchgesetzt. Da zudem die für den multidimensionalen Ansatz erforderlichen Daten aus China schwer zugänglich sind, muss ich mich hier auf die Diskussion der einkommensbasierten Armutsdaten beschränken.

Um eine einheitliche Armutsgrenze zu definieren, muss zunächst anhand der Kaufkraft für jedes Land ein bestimmtes Einkommensminimum festgelegt werden. Zu diesem Zweck werden Haushaltserhebungen genutzt, in denen ausgewählte Haushalte nach der Höhe und Herkunft der Einkommen sowie zum Konsum befragt werden. Die Qualität und der Umfang dieser Befragungen sind international verschieden. In China gibt es sie (nach einer Unterbrechung in der »Kulturrevolution«) wieder seit 1980, doch sind bis heute nicht alle Daten dieser Erhebungen öffentlich zugänglich.8 Aus den nationalen Währungen müssen die Daten in ein globales Währungsäquivalent umgerechnet werden. Nur mit einem so errechneten »kaufkraftparitätischen Wechselkurs« (KKP-Wechselkurs, bzw. englisch PPP: Purchasing Power Parity) können Einkommensdaten international und diachron verglichen werden.9 Ab 1990 wandte die Weltbank einen Wert von 1 US-$ pro Person und Tag als Grenze zur absoluten Armut an.10 Welche großen Konsequenzen auch nur geringe Änderungen in der Berechnung der Armutsgrenze nach sich ziehen können, illustriert die 2008 erfolgte Erhöhung auf 1,25 US-$. Sie bewirkte einen Anstieg der absoluten Zahl der Armen weltweit um 430 Millionen Menschen. Die Zahl der Armen in China verdoppelte sich quasi über Nacht.11

Bei den Berechnungen zur Armutsgrenze gibt es vielfältige Fehlerquellen. Kritische Ökonomen diagnostizierten, dass vor allem im Globalen Süden die grundlegenden Daten oft lückenhaft, die Haushaltserhebungen fragwürdig und die Kaufkraftumrechnungen falsch seien. Daher seien die Angaben der Weltbank zur Armut in China, aber auch in Indien und in Afrika wenig aussagekräftig.12 Eine Studie zu diesem Thema ergab 2014, dass die offiziellen chinesischen Zahlen irreführend seien; die Auswahlkriterien für die Datenerhebungen seien intransparent und die offiziellen Armutsgrenzen weit unter den internationalen Grenzwerten angesetzt.13 Eine zusätzliche Fehlerquelle ist in den autoritären Strukturen auf dem Land zu sehen. So erhielt beispielsweise ein chinesischer Ökonom bei seinen Feldforschungen in einer ländlichen Gemeinde die Auskunft: »Wir machen die Angaben [zum Pro-Kopf-Einkommen], die unsere vorgesetzten Behörden von uns haben wollen.«14 Leider ist an dieser Situation wenig zu ändern, da viele Daten noch immer geheim sind und es ausländischen Forscherinnen und Forschern nur selten erlaubt wird, in größerem Umfang eigenständige statistische Erhebungen und unbeaufsichtigte Feldforschungen durchzuführen. Die Daten über die Armut in China können daher lediglich als Grundlage für Trendaussagen dienen und müssen anhand weiterer Indizien auf ihre Plausibilität hin überprüft werden.

2. Eine kurze Bilanz der chinesischen landwirtschaftlichen Entwicklungsstrategie 1949–1978

Als Folge der strategischen Entscheidungen seit dem ersten Fünfjahresplan (1953–1957) war Armut nach 1949 ein fast ausschließlich ländliches Phänomen. Doch blieb die dörfliche Armut weitgehend unsichtbar, weil die Armen durch das schon in den 1950er-Jahren eingeführte Einwohnerregistrierungssystem (Näheres dazu weiter unten) konsequent aus den Städten ferngehalten wurden. In der Zeit vor 1949 dagegen waren die Bilder der Bettlerscharen, der Slums sowie des Elends der Kinderarbeiter und Rikscha-Kulis in den Städten feste Bestandteile der etablierten Klischees über China.15

Nach dem sowjetischen Vorbild legte die zentrale Wirtschaftsplanung den Schwerpunkt auf die Entwicklung von Schwerindustrie und Infrastruktur.16 Die Landwirtschaft hingegen sollte sich »auf die eigenen Kräfte stützen«. Noch in den späten 1970er-Jahren betrugen die staatlichen Investitionen in die Landwirtschaft nur 12,5 Prozent des Staatsbudgets, 52,6 Prozent flossen dagegen in die Schwerindustrie.17 Das bedeutet, dass der Staat sich kaum für die Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Land engagierte. Auf der einen Seite kontrollierten Verwaltung und Parteiorgane der verschiedenen Ebenen die landwirtschaftlichen Organisationsstrukturen, griffen direkt in die Produktionsabläufe bis hinunter zur Ebene der Dörfer und Bauernfamilien ein und legten Abgabequoten für Getreide und andere agrarische Produkte fest. Auf der anderen Seite wurden diese Interventionen nicht durch nennenswerte Investitionen kompensiert oder unterstützt. Im Gegenteil, die Landwirtschaft sollte die Entwicklung der Städte und der Industrie subventionieren.18 Infolge des staatlichen Monopols öffnete sich eine Schere zwischen den Preisen, die für landwirtschaftliche Produkte bezahlt wurden, und den Preisen, die die Bauern für Produktionsmittel und Konsumgüter zahlen mussten. Außerdem hatten die landwirtschaftlichen Produktionseinheiten eine Agrarsteuer zu zahlen, die in den 1950er-Jahren noch zu knapp einem Drittel zum Staatshaushalt beitrug.19 Während die städtische Bevölkerung durch Arbeitsplatzgarantien, niedrige Lebensmittelpreise, geringe Mieten und ein umfassendes System der sozialen Fürsorge subventioniert wurde, wurden Ressourcen aus der Landwirtschaft in die Industrie und andere Wirtschaftssektoren transferiert. Nach chinesischen Berechnungen belief sich dieser Transfer aus der Landwirtschaft allein durch die Kontrolle der Preise für Agrar- und Industrieprodukte auf 800 Milliarden Yuan in der Zeit von 1952 bis 1978.20 Wie schon zur Zeit des Kaiserreiches, als die Steuereinnahmen vorwiegend aus der Landwirtschaft stammten, wurden auch nach 1949 Staatsbudget und wirtschaftliche Entwicklung vom Agrarsektor finanziert.

Die Führung ging davon aus, dass eine Erhöhung der Produktivität, eine Steigerung der Erträge und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Land allein durch die Reform der Besitzverhältnisse und der Organisationsstrukturen sowie durch die Mobilisierung der Bauern erreicht werden könnten. In dem kurzen Zeitraum von 1952, als das Produktionsniveau der Zeit vor den Kriegs- und Bürgerkriegswirren wieder erreicht war, bis 1957 war diese Strategie erfolgreich. Durch die Bodenreform wurde eine Angleichung der Besitzverhältnisse erreicht. Landarbeiter und Bauern konnten den Boden, der ihnen zum Anbau überlassen wurde, jetzt mit größerer Motivation auf eigene Rechnung bewirtschaften. Die ab 1953 initiierte Kollektivierung stieß zwar auf Vorbehalte in der bäuerlichen Bevölkerung, und es kam zu vielfältigen Sabotage- und Protestaktionen;21 dennoch konnte sie zunächst die in sie gesetzten Hoffnungen einlösen, da die Genossenschaften relativ klein waren und der Kollektivierungsgrad niedrig blieb. So belief sich der durchschnittliche Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion auf 3,73 Prozent pro Jahr im Zeitraum 1952–1957. Außerdem konnten die bäuerlichen Haushalte auf Privatparzellen für den eigenen Bedarf und für lokale Märkte produzieren.22

1957 hatte die Getreideproduktion mit knapp 200 Mio. Tonnen einen ersten Höchststand erreicht. In den darauf folgenden Jahren jedoch sanken die Erträge dramatisch ab und erreichten auch 1965 noch nicht wieder das Niveau von 1957.23 Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Während es im offiziellen Diskurs heißt, für den Rückgang seien vorwiegend Naturkatastrophen verantwortlich gewesen, sind unabhängige chinesische Historikerinnen und Historiker und die westliche Forschung der Ansicht, die Krise sei die Folge der als »Großer Sprung nach vorn« bezeichneten Mobilisierungskampagne der Jahre 1958 und 1959, der damit verbundenen Fehlentscheidungen der Parteiführung sowie der Weigerung, den Kurs rechtzeitig zu ändern.24 Als besonders ungünstig erwies sich, dass mit den »Volkskommunen« neue kollektive Großstrukturen geschaffen wurden, die jeweils mehrere Dörfer und mehrere tausend Bauernhaushalte umfassten. Auf weitere Entwicklungen, die sich für die agrarische Produktion negativ auswirkten (wie die Abschaffung der Privatparzellen, die Einrichtung von Gemeinschaftskantinen, der Transfer von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in industrielle und Infrastrukturprojekte etc.), kann hier nicht detailliert eingegangen werden.

Arbeitseinsatz beim Deichbau, Nordchina, 1960er-Jahre.
Im Hintergrund ist links ein aufgestelltes Mao-Bild zu erkennen.
(aus: Die rote Sonne erhellt den Weg, auf dem Dadschai vorwärtsschreitet,
Peking 1969, S. 131. Solche deutschsprachigen Propaganda-Publikationen
richteten sich an eine eingeschränkte Öffentlichkeit in der DDR,
vor allem aber an ein Publikum in Westdeutschland, Österreich und der Schweiz.)

In der auf den »Großen Sprung« folgenden Hungersnot starben Millionen Menschen. Bis heute gibt es keine offiziellen chinesischen Angaben zur Zahl der Opfer; Schätzungen reichen von 15 bis 45 Millionen. Zweifelsohne war dies die katastrophalste Hungersnot des ganzen 20. Jahrhunderts, die gemessen an der Zahl der Opfer die Hungersnöte in der Sowjetunion noch übertraf.25 Angesichts dieser Situation war die Führung gezwungen, Korrekturen vorzunehmen – teilweise gegen den Willen des Parteivorsitzenden Mao Zedong. Die Verfügung über die Produktion wurde von der Ebene der Volkskommune wieder an die unteren Ebenen verlagert, die Abgabequoten wurden gesenkt sowie Privatparzellen, lokale freie Märkte und Nebenerwerb wieder zugelassen. Verschiedentlich kam es zu einer Dekollektivierung, mit der die einzelnen Haushalte zur entscheidenden Wirtschaftseinheit wurden. Doch dieses »Haushaltsverantwortungssystem« (baochan daohu) wurde bald als »unsozialistisch« untersagt.26

In der weiteren Entwicklung wirkte sich die Richtlinie negativ aus, dass alle landwirtschaftlichen Betriebe primär Getreide zu erzeugen hatten. Die von Mao ausgegebene Parole »Getreide als Hauptkettenglied« (yi liang wei gang) hatte zur Folge, dass andere ländliche Erwerbszweige, mit denen die Bauern ihre Einkommen hätten steigern können, eingeschränkt wurden und eine Diversifizierung verhindert wurde. Da die Steigerung der Getreideerträge von 1965 bis 1976 nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt hielt, hatte die Produktion von Getreide pro Kopf noch 1977 nicht das Niveau von 1957 erreicht.27 Die Hektar-Erträge bei Getreide stiegen zwar bis 1978 auf 2,54 Tonnen an, doch lagen sie damit noch immer unter den Erträgen der imperialen Ära.28 Da die staatlichen Aufkaufpreise für Getreide kaum verändert wurden, stagnierten die bäuerlichen Einkommen. Noch 1978 waren sie nicht höher als 1957, und vor allem in den stadtfernen Regionen kam es immer wieder zu Mangelsituationen.29

Kinder bei der Lektüre (ausgeliehener) Comics in einer südchinesischen Armutsregion, Provinz Jiangxi, Februar 1978. Der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes lehrte von 1977 bis 1980 an einer Universität in Shanghai; dank eigener Sprachkenntnisse hielt er sich nicht nur in den Großstädten auf, sondern konnte relativ unbehelligt und ohne »Aufpasser« auch entlegene ländliche Gegenden in den Provinzen Jiangsu, Zhejiang, Anhui, Jiangxi, Guangxi, Guangdong, Yunnan, Sichuan, Shaanxi, Shanxi, Hebei, der Inneren Mongolei sowie in den nordöstlichen Provinzen erkunden.
(Foto: Hans Kühner)

Infolge der strategischen Bevorzugung der städtischen Bevölkerung und der industriellen Arbeiterschaft wuchs die Schere zwischen städtischen und ländlichen Einkommen bis 1979 auf das Verhältnis 3:1 an, wobei hier noch nicht einmal die Sozialleistungen berücksichtigt sind (niedrige Mieten, Krankenversorgung, Bildungsangebote, Altersversorgung), die für die ländliche Bevölkerung nicht oder nur rudimentär zur Verfügung standen.30 Um eine massive Flucht aus den Dörfern zu verhindern, war 1958 das System der Einwohnerregistrierung (hukou) eingeführt worden, das sich als wirksames Mittel erwies, die verarmte ländliche Bevölkerung an ihre Wohnsitze zu ketten. Ihr war es untersagt, ohne schriftliche Genehmigung der Behörden ihren Wohnort zu verlassen.31 Angesichts dieser Situation hatte das System der kollektiven Landwirtschaft, der monopolistischen Kontrolle von Anbau und Verkauf durch den Staat, der Konzentration auf Getreide und des Verbots privater Bewirtschaftung seine Legitimation verloren; es ließ sich auch durch Zwangsmaßnahmen nur noch schwer aufrechterhalten. Doch in der Parteiführung hatte nach Maos Tod und der Entmachtung seiner radikalsten Gefolgsleute im Herbst 1976 zunächst noch immer die sogenannte fanshi-Fraktion um den damaligen Parteivorsitzenden Hua Guofeng das Sagen, deren Leitlinie lautete: »Wir werden entschieden an allen (fanshi) Beschlüssen festhalten, die der Vorsitzende Mao getroffen hat, und wir werden unbeirrbar alle (fanshi) Weisungen befolgen, die der Vorsitzende Mao erlassen hat.«32

Arbeitseinsatz im Kollektiv, bei Shanghai, Sommer 1978
(Foto: Hans Kühner)

Für diese Kräfte, aber auch für die orthodox-leninistisch orientierten Gruppen in der Parteispitze stellte jede Infragestellung der Volkskommunen einen Verrat an den Prinzipien des Sozialismus dar. Ein konsistentes Reformkonzept für die Landwirtschaft existierte nicht. Allerdings gab es den historischen Präzedenzfall der Konzessionen, die zu Beginn der 1960er-Jahre hatten gemacht werden müssen, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Gegen Ende der 1970er-Jahre war die Parteiführung daher vor die Wahl gestellt, ob sie die Landwirtschaft in eine immer tiefere Krise sinken lassen wollte oder ob sie bereit wäre, private Betriebsformen und private Verfügung über Grund und Boden in der Landwirtschaft zuzulassen.

3. Hohe Armutsquoten und eine zweite »Befreiung« der Bauern 1978–1985

Laut den seinerzeit vom chinesischen Statistikamt bekanntgegebenen Zahlen lebten 1978 rund 31 Prozent der ländlichen Bevölkerung (26 Prozent der gesamten Bevölkerung) mit einem Einkommen von weniger als 100 Yuan pro Jahr in extremer Armut.33 Diese Zahlen wurden in späteren Studien der Weltbank-Ökonomen Martin Ravallion und Shaohua Chen revidiert. Da ihnen die chinesische Armutsgrenze als zu niedrig erschien, berechneten sie auf der Grundlage neuerer Haushaltsdaten und nach Korrekturen der Daten zur Kaufkraftparität eine Armutsgrenze von 850 Yuan pro Kopf und Jahr für die ländlichen Gebiete sowie von 1.200 Yuan für die Städte.34 Damit erhöhte sich der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung auf 62 Prozent (1980). In absoluten Zahlen hätten damit ca. 600 Millionen Menschen in Armut gelebt, die weit überwiegende Mehrheit von ihnen auf dem Land.35 Laut einem Weltbank-Bericht von 2009 betrug die chinesische Armutsquote 65 Prozent (1981).36 Als dann die auf 1,25 US-$ pro Tag erhöhte internationale Armutsgrenze angewandt wurde, ergab das bezogen auf die Gesamtbevölkerung eine Armutsquote von 84 Prozent für das Jahr 1981.37 Dies entspricht 835 Millionen in absoluten Zahlen.

Solche rückwirkenden Korrekturen der Armutszahlen hatten, auf der einen Seite, sicher mit realistischeren Grundannahmen über die Höhe der Armutsgrenze und mit besseren Berechnungsmethoden zu tun. Die meisten ausländischen und auch viele chinesische Studien sind sich einig darin, dass die chinesischen Armutsgrenzen zunächst unrealistisch niedrig angesetzt wurden, um die Bilanz der ersten 30 Jahre der Volksrepublik in einem besseren Licht erscheinen zu lassen; niedrige Armutszahlen signalisierten eine erfolgreiche Politik und Verwaltung.38 Doch wirkt die Interessenlage der Kader und der Politik beim Umgang mit den Daten zur Armut auch in entgegengesetzter Richtung. Wenn nämlich retrospektiv die Armutsquote hoch angesetzt wird, steigt die Zahl der Armen, die (angeblich) aus der Armut gerettet werden konnten. Eine Verwaltung, die von sich behauptet, einer so großen Zahl von Menschen zu einem besseren Leben verholfen zu haben, kann einen höheren Grad an Legitimität für sich beanspruchen.

Ob diese nachträglich errechneten extrem hohen Armutszahlen der Realität entsprachen, ist jedoch umstritten, denn mit ihnen hätte China zu Beginn der 1980er-Jahre zu den fünf Ländern mit der weltweit höchsten Armutsquote gezählt. Diese Einschätzung steht nicht nur im Widerspruch zu den Eindrücken westlicher Beobachter, sondern auch zu verschiedenen anderen Daten. Zum Beispiel stellte ein Weltbank-Bericht von 1981 fest, dass die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln in China weit besser sei als in den meisten anderen armen Ländern. Die schon damals relativ hohe Lebenserwartung spricht ebenfalls gegen die extremen Armutsdaten.39

Während in der Parteizentrale das Kollektiveigentum und die dirigistische Planung weiter als unantastbare Prinzipien des sozialistischen Systems galten, waren Verwaltung und Parteiorganisationen auf den unteren Ebenen und in den ärmeren Provinzen nicht mehr in der Lage, das Kollektivsystem mit Zwangsmitteln gegen den Widerstand in den Dörfern aufrechtzuerhalten. Schon 1976 hatte in den Provinzen, in denen der Mangel am größten war, die Auflösung des Kollektivsystems eingesetzt. In vielen ländlichen Gebieten entwickelte sich eine Schattenökonomie – mit Schwarzmärkten, der Meldung von niedrigeren Erträgen nach oben und dem Anbau von Marktfrüchten.40 Die landwirtschaftliche Anbaufläche wurde wieder auf die Familien verteilt, ein Prozess, der in China euphemistisch als Einführung des »Haushaltsverantwortungssystems« umschrieben wurde. Diese verdeckte Dekollektivierung41 war jedoch illegal. Das folgende Beispiel aus der Provinz Anhui illustriert, dass sich die Bauern darüber im Klaren waren, dass sie damit gegen Parteidisziplin und Gesetze verstießen. Das Dorf Xiaogang gehörte zu den ersten, die das neue System praktizierten. Bis 1978 war dort die Zahl der Haushalte durch Abwanderung und Unterernährung von 34 auf 18 gesunken. Vertreter der verbliebenen Haushalte unterzeichneten Ende 1978 einen Kontrakt, in dem sie unter anderem vereinbarten, dass das Land heimlich an die einzelnen Haushalte verteilt werden sollte. Falls die Dorffunktionäre deshalb in Schwierigkeiten geraten sollten, werde das Dorf für deren Kinder sorgen.42 Die Vereinbarung ließ sich jedoch nicht geheim halten, und die beteiligten Haushalte wurden bestraft, indem ihnen Saatgut und Dünger verweigert wurden.

Privatparzellen mit Gemüse inmitten von kollektiv bewirtschafteten Reisfeldern, Anhui, Sommer 1979
(Foto: Hans Kühner)

Eine solche Dekollektivierung von unten konnte nur erfolgen, wenn die Kader der unteren Verwaltungsebene die Entwicklung zuließen. Die Politikwissenschaftlerin Minzi Su betont, dass »die Kader beträchtliche Risiken auf sich nahmen, als sie die bäuerlichen Initiativen [...] tolerierten«. Während sie anfangs lediglich Stillschweigen über diese Entwicklungen bewahrten, gingen sie später dazu über, mit den oberen Ebenen zu verhandeln.43

Wan Li, der Parteisekretär von Anhui, definierte 1978 die Haltung zur Dekollektivierung so: »Sie sollte nicht publiziert werden. Sie sollte nicht gefördert werden, und sie sollte nicht in der Zeitung erscheinen.«44 Dennoch verbreitete sich die neue Praxis unaufhaltsam. Ein erster Untersuchungsbericht aus der Provinz Anhui stellte fest, dass sich die Zahl der Dörfer, in denen das neue System etabliert war, von 1.200 Ende 1978 auf 87.000 im Mai 1980 erhöht hatte. Der Bericht bewertete die neue Praxis als in jeder Hinsicht erfolgreich. Er beschrieb, dass in der Provinz-Parteiführung um diese Frage gestritten wurde, denn noch Ende 1980 war es die Parteilinie, dass die Landwirtschaft in Kollektiven organisiert sein müsse. Die Agrarkrise sollte nur durch kleinere Reformen, die Anhebung der staatlichen Aufkaufpreise für Agrarprodukte sowie mehr Flexibilität bei Produktion und Verteilung innerhalb der Kollektive gemildert werden. Lediglich an einigen offiziell genehmigten Orten sollte das neue System experimentell praktiziert werden dürfen.45 Als aber der Trend nicht mehr aufzuhalten war und er sichtbar zu einer besseren Versorgung, zu höherer Produktion und größerer Effizienz führte, sahen sich einzelne Provinzparteiführungen (zunächst in Anhui und Sichuan) gezwungen, die Entwicklung hinzunehmen. Auch in anderen Provinzen breitete sich das »Haushaltsverantwortungssystem« rasch aus. Obwohl es noch immer keine offizielle Genehmigung gab, war 1980 in 90 Prozent der Dörfer in der Provinz Anhui, in 50 Prozent der Dörfer in Guizhou und in 60 Prozent der Dörfer in Gansu das Land an die Haushalte übergegangen. Bis 1983 hatten die Volkskommunen fast überall in China aufgehört zu existieren.46 Die Erfolge des neuen Systems waren spektakulär: Die Getreideproduktion stieg von 304 Mio. Tonnen im Jahr 1978 auf 407 Mio. Tonnen im Jahr 1984, und das Pro-Kopf-Einkommen der ländlichen Bevölkerung hatte sich bis 1985 verdoppelt.47

In dieser Bewegung traten Bäuerinnen und Bauern als Akteure und Subjekte ihres Schicksals auf. Wichtig für ihren Erfolg war, dass sich das Vorgehen von früheren Versuchen einer Reprivatisierung der Landwirtschaft von unten abhob. Sie einigten sich nun direkt mit den lokalen Kadern; sie verzichteten darauf, den Besitz an Grund und Boden zu fordern, und sorgten dafür, dass es nicht zu gewalttätigen Unruhen kam. Da es keine überörtlichen Organisationen gab und die dörflichen Akteure nicht wie die »Rebellen« in der »Kulturrevolution« die Selbstverwaltung verlangten, stellten sie keine offene Bedrohung für das Regime dar.48

Das Verdienst von Deng Xiaoping, der 1978 wieder in die Parteiführung aufgestiegen war, und seiner Unterstützer bestand nicht darin, dass sie Reformstrategien formuliert und umgesetzt hätten, sondern allein darin, dass sie hinnahmen, was sich in vielen Provinzen spontan entwickelte. Dengs bekannte Parole von der Überquerung des Flusses, bei der man nach Steinen tastet, beschreibt gerade keine langfristige Strategie, sondern eher die Art, wie ein Blinder seinen Weg findet.49 Die Reforminitiativen aus den ärmeren Provinzen konnten auch deshalb erfolgreich sein, weil die chinesische Gesellschaft insgesamt nicht, wie oft angenommen wird, einer totalen Kontrolle unterworfen war, und weil die Parteiorganisation selbst ebenfalls nicht dem Bild einer totalitären Struktur entsprach. Vielmehr setzte sie sich aus Fraktionen und Interessengruppen zusammen, die miteinander konkurrierten, einander bekämpften, aber auch Koalitionen schlossen.50 So konnte beispielsweise in der Frage, ob private Wirtschaftsformen im Agrarsektor toleriert werden sollten, die pragmatische Gruppe um Deng Xiaoping vorübergehende Bündnisse mit anderen Gruppen bilden. Diese Fragmentierung der Partei- und Staatsführung war die strukturelle Voraussetzung dafür (und ist es wohl bis heute), dass die Interessen der Basis in bestimmten historischen Konstellationen zu Änderungen bestehender Strukturen und Richtlinien führen konnten.51

Mit der Auflösung der Kollektive wurde das gesamte Ackerland den einzelnen Haushalten zur Nutzung für eine vertraglich festgelegte Dauer überlassen (zunächst für 15 Jahre, 1993 verlängert auf 30 Jahre).52 Die Haushalte mussten zwar weiter eine vereinbarte Quote an Getreide zum festgelegten Preis abliefern, aber sie konnten über den Mehrertrag frei verfügen und ihn zu Marktpreisen verkaufen. Ergänzt wurde die Reform durch eine Erhöhung der staatlichen Aufkaufpreise und eine Liberalisierung der Märkte für Agrarprodukte. Infolge dieser Maßnahmen ging die Armutsquote schnell zurück. So kommt Ravallion in einer Studie von 2009 zu dem Schluss, die Reformen seien »offensichtlich der Hauptgrund für die dramatische Reduzierung der Armut in China in den frühen 1980er-Jahren« gewesen, und das »Wachstum im Agrarsektor« habe »den größten Anteil an Chinas Erfolgen seit 1980« ausgemacht.53

Die wichtigsten Fortschritte bei der Armutsbekämpfung in China um 1980 waren also nicht einer von der KP initiierten und zentral durchgesetzten neuen Agrarpolitik zu verdanken. Ebensowenig können sie auf aktive staatliche Förderung, Subventionierung oder andere gezielte Maßnahmen zur Armutsbekämpfung zurückgeführt werden. Vielmehr waren diese Erfolge vor allem ein Resultat der veränderten Beziehung der Bäuerinnen und Bauern zu dem von ihnen bebauten Land sowie den damit verbundenen größeren Anreizen und Produktivitätssteigerungen.54

Auf dem Markt in Xishuangbanna, Provinz Yunnan, Frühjahr 1988
(Foto: Betina Schnizlein)

Es ist nicht verwunderlich, dass die Bewertung des Erfolgs bzw. Scheiterns der »maoistischen« Agrarpolitik zu den am heftigsten umstrittenen Fragen in den chinesischen Debatten zwischen »Neuen Linken« und »Liberalen« zählt. So sieht etwa der »Liberale« Qin Hui in der Befreiung der Bauern aus der Abhängigkeit, in ihrer Integration in die Marktwirtschaft und in rechtlichen Garantien für das Privateigentum die wesentlichen Voraussetzungen für Fortschritte in der Landwirtschaft und für die Modernisierung Chinas überhaupt. Dabei beruft er sich auf die Erfolge der spontanen Privatisierung in Anhui.55

Diesem Urteil widersprechen jene Ökonomen und Historiker, die der chinesischen »Neuen Linken« (xin zuopai) nahestehen. Der Ökonom Xiaolin Pei beispielsweise argumentiert, dass die Privatisierung nicht die Ursache für das Wachstum der Produktivität und der ländlichen Einkommen gewesen sein könne, weil sie erst Mitte der 1980er-Jahre umgesetzt worden sei; die Armut dagegen sei schon ab 1978 gesunken. Die Fortschritte seien vielmehr der Erhöhung der Ankaufpreise zu verdanken.56 Allerdings übersieht Pei, dass das neue System schon vor seiner offiziellen Bestätigung durch die Parteizentrale an der Basis praktiziert worden war. Allein die Anpassung der Preise für Agrarprodukte, mit der die Preisschere zwischen Landwirtschaft und Industrie ein Stück weit geschlossen wurde, hätte kaum zu diesen Produktionssteigerungen führen können. Weiter sind die Vertreter der »Neuen Linken« überzeugt, dass die Grundlagen für die schnelle Entwicklung nach 1978 schon in der Mao-Ära geschaffen worden seien. Zum einen sei die Agrarbilanz nicht so katastrophal gewesen wie allgemein behauptet, zum anderen sei der Beitrag der ländlichen Kleinbetriebe (xiangzhen qiye, wörtlich: Dorf- und Marktgemeindeunternehmen), deren Ursprung die Kommunebetriebe der Mao-Zeit waren, entscheidend für die Verbesserung der Beschäftigungs- und Einkommenssituation gewesen, und schließlich habe erst die konsequente Entwicklung der Industrie und Infrastruktur die schnellen Fortschritte der 1980er-Jahre ermöglicht.57 Der Hinweis auf die Bedeutung der ländlichen Kleinbetriebe scheint mir eine gewisse Berechtigung zu haben, denn tatsächlich leisteten sie anfänglich einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, indem sie für Millionen von unterbeschäftigten Bauernfamilien Arbeitsplätze und regelmäßige Einkommen boten.58 Im Hinblick auf die Gesamtbilanz der Agrarpolitik der ersten 30 Jahre dürften die Argumente der »Neuen Linken« allerdings durch die Zahlen widerlegt sein, selbst wenn man diese nur als Trendaussagen versteht.

4. Stagnation, Steuer- und Abgabenlast und prekäre Existenz 1986–2004

Bald zeigte sich, dass die Erfolge der Jahre 1978 bis 1985 das Ergebnis einer einmaligen Konstellation waren. Von nun an vollzog sich die Reduzierung der Armut sehr viel langsamer. Chen und Ravallion bezeichnen den Anfangseffekt als das »Pflücken der tief hängenden Früchte der Agrarreform«.59 Ohne zusätzliches finanzielles Engagement von staatlicher Seite, ohne Subventionen für das ländliche Gesundheitswesen, für die Altersversorgung der bäuerlichen Bevölkerung und für das ländliche Erziehungssystem sowie ohne staatliche Stützung der Agrarpreise war eine Verbesserung der Lage auf dem Land nicht zu erreichen. Doch die Entwicklung der Landwirtschaft und die Situation der Landbevölkerung traten Ende der 1980er-Jahre für die Partei- und Regierungsspitze in den Hintergrund. Primär ging es nun um den Übergang zur Marktwirtschaft und die Reform des Staatssektors. Für die Landwirtschaft wurde eine Politik des Laissez-faire praktiziert, die in einer Studie mit der Parole »do nothing, just get out of the way« charakterisiert wird.60 So zeigen die Daten (unabhängig davon, welche Armutsgrenze gewählt wird) von 1986 bis 1990 einen Anstieg der Armutszahlen. Von 1991 bis 1995 war wieder ein leichter Rückgang zu verzeichnen, doch danach stagnierte die Entwicklung erneut. Erst mit dem Beginn des 11. Fünfjahrplans (2006–2010) deutete sich eine Wende an, und die Armutszahlen gingen langsam zurück.61

Wie schon die Daten für das Ende der 1970er-Jahre, so differieren auch die neueren Daten je nach der Höhe der Armutsgrenze ganz erheblich. Sie liegen für 1990 zwischen 250 und 750 Millionen, für 2000 zwischen 105 und 460 Millionen Menschen.62 Durch die korrigierten Weltbank-Berechnungen wurde rückwirkend das Ausmaß der Armutsreduzierung in den Jahren 1978 bis 1985 verringert, während die quantitativ größte Reduzierung in den Zeitraum 1990 bis 2015 verschoben wurde. Dieser Effekt musste der chinesischen Parteiführung willkommen sein. Er minimierte den Beitrag, den die Reprivatisierung der Landwirtschaft zur Armutsbekämpfung geleistet hatte, und stellte stattdessen die Leistungen der folgenden Jahrzehnte in den Vordergrund.

Diese gravierenden Differenzen machen noch einmal deutlich, dass die Aussagekraft der einkommensbasierten Armutsquote für die realen Verhältnisse in China sehr beschränkt ist. Möchte man in Erfahrung bringen, wie sich die Lebensbedingungen der unteren Bevölkerungsschichten in China tatsächlich verändert haben, ist man auf zusätzliche Parameter angewiesen – beispielsweise durch die Anwendung eines multidimensionalen Armutsstandards (was, wie oben erwähnt, für den chinesischen Fall nicht praktikabel war), oder durch Daten, die die Lebensbedingungen auf andere Weise widerspiegeln. So bieten Ernährungsdaten einen Anhaltspunkt, denn diese Zahlen sollten direkt mit der Entwicklung der Armutsquote korrelieren. Tatsächlich war der Anteil der unterernährten Menschen in den Jahren 1990–1992 mit ca. 24 Prozent weit niedriger als die in den Weltbank-Studien mit den neuen Werten berechnete Armutsquote.63 Diese Inkongruenz stützt die Annahme, dass die sehr hohen Armutszahlen für 1990 nicht realistisch sind. Vermutlich war die Zahl der extrem Armen deutlich niedriger als die in den Weltbank-Studien angenommenen mindestens 60 Prozent und lag näher an den mit den alten Armutsgrenzen berechneten 22 Prozent.

Die These, dass die chinesische Landwirtschaft in den Jahren 1985 bis 2005 von Stagnation und Krise gekennzeichnet war und es kaum Fortschritte in der Armutsbekämpfung gab, wird durch eine Reihe chinesischer und westlicher Publikationen bestätigt, die zeigen, dass die Existenz der chinesischen Landbevölkerung weiterhin prekär war. So blieb die jährliche Wachstumsrate der ländlichen Wirtschaft in dieser Periode weit hinter der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts zurück,64 und die Einkommensdisparität zwischen Stadt und Land stieg auf 3,6:1.65 Die Strategie der Regierung orientierte sich in dieser Zeit weiter an der Leitlinie, dass der Agrarsektor »Nahrungsmittel für eine große Bevölkerung und Steuern und Rohstoffe für die Bedürfnisse der Industrialisierung« zu liefern habe.66 Hinzu trat das Ziel, billige Arbeitskräfte für die exportorientierte Industrie und den Aufbau einer modernen Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. So setzte zu Beginn der 1990er-Jahre der Prozess einer »mit aggressiven Mitteln betriebenen [...] umfangreichen Entwurzelung ländlicher Arbeitskräfte« ein.67

In der chinesischen Öffentlichkeit wurden nun Stimmen laut, die eine Korrektur der Agrarpolitik und eine Verbesserung der Lage der ländlichen Bevölkerung forderten. Besonders erwähnenswert ist der offene Brief des Gemeindeparteisekretärs Li Changping an den damaligen Ministerpräsidenten Zhu Rongji, der große Medienresonanz hervorrief. Dieser Brief vom August 2000, der in der für kontroverse Veröffentlichungen und Enthüllungen bekannten Zeitung »Nanfang zhoumo« erschien,68 beschrieb, dass in Lis Heimatprovinz Anhui aufgrund der immer weiter auseinanderklaffenden Preise für Agrar- und Industrieprodukte die Kosten für Saatgut, Dünger und Landmaschinen so hoch seien, dass der Ertrag kaum die Kosten decke. Dazu kamen die Ausgaben für die staatliche Agrarsteuer und alle Arten von örtlichen Gebühren, sodass 80 Prozent der bäuerlichen Haushalte bankrott seien. Während 1995 noch 85 Prozent der Dörfer eine ausgeglichene Bilanz oder Überschüsse aufwiesen, hätten fünf Jahre später 85 Prozent der Dörfer finanzielle Defizite; gleichzeitig seien die Personalkosten durch die Vermehrung der Kaderzahlen ins Unerträgliche gestiegen. Diese Entwicklung, so Li, habe zu einer Überschuldung des Agrarsektors und zu einer dramatischen Landflucht geführt. Dass dieser Brief überhaupt publiziert werden konnte, verdankte sich zum einen der couragierten Redaktion dieser Zeitung, zum anderen der damals (vorübergehend) liberalen politischen Atmosphäre. Heute hat diese Zeitung ihre Rolle als investigatives Medium verloren, und viele Redaktionsmitglieder haben sie nach Interventionen der Zensur verlassen.69 Ein ähnliches Bild wie Li Changping zeichnete der ebenfalls im Jahr 2000 erschienene Bericht »China entlang des Gelben Flusses« des Soziologen Cao Jinqing, der auf Forschungen und Interviews in der Provinz He’nan zurückging und zu einem landesweiten Bestseller wurde.70

Der im Jahr 2004 erschienene Reportageband »Untersuchungen zu den chinesischen Bauern«71 lenkte erneut die Aufmerksamkeit auf deren Situation. Hier wurde vor allem die ins Monströse gewachsene Last der Steuern und Gebühren angeprangert. Die Zentralisierung des Steuersystems von 1994 hatte dazu geführt, dass sich der Anteil der lokalen Verwaltungen an den Steuereinnahmen dramatisch verringerte.72 Die Landgemeinden waren weiterhin verpflichtet, die vielfältigen Steuern für die höheren Ebenen einzuziehen (Agrarsteuer, persönliche Einkommensteuer und manchmal willkürlich anmutende weitere Steuern wie Stempelsteuer, Steuer für Viehzucht, Steuer auf Ackerlandnutzung, Bodenmehrwertsteuer, Bankettsteuer und Schlachtsteuer). Da nach dem damaligen Entwicklungsmodell der Staat die Wirtschaft auf dem Land sich selbst überlassen sollte, mussten die ländlichen Gemeinden darüber hinaus Gebühren erheben, um die Aufgaben übernehmen zu können, die zuvor aus den ihnen zustehenden Anteilen an den Steuereinnahmen finanziert worden waren. So wurden lokale Gebühren für Investitionen in die Infrastruktur, für die Versorgung der Alten und andere Wohlfahrtsmaßnahmen, für die Finanzierung der Schulen und die Gehälter der Lehrkräfte sowie für die Bezahlung der vielen Kader erhoben. Darüber hinaus war die ländliche Bevölkerung auch zu Arbeitsdiensten verpflichtet, von denen sich die weniger Armen durch Zahlung von Geld befreien lassen konnten.73

Tibetische Bäuerinnen beim Arbeitseinsatz im Straßenbau,
Tagong, Provinz Sichuan, Herbst 2005
(Foto: Hans Kühner)

Das in den chinesischen Publikationen gezeichnete Bild wird bestätigt von den Feldforschungen eines Teams der Weltbank, die ergaben, dass »wegen der allgemeinen Abhängigkeit von Nutzergebühren sogar in einer der am stärksten von Armut betroffenen Regionen Chinas keine der grundlegendsten öffentlichen Dienstleistungen kostenlos angeboten wurde, nicht einmal der Schutz durch die Polizei«.74 So seien allein die von der ländlichen Bevölkerung erhobenen Steuern und Gebühren in den Jahren 1990 bis 2000 auf mehr als das Fünffache angestiegen.75

Im damaligen System der »taxation without representation«76 blieben der Landbevölkerung hauptsächlich zwei Strategien, um sich gegen die Verarmung zu wehren: zum einen der Protest, zum anderen die Landflucht. Als Protestform stand den Untertanen im Kaiserreich wie in der Volksrepublik zumindest in der Theorie der Weg der Petition offen, um sich direkt an die kaiserlichen Behörden bzw. an die Partei- und Staatsführung zu wenden, wenn sie sich als Opfer einer ungerechten Behandlung durch die Organe der unteren Ebenen sahen. Mit seinem offenen Brief nahm beispielsweise der oben erwähnte Li Changping dieses Recht wahr. Aber auch unzählige andere Menschen aus den Dörfern wandten sich mit Petitionen an die Zentrale, sodass es seit den 1990er-Jahren zu einer regelrechten Welle von Petitionen und Eingaben kam (shangfang, Vorsprechen bei der höheren Ebene).77 Blieben die konventionellen Proteste erfolglos, gab es Demonstrationen, Straßenblockaden und ähnliche Aktionen. Solche Proteste (in einer Studie als »rightful resistance« charakterisiert) fanden gegen Ende der 1990er-Jahre überall im ländlichen China statt.78 Mögliche Anlässe waren das Fehlverhalten von Kadern, Korruption und Unterschlagung oder exzessive Gewaltanwendung, Streit über Landnutzung – in den meisten Fällen aber waren es Proteste gegen willkürliche und exzessive Abgaben.79 Während 1993 von 8.700 derartigen Aktionen berichtet wurde, registrierte das Ministerium für öffentliche Sicherheit im Jahr 2004 rund 74.000 und im Jahr 2005 etwa 87.000 größere Protestaktionen.80

Als Antwort auf die wachsende Zahl von Protesten, aber auch in Reaktion auf die vielen Veröffentlichungen über die desolate Situation in den ländlichen Armutsregionen forderte die Zentralregierung, die bestehenden Verbote einer exzessiven Belastung der Dorfbevölkerung durchzusetzen und die Abgaben zu reduzieren. So wurden ab 2000 immer wieder Subventionen für den Getreideanbau sowie eine Steuer- und Gebührenreform angekündigt, die mit der Abschaffung der Agrarsteuer im Jahr 2005 aber nur teilweise umgesetzt wurde. Außerdem wurde Druck auf die unteren Ebenen ausgeübt, die Zahl der Verwaltungsangestellten zu reduzieren. Bis 2006 hatte sich die Situation allerdings noch immer nicht grundlegend verbessert. Zwar wurden nun durch Regierungsbeschluss viele der lokalen Gebühren für die Infrastruktur, für Soziales und Schulen abgeschafft, wodurch Einkünfte für die Gemeinden wegfielen. Doch wurden die Finanztransfers der Zentrale an die örtlichen Verwaltungen nicht entsprechend erhöht.81 Studien über die Auswirkungen der Reformen kommen zu dem Schluss, dass das Nettoeinkommen der Bäuerinnen und Bauern durch die Abschaffung der Agrarsteuer und die Reduzierung der Abgaben nicht merklich gesteigert wurde.82

Die zweite Strategie der Landbevölkerung, um ihrer Not zu entkommen, war die Flucht in die Städte, die allerdings in den ersten Jahren dieser Phase noch nicht offiziell gebilligt wurde. Die Migrantinnen und Migranten hatten wegen des weiter praktizierten hukou-Systems keinen sicheren rechtlichen Status; das Phänomen wurde damals abwertend als »blinde Migration« (mangliu) bezeichnet.83 Dennoch: Wenn im Zeitraum von 1990 bis 2005 die Einkommen auf dem Land laut Statistik langsam anstiegen, so war das wesentlich auf die Migration zurückzuführen. Indem sie ihren Familien Geld zukommen ließen, leisteten die »Wanderarbeiterinnen« und »Wanderarbeiter« einen erheblichen Beitrag zur Linderung der ländlichen Armut. Ihre Zahl wuchs von 6,57 Millionen im Jahr 1982 im Zuge der Lockerung der Getreiderationierung und des hukou-Systems, vor allem aber infolge der steigenden Nachfrage nach billigen Arbeitskräften, auf 70,73 Millionen im Jahr 1995 und 147,35 Millionen im Jahr 2005.84 Feldforschungen in einzelnen Provinzen ergaben, dass die Einkünfte der migrantischen Arbeitskräfte 1995 bis zu ein Drittel der Pro-Kopf-Einkommen auf dem Land ausmachten.85 2004 trugen außerlandwirtschaftliche Einkünfte mit mehr als drei Vierteln zum ländlichen Einkommenswachstum bei.86 Einen zusätzlichen Effekt für die Einkommensentwicklung hatte aber auch die beschleunigte Urbanisierung. Bis 2004 war der Anteil der städtischen Bevölkerung auf 41 Prozent gestiegen.87

Der Fokus der chinesischen Entwicklungsstrategie lag nun auf der Förderung von ausländischen Investitionen, auf der Entwicklung der exportorientierten Industrie sowie auf dem Ausbau der Infrastruktur. Zwar hatte es schon seit 1986 staatliche Programme zur Armutsreduzierung gegeben, die hauptsächlich für die ärmsten Regionen im Landesinnern und im Westen gedacht waren. Doch kam die Evaluierung dieser Programme durch die Weltbank 2004 zu dem nüchternen Urteil: »Die Auswirkung der Investitionen zur Armutsreduzierung auf die Zahl der Armen scheint […] nicht stark zu sein.«88

Die für die Landbevölkerung negative Bilanz sollte aber nicht als unbeabsichtigtes Versäumnis der ökonomischen Planung interpretiert werden. Vielmehr war die Vernachlässigung der ländlichen Entwicklung ein unverzichtbarer struktureller Bestandteil der damaligen Strategie. In dieser Phase der Modernisierung und Industrialisierung hing die chinesische Wirtschaft wesentlich von der Existenz einer »industriellen Reservearmee« ab, die bereit war, zu niedrigsten Löhnen zu arbeiten. Nur wenn die Lebenssituation in den Dörfern unattraktiv blieb, konnten die erforderlichen billigen Arbeitskräfte in die Städte gelockt werden. Die Reform der Bodennutzungsrechte von 1994 förderte die spontane Migration in die Städte und die Transformation von Bauern in (prekäre) Lohnarbeiter zusätzlich. Das bisherige System, das eine regelmäßige Neuverteilung des Bodens entsprechend der Bevölkerungsentwicklung vorsah, wurde abgeschafft, und die Nutzungsrechte wurden festgeschrieben. Dies hatte zur Folge, dass jüngere Familienmitglieder keinen Anspruch mehr auf Landnutzung hatten und zur Abwanderung gezwungen waren.89 Der ökonomische Druck auf die Landbevölkerung stieg weiter durch die oben erwähnte Zentralisierung der Steuereinnahmen, die viele Landgemeinden zwang, die kommunalen Unternehmen zu privatisieren. Außerdem wurde Druck auf die Banken ausgeübt, kleinen Unternehmen den Zugang zu Krediten zu erschweren. Wie im Staatssektor mussten auch auf dem Land viele der weniger profitablen Betriebe schließen, was zur Entlassung weiterer Arbeitskräfte führte.90

Auf den ersten Blick scheint es paradox zu sein, dass in China gerade die Vertreter der »liberalen« Richtung mit der Agrarpolitik eines sich als sozialistisch bezeichnenden autoritären Staates übereinstimmten. Doch steht, global gesehen, eine Allianz zwischen autoritären Regimes und neoliberalen Kräften, die eine Strategie der Deregulierung, Privatisierung und des Freihandels vertreten, nicht im Widerspruch zu neoliberalen Positionen, und die Durchsetzung eines marktliberalen Programms war häufig auf einen »starken Staat« angewiesen.91 Chinesische Liberale argumentierten, dass das Potential für innerhalb der Landwirtschaft selbst generiertes Wachstum äußerst begrenzt sei, weil durch die Agrarreformen eine kleinbäuerliche Landwirtschaft entstanden war, in der die Anbaufläche pro Kopf zu gering sei. Arbeitsplätze für die unterbeschäftigte Landbevölkerung könnten daher nur durch das Wachstum des industriellen Sektors, durch Investitionen in Immobilien und in die Infrastruktur sowie durch die Ausweitung des städtischen Dienstleistungssektors entstehen. Auf dem Land dagegen sollte ein Konzentrationsprozess einsetzen, damit rentable landwirtschaftliche Betriebe entstehen und die Bauern sich in Unternehmer verwandeln würden.92 Bei der »Linken« dagegen rief die Entwicklungsstrategie, die auf Urbanisierung und das Wachstum der Exportindustrie zielte, Kritik hervor. Ihre Vertreter waren überzeugt, dass China nicht zwangsläufig den Weg der Verwandlung von Arbeit und Boden in Waren gehen müsse, sondern, gestützt auf die Erfahrungen mit den Genossenschaften, die kleinbäuerliche Wirtschaft erhalten und entwickeln könne. Außerdem plädierten sie für die Förderung der ländlichen Industriebetriebe, sodass die überzähligen Arbeitskräfte nicht abzuwandern bräuchten, oder, wie eine damalige Parole lautete, »sich vom Boden trennen, aber nicht das Dorf verlassen (li tu bu li xiang)«.93

Es lässt sich kaum bestreiten, dass die marktliberale Entwicklungsstrategie Erfolge zeigte. Sie schuf Arbeitsplätze und Einkommen für eine große Zahl von »überzähligen« Landbewohnerinnen und Landbewohnern; gleichzeitig entstand in den Städten eine zahlenmäßig immer größere wohlhabende Mittelschicht. Die Migrantinnen und Migranten dagegen hatten keine Aussicht, jemals in diese Mittelschicht aufzusteigen. Vielmehr war der Preis, den sie für die Entwicklung zu zahlen hatten, die soziale Entwurzelung. Die Lebenssituation von Hunderten Millionen Menschen, die in den Dörfern zurückgeblieben waren, hatte sich ebenfalls nicht entscheidend verbessert.

Wanderarbeiter auf einer Baustelle, Beijing, März 2013
(Flickr, Joe Tym/Ding Zhou, Construction Workers-19.jpg, CC BY-NC-SA 2.0)

5. Eine grundlegende Wende in der Agrarpolitik seit 2005?

Angesichts der beschriebenen Stagnation in der Landwirtschaft und der wachsenden Unzufriedenheit bei der ländlichen Bevölkerung wie auch bei Kadern der unteren Verwaltungsebenen waren Reformen überfällig. Nun wurden schrittweise verschiedene Maßnahmen umgesetzt, die die landwirtschaftliche Produktion fördern und die Armut reduzieren sollten. 2004 wurden erstmals direkte Subventionen zur Getreideproduktion gezahlt,94 und laut OECD-Daten stieg die gesamte staatliche Unterstützung für die Landwirtschaft von 14,3 Milliarden (2000–2002) auf mehr als 203 Milliarden US-$ (2017).95

Zu den Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation der Landbevölkerung zählten weiter die Übernahme der Kosten für die dörflichen Primarschulen sowie vor allem der Aufbau eines Systems der sozialen Sicherung. Ab 2003 wurde schrittweise eine Krankenversicherung für die ländliche Bevölkerung eingeführt, die inzwischen alle chinesischen Dörfer umfasst. Da allerdings die Kosten nur teilweise erstattet werden, ist der Zugang der Armen zum Gesundheitssystem weiterhin stark eingeschränkt.96

2007 erfolgte ein weiterer Ausbau des Sozialsystems durch die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens (dibao) für städtische und ländliche Bedürftige. Bis zum Jahr 2011 kamen 50 Millionen Menschen in den Genuss dieser Zuschüsse, die sich im Durchschnitt auf 55 Yuan pro Monat beliefen.97 Allerdings wird berichtet, dass das System zu Missbrauch einlud. Die Verfahren zur Bewilligung der Zuschüsse seien intransparent, die Zahlungen erfolgten auf der Grundlage persönlicher Beziehungen, und oft werde das System von den örtlichen Kadern und Behörden als Instrument zur Disziplinierung missbraucht; gerade die Bedürftigen erhielten häufig keine Zuschüsse. So kommt eine Studie von 2019 zu dem Ergebnis, dass das Programm 87 Prozent der Armen ausschloss und zu 82 Prozent Nicht-Bedürftige umfasste.98 Insgesamt scheint der Beitrag des dibao-Systems zur Armutsreduzierung daher gering zu sein.

Zur dritten Säule einer sozialen Absicherung für die Landbevölkerung wurde das 2009 eingeführte »neue ländliche Rentenversicherungssystem«. Im Jahr 2011 bezogen 89 Millionen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner eine Grundrente von mindestens 55 Yuan pro Monat.99 Diese Grundrente allein reichte jedoch nicht aus, um den Armutsstatus zu überwinden, wie ein Bericht in der »South China Morning Post« von 2020 zeigt. Dort wird ein ehemaliger Dorfbürgermeister zitiert, der monatlich 112 Yuan (16 US-$) Rente bezieht. Das genüge gerade für die Kosten von Salz und Speiseöl.100

Bis heute ist die ländliche Bevölkerung in hohem Maße auf die Einkünfte ihrer in die Städte abgewanderten Familienangehörigen angewiesen, deren Zahl sich seit 2005 noch einmal auf 292 Millionen verdoppelt hat.101 Schon 2011 war der Anteil der Einkünfte aus der Landwirtschaft auf weniger als 40 Prozent der ländlichen Haushaltseinkommen gesunken und dürfte inzwischen noch niedriger liegen.102 Zwar wurde das strenge hukou-System weiter gelockert, doch ist es bis heute nicht komplett abgeschafft, da es ein opportunes Instrument für die Migrationskontrolle darstellt. So ist der Status der migrantischen Bevölkerung nach wie vor prekär. Diese Menschen können zwar einen Arbeitsplatz in der Stadt finden, haben aber selten Anspruch auf die den Stadtbewohnern zustehenden Sozialversicherungen. Ihre Kinder haben in den Städten nur schwer Zugang zu Bildung, und sie können, wie sich besonders im Frühjahr 2020 während der Corona-Krise zeigte, jederzeit von den Behörden ausgewiesen werden.103

Die genannten Reformen sind daher nicht als Indizien zu bewerten, dass die Regierung sich von der bisherigen Wirtschaftsstrategie abwenden und eine grundsätzliche Wende der Agrarpolitik in Gang setzen würde. So sind ab 2017 die Subventionen für die Getreideproduktion gesunken.104 Vor allem aber förderte die Regierung durch sukzessive Änderungen im Bodennutzungsrecht, dass landwirtschaftliche Anbauflächen kommodifiziert und für Kapitalinvestitionen zugänglich gemacht wurden.105 Wie oben erwähnt, genügten die geringen Einnahmen der Gemeinden aus den Transfers der Zentrale nach der Abschaffung der lokalen Gebühren meist nicht, um ihren Verpflichtungen gerecht zu werden. Häufig war dann der Verkauf von Grund und Boden die einzige zusätzliche Einkommensquelle, sodass die Rate der Landtransfers bis 2017 auf 37 Prozent anstieg.106 Dies wiederum führte zum Verlust von Ackerland und zu einer Verschärfung der sozialen Konflikte. Die Betroffenen hatten zwar ein Anrecht auf Entschädigungen, doch diese waren häufig unzureichend oder wurden unterschlagen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es weiter zu Widerstand und Unruhen kam. Im Gegensatz zu früheren Phasen war die Mehrzahl der Proteste nun gegen Enteignungen, undurchsichtige Immobiliendeals und zu geringe oder nicht erfolgte Entschädigungen gerichtet.107 Bis 2010 war die Zahl der vom Ministerium für öffentliche Sicherheit registrierten Protestaktionen auf 120.000 angestiegen, und das Budget für die Sicherung der inneren Ordnung überstieg mit 624 Mrd. Yuan (2011) das nationale Verteidigungsbudget.108

6. Résumé

Heute lebt in China nur noch ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung in extremer Armut. Die Fortschritte seit 1980 oder auch seit 2005, als noch immer mehr als 200 Millionen Menschen mit einem Einkommen von unter 1,9 US-$ pro Tag auskommen mussten, sind nicht zu übersehen. Doch ist das Problem der Armut keineswegs überwunden. Das machen die Zahlen deutlich, die der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang auf einer Pressekonferenz ein Jahr vor der zu Beginn zitierten triumphalen Rede Xi Jinpings nannte. Er wies darauf hin, dass in China 600 Millionen Menschen mit einem Monatseinkommen unter 1.000 Yuan (140 US-$) lebten, womit sie sich nicht einmal die Miete eines Zimmers in einer Stadt leisten könnten.109 Legte man eine Armutsgrenze von 5,50 US-$ pro Tag zugrunde, die von der Weltbank für Länder mit mittleren Einkommen wie China empfohlen wird, dann läge die Zahl der Armen immer noch bei 240 Millionen.110 Die Anwendung eines multidimensionalen Armutsstandards würde ähnliche Zahlen ergeben, wie die Ergebnisse der anfangs erwähnten Studie vermuten lassen.111 Auch die Daten über die hohe Inzidenz von Mangelernährung und Anämie, von Darmparasiten und einer retardierten mentalen Entwicklung bei Kleinkindern und Schulkindern auf dem Land, die die Entwicklungsökonomen Scott Rozelle und Natalie Hell gesammelt haben, sind Indizien dafür, dass Armut bis heute ein zentrales Problem darstellt.112 Entgegen dem ersten Augenschein in den glitzernden Metropolen ist China also weiterhin kein reiches Land.

Die Tatsache, dass die aktuellen Armutszahlen so große Differenzen aufweisen, ist ein zusätzlicher Beleg für die Problematik, die im ersten Teil dieses Aufsatzes diskutiert wurde. Wie die dortige Analyse der Daten des chinesischen Statistikamtes und der Weltbank zur Entwicklung der Armut in China gezeigt hat, sind die von beiden errechneten Armutsquoten unzuverlässig. Da sie auf intransparenten Ausgangsdaten beruhen, im Lauf der letzten 40 Jahre mehrmals grundlegend revidiert wurden und im Widerspruch zu anderen Daten und Beobachtungen stehen, können sie nur als grobe Orientierung dienen.

Über lange Zeit verlief die Wirtschaftsentwicklung in China auf Kosten der Landwirtschaft, der Dörfer und der bäuerlichen Bevölkerung. Am Anfang der industriellen Entwicklung in den 1950er-Jahren stand die strategische Entscheidung, die staatlichen Investitionen primär in die Infrastruktur und in die (staatseigene) Schwerindustrie zu lenken. Während Stadtbewohner und die Arbeiterschaft privilegiert waren, wurden Investitionen in die Landwirtschaft bewusst vernachlässigt. Stattdessen wurden mit unterschiedlichen Methoden Mittel aus dem agrarischen in den industriellen Sektor geleitet. Die Folgen dieser systematischen Benachteiligung der Landwirtschaft waren die große Hungersnot von 1959 bis 1961 und die Agrarkrise am Ende der 1970er-Jahre mit einer sehr hohen Armutsquote. Hunger und die Verelendung weiter Regionen auf dem Land waren Ergebnisse der grundlegenden Entscheidungen der Parteiführung.

Wegen der wachsenden Not auf dem Land und des Widerstandes der Bauern musste diese Politik korrigiert werden. In der Reformperiode (1978–1989)113 wurden nach und nach die Volkskommunen aufgelöst, die Bauern übernahmen die Bewirtschaftung des Bodens in eigener Regie, lokale Märkte wurden liberalisiert, und die Preise für Agrarprodukte wurden angeglichen – mit dem Erfolg, dass sich die ländlichen Einkommen in kürzester Zeit verbesserten und viele Haushalte der Armut entkamen. Diese Reform ging nicht auf gezielte Entscheidungen der Partei- und Staatsführung zurück, die sich, im Gegenteil, noch lange gegen die Auflösung der sozialistischen Strukturen stemmte, sondern auf die Initiative von Akteuren an der Basis in den ärmeren Provinzen Chinas. Sie war das Resultat einer »spontanen, unorganisierten, führerlosen, unideologischen und unpolitischen Bewegung«.114

Allerdings war das Potential dieser Reform bald ausgeschöpft. Da von staatlicher Seite weiterhin nicht in den Agrarsektor investiert wurde, setzte in den Dörfern Stagnation und regional sogar Verelendung ein. Dieser Zustand hielt über zwei Jahrzehnte an. Die Verelendung der Dörfer war aber nicht der unerwünschte Nebeneffekt der neuen Wirtschaftspolitik, sondern, im Gegenteil, die strukturell notwendige Voraussetzung für deren Erfolg. Seit den 1980er-Jahren war es Chinas Strategie, Investitionen aus dem Ausland anzulocken und die Entwicklung einfacher arbeitsintensiver Industrien in massivem Umfang zu begünstigen. Ermöglicht durch Chinas große Bevölkerung und die niedrigen Löhne entstanden Fabriken im ganzen Land. Die Not auf dem Land zwang immer größere Teile der bäuerlichen Bevölkerung, die Dörfer zu verlassen und zu geringen Löhnen in der Industrie, im Bausektor, in Bergwerken und im Dienstleistungssektor zu arbeiten. Die Löhne dieser ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter wurden von 1990 bis 2005 kaum erhöht. Da die Gesamtsumme der monetären Einkommen dennoch stieg, wuchs auch die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen.115 So wies die Wirtschaft über viele Jahre hohe Wachstumsraten auf. Diese Art des Wachstums aber war abhängig davon, dass dauerhaft ein großes Reservoir von billigen, ungelernten Arbeitskräften zur Verfügung stand.

Währenddessen änderte sich auf den Dörfern nur wenig. Zwar stiegen die Einkommen der ländlichen Bevölkerung langsam, was jedoch vorwiegend den Zahlungen der abgewanderten Familienangehörigen und den Einkünften aus Tätigkeiten jenseits des Agrarsektors zu verdanken war, nicht einer aktiven staatlichen Politik der Armutsbekämpfung oder der Agrarförderung. Auch in dieser Phase lag das Verdienst daran, dass viele Menschen der Armut entkommen konnten, nicht bei der Parteiführung, sondern in erster Linie bei den Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich schlecht bezahlt, ohne Sozialversicherung, mit wöchentlichen Arbeitszeiten von 60 und mehr Stunden, weit entfernt von ihren Heimatdörfern und getrennt von ihren Familien, in der Industrie, in Dienstleistungsberufen und im Baugewerbe verdingten und für ihre geringen Löhne oft elende Lebensbedingungen in Kauf nehmen mussten.

Erst seit 2005 und verstärkt nach 2009 entwickelte der Staat gezielt Programme zur Unterstützung der verbliebenen extrem Armen, zum Ausbau eines Sozialversicherungssystems und zur Subventionierung des Agrarsektors, um damit den Rückgang der landwirtschaftlichen Einkommen zu kompensieren. Diese Reformen waren darauf zurückzuführen, dass die Misere in den Dörfern zu immer zahlreicheren und größeren Protestaktionen geführt hatte, die die Legitimität und die Stabilität der herrschenden Ordnung zu gefährden drohten. Welchen Anteil die neuen Sozialprogramme daran hatten, dass die extreme Armut (in China traditionell definiert als chibubao chuanbunuan: sich nicht satt essen und sich nicht warm anziehen können) bis heute stark reduziert werden konnte, ist schwer einzuschätzen, weil nicht klar ist, ob die dabei aufgetretenen Probleme inzwischen behoben sind.

Tatsächlich hat das schnelle Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte vielen Chinesinnen und Chinesen höhere Einkommen ermöglicht. Eine kleine Schicht von superreichen Unternehmern, Investoren und Spekulanten sowie eine wohlhabende städtische Mittelschicht bildeten sich heraus. Der Preis für diese Entwicklung war, neben der zunehmenden Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen und der Ausbeutung von Ressourcen (ein Thema, auf das ich hier nicht eingehen kann), eine extreme soziale Ungleichheit. Gemessen am Gini-Index, dem allgemein benutzten Maß für die Einkommensverteilung, zählt China mit 0,47 im Jahr 2020 zu den Gesellschaften mit der höchsten Ungleichheit weltweit.116 Vor allem aber brachte die chinesische Wachstumsstrategie eine soziale Entwurzelung großer Teile der Landbevölkerung mit sich. So ist die Erfolgsbilanz bei der Überwindung der extremen Armut zu einem Gutteil auf die »Proletarisierung« der Landbevölkerung zurückzuführen, ein Prozess, der an die Expropriationsprozesse erinnert, wie sie Marx und ähnlich Polanyi als unerlässlich nicht nur für die Industrialisierung in England, sondern generell für die kapitalistische Wirtschaftsform beschrieben haben. Björn Alpermann stellte in seinem Essay zur sozialen Schichtung der chinesischen Gesellschaft vor einigen Jahren in dieser Zeitschrift fest, dass Chinas wirtschaftlicher Aufstieg »maßgeblich auf der Ausbeutung der Wanderarbeiter beruht«.117 Ich argumentiere darüber hinaus, dass die Armut der chinesischen Landbevölkerung dafür die strukturelle Voraussetzung bildete. Ob die bisherigen Erfolge nachhaltig sind und ob die 2021 ausgegebene Parole, nun müsse eine Epoche des »gemeinsamen Wohlstands« (gongtong fuyu) eingeleitet werden,118 eine Abkehr von der bisherigen Wachstumsstrategie darstellt, muss sich erst noch erweisen.


Anmerkungen:

1 UNDP China, United Nations Hails China’s Progress towards the Millennium Development Goals in Final Report, 24.7.2015. Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser.

3 World Bank, The World Bank in China, Overview, 20.5.2021. In der aktualisierten Fassung (Update 12.4.2022) wurde die Zahl reduziert auf »mehr als 800 Millionen«.

4 Zur Bezeichnung Dengs als »Chefarchitekt« im chinesischen Diskurs und in den westlichen Medien siehe Wang Xiangping, Guanyu »zongshejishi« chengwei tifade lailongqumai [Über die Herkunft der Bezeichnung »Chefarchitekt«], in: Guang’an ribao [Guang’an Tageszeitung], 30.6.2016.

5 Dieses Maß für die »absolute Armut« muss vom Maß für die »relative Armut« unterschieden werden, die als ein bestimmter Prozentsatz des Durchschnittseinkommens definiert wird.

6 Für den multidimensionalen Ansatz und die Kritik an der am monetären Einkommen gemessenen Armutsgrenze siehe Amartya Sen, Commodities and Capabilities, New Delhi 1987. Einen multidimensionalen Ansatz befürworten auch Sanjay G. Reddy/Thomas W. Pogge, How Not to Count the Poor, 29.10.2005, URL: <http://pdf.wri.org/ref/reddy_03_how_not_to.pdf>, S. 4.

7 Eine neuere Studie versucht die chinesische Armutsbekämpfungspolitik für den Zeitraum 2000 bis 2011 anhand des multidimensionalen Ansatzes zu messen und zu bewerten. Wegen der eingeschränkten Verfügbarkeit der Daten und der kurzen Zeitspanne ist sie nur begrenzt aussagekräftig. Siehe Jing Yang/Pudarik Mukhopadhaya, China’s War Against the Many Faces of Poverty, London 2016; zu den einzelnen Armutskriterien dort S. 18-24.

8 Da China bis 2005 nicht an den weltweiten Erhebungen zur Kaufkraft teilnahm, mussten sich ausländische Ökonomen mit den Daten des chinesischen Statistikamtes zufriedengeben. Siehe Adam Parsons, World Bank Poverty Figures. What Do They Mean?, 15.9.2008, URL: <https://www.sharing.org/information-centre/articles/world-bank-poverty-figures-what-do-they-mean>.

9 Siehe dazu Branko Milanović, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Berlin 2016, S. 25-29.

10 Vgl. Reddy/Pogge, How Not to Count (Anm. 6), S. 4f.

11 Vgl. Parsons, World Bank Poverty Figures (Anm. 8).

12 Laurence Chandy/Homi Kharas, The Contradictions in Global Poverty Numbers, in: Brookings Opinion, 6.3.2012, sowie zur Fragwürdigkeit der chinesischen Daten Chris Bramall, Research Report: The Quality of China’s Household Income Surveys, in: China Quarterly 167 (2001), S. 689-705.

13 Chunmin Zhang u.a., Are Poverty Rates Underestimated in China? New Evidence From Four Recent Surveys, in: China Economic Review 31 (2014), S. 410-425, hier S. 411.

14 Vgl. Minzi Su, China’s Rural Development Policy. Exploring the »New Socialist Countryside«, Boulder 2009, S. 163.

15 Vgl. Jürgen Osterhammel, Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution, München 1997, S. 89-96. Osterhammel beklagt, dass man über die städtischen Unterschichten wenig wisse. Dieses Defizit ist durch neuere Forschungen ansatzweise behoben. Siehe Hanchao Lu, Beyond the Neon Lights. Everyday Shanghai in the Early Twentieth Century, Berkeley 2004, S. 66, wo die Zahl der »urban poor« in Shanghai in den 1930er-Jahren auf ca. eine Million (ein Fünftel der Bevölkerung) beziffert wird. Zur ländlichen Armut vor dieser Zeit und zu den Opfern von Hungersnöten siehe Richard H. Tawney, Land and Labour in China, New York 1932, S. 69-76.

16 Vgl. Carsten Herrmann-Pillath, Marktwirtschaft in China. Geschichte – Strukturen – Transformation, Opladen 1995, S. 104f., sowie die Erinnerungen des früheren Finanzministers Bo Yibo, Ruogan zhongda juece yu shijian de huigu [Erinnerungen an einige wichtige strategische Entscheidungen und Vorfälle], Bd. 1, Beijing 1991, S. 217-221, S. 255-267, S. 284-301. Siehe auch Barry M. Richman, Industrial Society in Communist China. A Firsthand Study of Chinese Economic Development and Management, with Significant Comparisons with Industry in India, the U.S.S.R., Japan, and the United States, New York 1969, S. 495f.

17 Nicholas Lardy, Agriculture in China’s Modern Economic Development, Cambridge 1983, S. 130.

18 Daten dazu bei Robert F. Ash, Squeezing the Peasants. Grain Extraction, Food Consumption, and Rural Living Standards in Mao’s China, in: China Quarterly 188 (2006) S. 959-998.

19 Richman, Industrial Society (Anm. 16), S. 503.

20 Zit. in Kate Xiao Zhou, How the Farmers Changed China, Boulder 1996, S. 28. Su, China’s Rural Development Policy (Anm. 14), S. 87, nennt für die Zeit von 1954 bis 1978 einen Abfluss von 600 Mrd. Yuan aus dem Agrarsektor, dem ein Zufluss von 157 Mrd. Yuan gegenüberstand. Zum Vergleich: 1959 beliefen sich die chinesischen Staatseinnahmen auf gut 54 Mrd. Yuan, 1978 auf knapp 100 Mrd. Yuan. Markus Taube, Art. »Staatshaushalt«, in: Brunhild Staiger u.a. (Hg.), Das große China-Lexikon, Darmstadt 2003, S. 712-714, hier S. 712.

21 Zum Widerstand gegen die Genossenschaften siehe Huaiyin Li, Confrontation and Conciliation Under the Socialist State. Peasant Resistance to Agricultural Collectivization in China in the 1950s, in: Twentieth Century China 33 (2008) H. 2, S. 73-99.

22 Vgl. Klaus Mühlhahn, Geschichte des modernen China, München 2021, S. 459-464, sowie Robert F. Ash, Art. »Landwirtschaft«, in: Staiger u.a., China-Lexikon (Anm. 20), S. 420-424, hier S. 422.

23 Erhard Louven, Ausgewählte Statistiken zur Landwirtschaft der Volksrepublik China, in: China aktuell, April 1982, S. 212-218, hier S. 214.

24 Siehe dazu die Beiträge von Xin Yi und Yanni Wang, beide in: Kimberley Ens Manning/Felix Wemheuer (Hg.), Eating Bitterness. New Perspectives on China’s Great Leap Forward and Famine, Vancouver 2011, S. 130-147 und S. 148-170. Bernstein argumentiert, dass Mao selbst erhebliche Mitverantwortung für die Katastrophe hatte: Thomas P. Bernstein, Mao Zedong and the Famine of 1959–1960. A Study in Wilfulness, in: China Quarterly 186 (2006), S. 421-445.

25 Felix Wemheuer, A Social History of Maoist China. Conflict and Change, 1949–1976, London 2019, S. 122. Siehe dazu auch die von Xun Zhou gesammelten Zeugnisse in Forgotten Voices of Mao’s Great Famine, 1958–1962. An Oral History, New Haven 2013, sowie das auf 20-jähriger Archivrecherche beruhende Werk von Yang Jisheng, Tombstone. The Great Chinese Famine 1958–1962. Translated by Stacy Mosher and Guo Jian. Edited by Edward Friedman, Guo Jian and Stacy Mosher, New York 2012. Zum Vergleich mit den Hungersnöten in der Sowjetunion siehe Stephen G. Wheatcroft, Die sowjetische und die chinesische Hungersnot in historischer Perspektive, in: Matthias Middell/Felix Wemheuer (Hg.), Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme unter dem Staatssozialismus (1917–2006), Frankfurt a.M. 2011, S. 87-123.

26 Mühlhahn, Geschichte (Anm. 22), S. 487-490. Die wörtliche Übersetzung von baochan daohu lautet: Festsetzung der Produktionsquoten auf der Grundlage der einzelnen Haushalte.

27 US Economic Research Service, Agricultural Statistics of the People’s Republic of China, 1949–86, Washington D.C., April 1988, Table 7, S. 19. Zu den Bevölkerungszahlen siehe Thomas Scharping, Art. »Bevölkerung«, in: Staiger u.a., China-Lexikon (Anm. 20), S. 82-85, hier S. 84.

28 1685 betrug der kombinierte Hektar-Ertrag für Reis und Weizen 2,4 Tonnen. Bis zum Ende der Qing-Zeit (1850) stieg er auf knapp 3 Tonnen. Stephen Broadberry/Hanhui Guan/David Daokui Li, China, Europe and the Great Divergence. A Study in Historical National Accounting, 980–1850, University of Warwick Working Paper Series, 13.4.2017, S. 13.

29 Vgl. Ash, Squeezing the Peasants (Anm. 18), S. 975; Louven, Ausgewählte Statistiken (Anm. 23), S. 216, sowie für die Einkommensdaten: Erhebung über Einkommen der chinesischen Bauern, in: China aktuell, Dezember 1981, S. 1049.

30 Renwei Zhao, Art. »Einkommen«, in: Staiger u.a., China-Lexikon (Anm. 20), S. 171-173, hier S. 172. Die nicht-monetären Subventionen machten bis zu 42 Prozent der städtischen Einkommen aus. Carl Riskin/Qin Gao, The Changing Nature of Urban Poverty in China, Initiative for Policy Dialogue Working Paper Series, Mai 2009, S. 15.

31 Zur Einführung des hukou-Systems siehe Mühlhahn, Geschichte (Anm. 22), S. 443-445, sowie Zhou, How the Farmers (Anm. 20), S. 34f.

32 Xuehao wenjian zhua zhugang [Die Dokumente gut studieren, das Hauptkettenglied anpacken]. Gemeinsamer Leitartikel der Renmin Ribao [Volkszeitung], der Hongqi [Rote Fahne] und der Jiefangjun Ribao [Tageszeitung der Befreiungsarmee], 7.2.1977, S. 1.

33 Zit. in Zhou, How the Farmers (Anm. 20), S. 39. Siehe auch Ylva Monschein, Nachwort, in: Chen Guidi/Wu Chuntao, Zur Lage der chinesischen Bauern. Eine Reportage. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Frankfurt a.M. 2006, S. 539-564, hier S. 561.

34 Dieser Wert entspricht ungefähr dem Weltbank-Standard von 1 US-$ pro Tag. Martin Ravallion/Shaohua Chen, China’s (Uneven) Progress Against Poverty, World Bank Policy Research Working Paper WPS 3408, 1.9.2004, S. 6.

35 Ebd., S. 6-8.

37 Martin Ravallion, A Comparative Perspective on Poverty Reduction in Brazil, China, and India, World Bank Policy Research Working Paper WPS 5080, Oktober 2009, S. 4, S. 31. Von einer ähnlich hohen Armutsquote gehen die neueren chinesischen Statistiken aus. Siehe Beate Trankmann, What Changes after China Defeats Poverty?, in: China Daily, 23.12.2019.

38 Siehe Ravallion/Chen, China’s (Uneven) Progress (Anm. 34), S. 33.

39 Hill Gates, China’s Motor. A Thousand Years of Petty Capitalism, Ithaca 1996, S. 250f., sowie Su, China’s Rural Development Policy (Anm. 14), S. 21. Für ähnliche Argumente siehe Chandy/Kharas, Contradictions (Anm. 12), sowie Flemming Christiansen, Food Security, Urbanization and Social Stability in China, in: Journal of Agrarian Change 9 (2009), S. 548-575, hier S. 552.

40 Wemheuer, Social History (Anm. 25), S. 245.

41 Der Einfachheit halber wird der Übergang zum »Haushaltsverantwortungssystem« oft als »Privatisierung« oder »Dekollektivierung« bezeichnet (so vereinzelt auch in diesem Text). Beide Begriffe sind ungenau, da in China der Boden weiterhin im Besitz des Staates bzw. des Kollektivs ist und daher nicht privatisiert bzw. dekollektiviert werden kann.

42 Zhou, How the Farmers (Anm. 20), S. 56.

43 Su, China’s Rural Development Policy (Anm. 14), S. 67; zur Haltung der Dorfkader ebd., S. 33f.

44 Zit. in Zhou, How the Farmers (Anm. 20), S. 62.

45 Wang Guizhen/Wei Daonan/Chen Yizi, Anhuisheng baochandaohude diaozha [Untersuchung über das Haushaltsverantwortungssystem in der Provinz Anhui], in: Jingjixue dongtai [Wirtschaftsnachrichten] 11 (1980), S. 23-28, hier S. 23. Dieser Bericht spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung der Reformkräfte um Hu Yaobang (ab 1980 Generalsekretär der Partei), die spontane Dekollektivierung zuzulassen. Chen Yizi wurde in der Folge zum Direktor des zentralen »Instituts für die Reform des chinesischen Wirtschaftssystems« (Zhongguo jingjitizhi gaige yanjiusuo) ernannt.

46 Der offizielle Beschluss zur Auflösung erfolgte 1986. Su, China’s Rural Development Policy (Anm. 14), S. 34; Thomas Vendryes, Land Rights in Rural China since 1978. Reforms, Successes, and Shortcomings, in: China Perspectives 4/2010, S. 87-99, hier S. 89.

47 Robert F. Ash, Art. »Getreide«, in: Staiger u.a., China-Lexikon (Anm. 20), S. 261-263, hier S. 262.

48 Zhou, How the Farmers (Anm. 20), S. 57; Su, China’s Rural Development Policy (Anm. 14), S. 67.

49 Vgl. auch Frederick C. Teiwes/Warren Sun, China’s New Economic Policy under Hua Guofeng. Party Consensus and Party Myths, in: China Journal 66 (Juli 2011), S. 1-23, wo die »Architektenrolle« Dengs weiter relativiert wird.

50 Auf die Details der Fraktionenbildung und der Machtkämpfe kann hier nicht eingegangen werden. Siehe dazu u.a. Jürgen Domes/Marie-Luise Näth, China im Aufbruch. Darstellung, Analyse und Dokumente der Frühjahrskrise 1989 in der Volksrepublik China, Berlin 1990, S. 37-43.

51 Zur aktuellen Situation vgl. Tiantian Liu, ›Enclosure with Chinese Characteristics‹. A Polanyian Approach to the Origins and Limits of Land Commodification in China, in: Journal of Peasant Studies, Online First, 4.1.2022.

52 Vendryes, Land Rights (Anm. 46), S. 90.

53 Ravallion, A Comparative Perspective (Anm. 37), S. 7f. Die Weltbank-Daten von 2004 vermelden einen Rückgang der Armutsquote auf knapp 18 Prozent im Jahr 1985 (von 62 Prozent im Jahr 1980). Ravallion/Chen, China’s (Uneven) Progress (Anm. 34), Table 1 (S. 38) und Table 4 (S. 41).

54 Vgl. dazu die neue Studie von Martin Ravallion, A Historical Perspective on China’s Success against Poverty, 4.2.2021. Darin wird mithilfe kontrafaktischer Modellrechnungen zu belegen versucht, dass die Fortschritte lediglich die Fehlschläge der vorangegangenen 30 Jahre kompensieren konnten.

55 Für seine Positionen siehe Alexander Day, The Peasant in Postsocialist China. History, Politics, and Capitalism, Cambridge 2013, S. 53-55.

56 Xiaolin Pei, China’s Pattern of Growth and Poverty Reduction, in: Arts & Humanities Open Access Journal 2 (2018), S. 91-104.

57 Siehe dazu die Beiträge von Li Minqi (S. 89-109), Han Deqiang (S. 142-156) und Cui Zhiyuan (S. 214-226), in: Gong Yang (Hg.), Sichao. Zhongguo xin zuopai ji qi yingxiang [Intellektuelle Trends. Die chinesische »Neue Linke« und ihr Einfluss], Beijing 2003; ebenso Zhun Xu, From Commune to Capitalism. How China’s Peasants Lost Collective Farming and Gained Urban Poverty, New York 2018, S. 12, sowie Day, Peasant (Anm. 55), S. 72-74, S. 78.

58 Zur Rolle der Kleinbetriebe siehe Chris Bramall, The Industrialization of Rural China, Oxford 2007, S. 50-53.

59 Ravallion/Chen, China’s (Uneven) Progress (Anm. 34), S. 30.

60 Su, China’s Rural Development Policy (Anm. 14), S. 32.

61 World Bank, China: From Poor Areas (Anm. 36), S. iii.

62 Die beiden extrem hohen Zahlen gehen auf die neue Armutsgrenze der Weltbank von 1,9 US-$ zurück: China Power Team, Is China Succeeding at Eradicating Extreme Poverty?, Update 12.5.2021.

63 Ministry of Foreign Affairs of the People’s Republic of China, United Nations System in China, Report on China’s Implementation of the Millennium Development Goals, 1990–2015, S. 26.

65 Bettina Gransow, Hintergrund und Problemaufriss. Stadt-Land-Gefälle und Meldesystem (hukou), 4.12.2012, URL: <https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/151283/stadt-land-gefaelle-und-meldesystem>.

66 Su, China’s Rural Development Policy (Anm. 14), S. 36.

67 Liu, Enclosure (Anm. 51).

68 Li Changping, Yige xiang danwei shuji de xinlihua – gei Zhu zonglide xin [Aufrichtige Worte eines Gemeindeparteisekretärs – ein Brief an den Ministerpräsidenten Zhu], in: Nanfang zhoumo [Südliches Wochenende], 24.8.2000, S. 1.

69 Vgl. Maria Repnikova/Kecheng Fang, Behind the Fall of China’s Greatest Newspaper, in: Foreign Policy, 29.1.2015.

70 Cao Jinqing, Huanghe biande Zhongguo. Yige xuezhe dui xiangcunshehuide guancha yu sikao [China entlang des Gelben Flusses. Beobachtungen und Reflexionen eines Wissenschaftlers zur ländlichen Gesellschaft], Shanghai 2000. Zur öffentlichen Resonanz auf dieses Buch siehe die Rezension von Claude Aubert, in: China Perspectives 66 (2006), S. 88-91.

71 Chen Guidi/Wu Chuntao, Zhongguo nongmin diaocha [Untersuchungen zu den chinesischen Bauern], Beijing 2004. Deutsch: Chen/Wu, Zur Lage (Anm. 33).

72 Vgl. dazu auch Bramall, Industrialization (Anm. 58), S. 54.

73 Chen/Wu, Zhongguo nongmin (Anm. 71), S. 151-156, S. 166-170, S. 176-186; Christian Göbel, The Peasant’s Rescue from the Cadre? An Institutional Analysis of China’s Rural Tax and Fee Reform, Duisburger Arbeitspapiere Ostasienwissenschaften Nr. 69/2006.

74 Achim Fock/Christine Wong, Financing Rural Development for a Harmonious Society in China: Recent Reforms in Public Finance and Their Prospects, World Bank Policy Research Working Paper WPS 4693, August 2008, S. 4.

75 Chen/Wu, Zhongguo nongmin (Anm. 71), S. 209.

76 So der Titel einer Arbeit zur Lage auf dem Land: Thomas P. Bernstein/Xiaobo Lü, Taxation Without Representation in Contemporary Rural China, New York 2003.

77 Einige Fälle von »Vorsprachen« gegen die Abgabenlast werden dokumentiert in Chen/Wu, Zhongguo nongmin (Anm. 71), S. 82-155.

78 Kevin J. O’Brien/Lianjiang Li, Rightful Resistance in Rural China, Cambridge 2006, S. 79.

79 Ebd., S. 6, S. 28.

80 Zahlen aus Dagongbao [Unparteiische Zeitung], 6.7.2005; zit. in Göbel, Peasant’s Rescue (Anm. 73), S. 1. Bei diesen Zahlen wird nicht zwischen ländlichen und städtischen Protesten (z.B. infolge von Arbeits- und Lohnkonflikten) unterschieden. Siehe auch Günter Schucher, Liberalisierung in Zeiten der Instabilität. Spielräume unkonventioneller Partizipation im autoritären Regime der VR China, in: Asien 111 (2009), S. 50-75. Aus der privilegierten heutigen Perspektive gesehen wirkt dieser Titel euphemistisch. Die damals noch erwartete »Liberalisierung« ist nicht eingetreten, und angesichts der Tatsache, dass es Todesopfer durch Polizeigewalt gab und die Beteiligten Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe riskierten, erscheint es nicht weniger beschönigend, von »Spielräumen unkonventioneller Partizipation« zu schreiben. Vgl. z.B. einen Bericht über Proteste in der Provinz Guangdong: Howard French, Protesters Say Police Killed Up to 20, in: New York Times, 20.12.2005. Siehe dazu auch Yongshun Cai, Local Governments and the Suppression of Popular Resistance in China, in: China Quarterly 193 (2008), S. 24-42.

81 Fock/Wong, Financing Rural Development (Anm. 74), S. 52.

82 Xiaxin Wang/Yan Shen, The Effect of China’s Agricultural Tax Abolition on Rural Families’ Incomes and Production, in: China Economic Review 29 (2014), S 185-199, hier S. 185. Siehe auch Göbel, Peasant’s Rescue (Anm. 73), S. 18, sowie Hao Shi/Bing Ye, China’s Abolition of the Agricultural Tax, Local Governments’ Responses and Economic Growth, in: Fiscal Studies 39 (2018), S. 517-542.

83 Zur Charakterisierung der Migration als »blind« siehe Gong Yiming, »Mingongchao« de qiluo [Aufstieg und Niedergang der »Wanderarbeiterflut«], Wuhan 1994, S. 1f. Die Terminologie im Buchtitel spiegelt die damalige abwertende Haltung. Der Zweisilber mangliu hat in umgekehrter Reihenfolge (liumang) die Bedeutung »Hooligan«.

84 Ming Lu/Yiran Xia, Migration in the People’s Republic of China, Asian Development Bank Institute Working Paper 593, September 2016, S. 4, sowie Björn Alpermann, Soziale Schichtung und Klassenbewusstsein in Chinas autoritärer Modernisierung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 283-296, hier S. 288f.

85 J. Edward Taylor/Scott Rozelle/Alan de Brauw, Migration and Incomes in Source Communities. A New Economics of Migration Perspective from China, in: Economic Development and Cultural Change 52 (2003/04), S. 75-101.

86 Chor-ching Goh/Xubei Luo/Nong Zhu, Income Growth, Inequality and Poverty Reduction. A Case Study of Eight Provinces in China, in: China Economic Review 20 (2009), S. 485-496, hier S. 495.

87 Siehe Björn Alpermann, China’s Rural-Urban Transformation. New Forms of Inclusion and Exclusion, in: Journal of Current Chinese Affairs 49 (2020), S. 259-268. Zur Urbanisierungsrate: World Bank. Data, Urban Population. China, URL: <https://data.worldbank.org/indicator/SP.URB.TOTL.IN.ZS?locations=CN>.

88 Wang Sangui/Li Zhou/Ren Yanshun, The 8-7 National Poverty Reduction Program in China – The National Strategy and its Impact, World Bank Case Studies in Scaling Up Poverty Reduction, 2004, S. 4.

89 Liu, Enclosure (Anm. 51).

90 Bramall, Industrialization (Anm. 58), S. 53f.

91 Zur Haltung einflussreicher Theoretiker des Neoliberalismus zum autoritären Staat siehe Quinn Slobodian, Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Berlin 2019, S. 165-169, S. 394f. Wang Hui, der profilierteste Kritiker der marktwirtschaftlichen Entwicklungsstrategie, thematisierte explizit die Verbindung zwischen den chinesischen Reformen und der globalen Durchsetzung neoliberaler Politik: Dangdai Zhongguode sixiang zhuangkuang yu xiandaixing wenti [Zur geistigen Situation des zeitgenössischen China und zur Frage der Modernität], in: Gong, Zhongguo xin zuopai (Anm. 57), S. 3-50.

92 So Qin Hui; vgl. Day, Peasant (Anm. 55), S. 49-55.

93 Siehe dazu das Protokoll einer Podiumsdiskussion zwischen führenden Vertretern beider Richtungen: Wen Tiejun/Wang Hui/Qin Hui, Zhongguo nengfou zouchu yitiao dute de daolu? [Kann China einen eigenen Weg gehen?], in: Tianya [Ferne Welt] 4 (2003), S. 56-65. Zu ähnlichen Argumenten von Gan Yang, einem weiteren Wortführer der »Linken«, siehe Day, Peasant (Anm. 55), S. 77-81.

94 Fred Gale/Bryan T. Lohmar/Francis C. Tuan, China’s New Farm Subsidies, United States Department of Agriculture, WRS-05-01, Februar 2005, S. 3.

95 OECD, Agricultural Policy Monitoring and Evaluation 2020, 8. China, Support to Agriculture, Table 8.1. China: Estimates of Support to Agriculture.

96 Sha Lai u.a., The Distribution of Benefits under China’s New Rural Cooperative Medical System. Evidence from Western Rural China, in: International Journal of Equity in Health 17, 137 (2018), hier S. 12.

97 Jennifer Golan/Terry Sicular/Nithin Umapathi, Unconditional Cash Transfers in China. Who Benefits from the Rural Minimum Living Standard Guarantee (Dibao) Program?, World Bank Policy Research Working Paper WPS 7374, Juli 2015, S. 2.

98 Nanak Kakwani u.a., Evaluating the Effectiveness of the Rural Minimum Living Standard Guarantee (Dibao) Program in China, in: China Economic Review 53 (2019), S. 1-14, hier S. 1, sowie Golan/Sicular/Umapathi, Unconditional Cash Transfers (Anm. 97), S. 27f. Ob solche Missstände inzwischen beseitigt oder gemildert werden konnten, ist unklar.

99 Matthias Stepan/Quan Lu, The Establishment of China’s New Type Rural Social Insurance Pension. A Process Perspective, in: Journal of Current Chinese Affairs 45 (2016) H. 2, S. 113-147; Eun Kyong Choi, »Delegation and Then Intervention«. The 2009 Decision to Create the New Rural Pension, in: China Quarterly 233 (2018), S. 64-84.

100 Orange Wang, China’s Ageing Rural Peasants Labour into Their Twilight Years as Pensions ›Cover only Oil and Salt‹, in: South China Morning Post, 22.8.2020.

101 Migrant Workers and Their Children, in: China Labour Bulletin, 26.5.2022.

102 Pei, China’s Pattern of Growth (Anm. 56), S. 100f.

103 Vgl. Alpermann, Rural-Urban Transformation (Anm. 87), S. 264. Zur prekären Lebens- und Arbeitssituation besonders der Beschäftigten in der Elektronikindustrie siehe Jenny Chan/Mark Selden/Pun Ngai, Dying for an iPhone. Apple, Foxconn, and the Lives of China’s Workers, London 2020.

104 OECD, Agricultural Policy (Anm. 95).

106 Siehe dazu Liu, Enclosure (Anm. 51).

107 Anne Christine Lie, Rethinking Rural Resistance in China. A Case Study of the 2011 Wukan Incident in Guangdong Province, M.A. thesis, University of Oslo 2014, S. 2f.

108 Zhang Yonghong/Li Jingjun, Zhizao tongyi. Jiceng zhengfu zenyang xina minzhongde kangzheng [Die Herstellung von Einverständnis. Wie können die Verwaltungen an der Basis die Proteste der Bevölkerung aufnehmen], in: Kaifang Shidai [Zeitalter der Öffnung] 7 (2012).

109 Vgl. Qiaoyi Li, 600m with $140 monthly income worries top, in: Global Times, 29.5.2020.

110 Zahlen aus: China Power Team, Is China Succeeding (Anm. 62).

111 Yang/Mukhopadhaya, China’s War (Anm. 7), S. 308-313.

112 Scott Rozelle/Natalie Hell, Invisible China. How the Urban-Rural Divide Threatens China’s Rise, Chicago 2020, S. 104-110, S. 113-120, S. 126-131.

113 Der Beginn der Reformperiode wird meist auf das Jahr 1978 mit der Dritten Plenarsitzung des Politbüros des 11. ZK der KPCh angesetzt, auf der Deng Xiaoping offiziell wieder in eine einflussreiche Position gelangte. Das Ende der Periode wird markiert von der Protestbewegung des Frühlings 1989, deren Niederschlagung auch das Ende der »Reformfraktion« in der Parteiführung bedeutete.

114 Zhou, How the Farmers (Anm. 20), S. 57.

115 Rozelle/Hell, Invisible China (Anm. 112), S. 36.

116 Je höher dieser Wert ist, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung. Bei einem Wert von 1 wäre das gesamte Einkommen in den Händen einer Person. Die UNO sieht einen Wert von 0,4 als Alarmzeichen an. Quelle: <https://www.statista.com/statistics/250400/inequality-of-income-distribution-in-china-based-on-the-gini-index/>.

117 Alpermann, Soziale Schichtung (Anm. 84), S. 296.

118 Xi Jinping im August 2021; siehe Chris Buckley/Alexandra Stevenson/Cao Li, Warning of Income Gap, Xi Tells China’s Tycoons to Share Wealth, in: New York Times, 7.9.2021.

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