- Eine neue Quellenkunde digitaler Unterlagen
- Implikationen des kontinuierlichen Wandels digitaler Quellen
- Gewährleistung vertrauenswürdiger, unversehrter digitaler Quellen
- Ausblick: Genuin digitale Quellen kompetent auswerten
Zu den drängenden Problemen der Historischen Grundwissenschaften gehört es heute, ein erweitertes Instrumentarium für digitale Quellengattungen zu entwickeln. Dabei ist das breite Feld der digitalen Informationstypen der Gegenwart, der sogenannten born digitals (also der genuin digitalen Objekte), noch nicht einmal vollständig in den Blick geraten.1 Dies liegt zum einen daran, dass sich das Quelleninteresse der Zeitgeschichtsforschung in wachsendem Maße auch auf frei im Netz zugängliche Ressourcen richtet.2 Das dort vorhandene Material ist von beachtlicher Vielfalt (und quellenkritischer Brisanz), was eine quellenkundliche Erfassung erschwert. Die mangelnde Durchdringung des digitalen Quellenkanons hat aber auch mit den im Umbruch befindlichen Fachaufgaben der Archive als »traditionellem Ort« der Geschichtsforschung zu tun. Denn die Archive haben in vielen Fällen erst in den letzten Jahren mit systematischen Übernahmen und der Bereitstellung digitaler Unterlagen begonnen. Dementsprechend stehen viele digitale Quellen aus Verwaltungszusammenhängen der Forschung noch gar nicht zur Verfügung. Gleichwohl werden sie für die spätere geschichtswissenschaftliche Erforschung unserer heutigen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit von zentraler Bedeutung sein.
Vor diesem Hintergrund widmet sich der vorliegende Beitrag in drei Thesen der künftigen Bedeutung der Historischen Grundwissenschaften für die Auswertung digitaler archivalischer Quellen. Er verfolgt das Ziel, die momentan erkennbaren Desiderate der Historischen Grundwissenschaften zu umreißen und Ansätze für ihre Überwindung zu formulieren. Dabei werden methodische, verwaltungstechnische und archivfachliche Aspekte berücksichtigt. Mit dem Beitrag ist auch die Absicht verbunden, das bislang vor allem im archivfachlichen Kontext rezipierte Thema in der zeithistorischen Forschung weiter bekannt zu machen.
1. Eine neue Quellenkunde digitaler Unterlagen
These 1: Damit auch künftig die ganze Bandbreite der archivalischen Quellen wissenschaftlich-kritisch genutzt werden kann, muss sich innerhalb der Historischen Grundwissenschaften eine Lehre der digitalen Unterlagen entwickeln. Diese wird insbesondere eine digitale Aktenkunde einschließlich ihrer Metadaten umfassen.3
Historikerinnen und Historiker nutzen bislang vor allem digitalisiertes Archivgut. Dieses macht jedoch nur einen geringen Anteil des in den Archiven vorhandenen Materials aus. Urkunden, Amtsbücher, Akten, Karten und Bilder, die digitalisiert worden sind, stellen zudem kaum neue Anforderungen an die quellenkritische Interpretation. Sie gleichen als Abbild und in ihrem Informationsgehalt grundsätzlich dem Original in Pergament oder Papier.4 Genuin digitale archivalische Quellen weisen dagegen eine viel größere Komplexität auf und sind in vielen Aspekten anders als analog entstandene Quellen. Um sie wissenschaftlich zu interpretieren, sind erweiterte methodische Kenntnisse der Historischen Grundwissenschaften gefordert.
Mit welchen digitalen Quellen wird die historische Forschung in den öffentlichen Archiven künftig konfrontiert? Das Handeln der Verwaltung dürfte sich vor allem in drei digitalen Unterlagenarten widerspiegeln:5
- Die größte Gruppe der digitalen archivalischen Quellen werden nach heutigem Stand auf absehbare Zeit die elektronischen Akten bilden. Solche E-Akten werden in speziellen, datenbankbasierten Softwaresystemen geführt, sogenannten Dokumentenmanagementsystemen (DMS). Sie gliedern sich in einzelne Bearbeitungsvorgänge und bestehen aus einer strukturierten Zusammenstellung digitaler Einzeldokumente. Die für die Akte konstitutiven Ordnungsstrukturen und Bearbeitungsinformationen werden in Form von Metadaten vorgehalten und den jeweiligen Schriftgutobjekten zugeordnet. Die in einem DMS hinterlegten Regeln der Vorgangsbearbeitung und der Schriftgutverwaltung sowie die optischen Darstellungsformen der E-Akte sind an die Traditionen der Bearbeitung und Ablage von Papierakten angelehnt. Dies soll eine rechtssichere Dokumentation des Verwaltungshandelns gewährleisten und etablierte Bearbeitungsmethoden unterstützen. Zugleich integriert sich die E-Akte gut in den Kontext der inzwischen flächendeckend genutzten digitalen Werkzeuge der Zusammenarbeit und Kommunikation. Sie kann zum Beispiel E-Mails oder Dokumente aus den gewohnten IT-Systemen, insbesondere von Office-Anwendungen, problemlos und ohne Medienbruch aufnehmen, ist (zumindest theoretisch) online verfügbar und kann zwischen verschiedenen Bearbeiterinnen und Bearbeitern ausgetauscht werden.
- Die zweite digitale Archivaliengattung, mit der die Geschichtswissenschaft der Zukunft zu tun haben wird, ist die große Gruppe der Fachverfahren. Damit werden im Verwaltungskontext Softwaresysteme bezeichnet, die zur Erledigung spezieller Einzelaufgaben oder Geschäftsprozesse verwendet werden.6 Sie kommen überall dort zum Einsatz, wo die Aufgaben der Verwaltung stark strukturiert sind und eine serielle und kontextlose Datenerfassung angebracht ist. Prominente Beispiele sind Registerverfahren (wie das elektronische Personenstandsregister) oder die Programme der Steuerverwaltung (wie ELSTER). Ebenso wie die E-Akte arbeiten diese Anwendungen datenbankbasiert. Sie sind aber aufgabenspezifisch ausgerichtet und produzieren Daten meist in sehr speziellen Formaten und Strukturen. Dementsprechend kann ihre Nutzung im Archiv vertiefte informationstechnische Fähigkeiten erfordern.
- Die dritte größere Quellengruppe der Zukunft bilden die nicht oder nur schwach strukturierten Daten.7 Im archivischen Sinne sind damit alle Arten von Dateisammlungen gemeint, die nicht oder nur unzureichend durch maschinell verwertbare Metadaten beschrieben sind. Bekannte Beispiele sind E-Mail-Postfächer und Fileablagen. Aus Sicht der reinen Lehre der behördlichen Schriftgutverwaltung sind unstrukturierte Daten Anomalien, eine »Herausforderung des Übergangs«8 und nicht geeignet, behördliches oder gerichtliches Handeln in seinem jeweiligen prozessualen Kontext nachvollziehbar abzubilden. Gleichwohl finden sich unstrukturierte Daten heute in vielen Zweigen der Verwaltung. Sie spiegeln oftmals die Diskrepanz zwischen dem bereits digitalisierten Arbeitsalltag und der dazu nicht als passend empfundenen Papieraktenführung. Dort, wo Dateisammlungen in der Praxis die reguläre Aktenführung ersetzt haben, werden entsprechende Konvolute auch ins Archiv gelangen und zumindest den Arbeitsalltag der Umbruchsepoche zwischen analog und digital dokumentieren.9
Welche besonderen Kenntnisse der Historischen Grundwissenschaften werden zur Interpretation digitaler archivalischer Quellen künftig benötigt? Diese Frage kann hier naturgemäß nicht umfassend beantwortet werden; sie soll daher nur exemplarisch im Hinblick auf das Verständnis der E-Akten beleuchtet werden. Die gegenwärtig in der Verwaltung erzeugten E-Akten orientieren sich strukturell noch stark an der Papierakte. Sie bestehen (zumindest auf der Ansichtsebene) aus einer meist chronologischen Zusammenstellung einzelner Dokumente zu einem bestimmten Geschäftsvorfall. Dabei handelt es sich um eingehende Schreiben von Bürgerinnen und Bürgern oder externen Behörden, ausgehende Schreiben der Verwaltung sowie internes Schriftgut (z.B. Berichte, Memoranden etc.).
Wegen dieser strukturellen Nähe zur Papierakte kann eine »digitale Aktenkunde« auf den Erkenntnissen der traditionellen Aktenkunde aufbauen. Quellenkritisch ist allerdings die neue, von der Papierakte deutlich zu unterscheidende Art der Erzeugung und Darstellung der begleitenden Metadaten zu beachten. In beiden Welten enthalten Metadaten als »Daten über Daten« administrativ-steuernde (Vermerke, Verfügungen) oder technische Informationen: Sie können einen Kontext zwischen mehreren Einzelelementen eines Objektes herstellen, etwa den Zusammenhang zwischen Dokument und Akte über das Aktenzeichen. Sie können Auskunft über den Bearbeitungsstand und den Geschäftsgang geben. Schließlich können Metadaten die Integrität und rechtliche Verlässlichkeit digitaler Informationen sichern. Dabei gibt es Metadaten, die bereits im Bearbeitungsprozess in der Behörde angebracht, und Metadaten, die erst im Prozess der Archivierung – etwa zum Nachweis von Authentizität oder zur Dokumentation von Veränderungen – hinzugefügt werden.
In der analogen Welt befinden sich Metadaten herkömmlicherweise auf demselben Materialträger wie die primären Informationen: Ein Text kann dauerhaft mit seinen Metadaten in Beziehung gesetzt werden. Bei E-Akten ist diese enge Verbindung von Primär- und Metadaten nicht gegeben. Bereits während der behördlichen Sachbearbeitung sind Akten, Vorgänge und Dokumente mit ihren Kontextinformationen physisch nicht in einer gemeinsamen Datei enthalten. Stattdessen werden die kodierten Metadaten separat in der Datenbank abgelegt und in einem anderen Teilbereich des Bildschirms dargestellt. Auch im Archiv werden elektronische Akten, Vorgänge und Dokumente sowie ihre Metadaten zwar im unmittelbaren Überlieferungskontext gespeichert, aber in separaten Dateien und in unterschiedlichen Dateiformaten. Historikerinnen und Historiker der Zukunft werden die Primärdokumente einer Akte in der Regel als Textdokumente im PDF-Format vorfinden. Die Metadaten werden ihnen jedoch meist in einem sehr spezifischen XML-Format vorliegen. Bei der Interpretation von E-Akten müssen Nutzerinnen und Nutzer daher methodisch in der Lage sein, beide Ebenen zusammenzuführen, da sich der Gesamtzusammenhang der Akte nur aus der Kombination von Daten und Metadaten erschließt. Sofern es bei der Nutzung keinen passenden Viewer gibt, sollten sie darüber hinaus eine XML-Datei mit Metadaten lesen können, um die Binnenstruktur der Dokumente in Vorgängen und Akten sowie den Entstehungsprozess einer Akte nachzuvollziehen.
Zum richtigen Verständnis der E-Akte sind außerdem fundierte Kenntnisse des Entstehungszusammenhangs von Daten und Metadaten notwendig. Neben den manuell erfassten Metadaten (z.B. dem Aktenbetreff) protokolliert das System auch automatisch eine große Menge Metadaten, etwa über den genauen Ablauf der Bearbeitung und die daran beteiligten Personen. Prinzipiell lässt sich so viel präziser als in der Papierwelt nachvollziehen, wer zu welchem Zeitpunkt welche Handlung durchgeführt hat. Allerdings ist das Verständnis der verschiedenen Metadaten nicht immer einfach. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn die Historie automatisch protokolliert, dass ein Dokument »geöffnet« wurde? Ein entsprechender Eintrag kann in einem System möglicherweise bereits erfolgen, wenn bei der Bearbeitung absichtlich oder unbeabsichtigt auf ein Dokument in einer Listenansicht geklickt wird. Ist dabei der Dokumentviewer nicht geöffnet, hat der Bearbeiter oder die Bearbeiterin das Dokument weder gesehen noch gelesen. Ein Nachweis über die Kenntnisnahme durch eine bestimmte Person ist daher nur mittels eines bewussten Verwaltungsaktes in der Form eines manuellen Eintrages »Kenntnis genommen« als gesichert anzunehmen. Zwischen dem Metadatum »geöffnet« und der Kenntnisnahme besteht somit bei der Quelleninterpretation ein gravierender Unterschied.10
Für die künftigen Historischen Grundwissenschaften bleibt daher auch im digitalen Zeitalter die Fähigkeit wichtig, Metadaten der aktenführenden Stelle und des Archivs lesen und richtig interpretieren zu können, um Archivgut wissenschaftlich adäquat zu analysieren. Zentral sind dabei die neuen Herausforderungen, Metadaten überhaupt zu verstehen und sie in eine korrekte inhaltlich-strukturelle Beziehung zum Dokument zu setzen.
2. Implikationen des kontinuierlichen Wandels digitaler Quellen
These 2: Eine wissenschaftliche Interpretation digitaler archivalischer Quellen setzt nicht nur genaue Kenntnisse des Verwaltungshandelns voraus, sondern auch der Arbeitsprozesse im digitalen Archiv. Dies ist insofern besonders relevant, als sich das digitale Material – teilweise durch den bewussten Eingriff im Archiv – kontinuierlich verändert.
Das Grundproblem aller digitalen Quellen ist ihre Fragilität. In herkömmlichen Quellen sind Informationen in der Regel durch Sprache, Schrift oder bildhafte Zeichen verschlüsselt. Diese können auch variiert werden, zum Beispiel durch Abkürzungen oder Paraphen. Daneben gibt es besondere formale oder strukturelle Gestaltungsformen, die Informationen in sich tragen. Die Verschlüsselungssysteme sind jedoch relativ langlebig, die Verschlüsselungen selbst ändern sich nach ihrer Anwendung nicht mehr und können daher mit Kenntnissen der Historischen Grundwissenschaften langfristig verstanden werden.
Der Umgang mit digitalen archivalischen Quellen ist hier ungleich komplizierter. Die in ihnen enthaltenen Informationen sind nicht nur sprachlich, sondern vor allem technisch kodiert. Sie werden in komplexen IT-Systemen erzeugt und können ohne eine passgenaue Interpretationsumgebung nicht wieder menschlich lesbar gemacht werden. Diese Systeme sind zudem nicht über einen längeren Zeitraum hinweg stabil. Hardware, Betriebssysteme, Softwareprodukte und Dateitypen entwickeln sich ständig weiter, sodass gängige technische Interpretationsumgebungen in kurzer Zeit unbrauchbar werden können.
Der Gefahr des Informationsverlustes durch technischen Wandel begegnen die meisten Archive heute mit der Strategie der Datenmigration. Datenformate, von denen anzunehmen ist, dass sie kurz- oder mittelfristig obsolet werden, migriert man in Formate mit einer möglichst hohen Lebenserwartung. Drohen auch diese »langzeitstabilen« Formate zu veralten, muss der gesamte Datenbestand in ein entsprechendes neues Format überführt werden. Diese Strategie ist technisch wie organisatorisch aufwendig und nicht für alle in der Verwaltung vorkommenden Objektarten praktikabel. Zudem führt sie zwangsläufig zu einer inhaltlich relevanten Veränderung des Quellenbestandes.11 Jede Konvertierung von einem Dateiformat in ein anderes verändert bestimmte technisch bedingte Eigenschaften des archivierten Informationsobjektes.
Archivarinnen und Archivare müssen daher bereits frühzeitig festlegen, welche Eigenschaften eines digitalen Objektes konstitutiv für dessen inhaltlichen Wert als historische Quelle sind. Diese »signifikanten Eigenschaften« werden im Folgenden über alle Phasen der Formatwandlung (Migrationsstufen) hinweg erhalten, während andere Eigenschaften in der Zukunft möglicherweise verlorengehen können. Nimmt man beispielsweise an, dass ein farbig gestalteter und gegliederter Text im Word-Format in ein geeignetes Langzeitformat überführt werden soll, so ist zu entscheiden, ob die Farben, die maschinell auslesbare Gliederungsstruktur und/oder die Durchsuchbarkeit des Textes erhalten bleiben. Soll man darüber hinaus die Datei weiterhin bearbeiten können, oder reicht es, die rein textlichen Informationen als ungegliederte Abfolge von Buchstaben und Wörtern zu sichern? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt nicht nur die Entscheidung ab, welches Datenformat für die Migration gewählt werden muss. Sie beeinflusst auch in hohem Maße die Möglichkeiten der späteren Nutzung.
Archivarinnen und Archivare greifen somit im Zuge der notwendigen Arbeitsprozesse, insbesondere bei der Übernahme, zur Sicherung des dauerhaften Erhalts und bei der Bereitstellung zur Nutzung, nachhaltig in die Qualität des übernommenen Materials ein. Sie müssen daher ihre Entscheidungen und Kriterien, auch für die künftige Nutzung, transparent machen und Veränderungen dokumentieren. Wünschenswert wäre es zudem, wenn über diesen Bewertungsprozess im Dialog mit der Geschichtswissenschaft reflektiert würde – was bisher jedoch kaum geschieht.12
Tatsächlich wird das digitale Archivgut, das Historikerinnen und Historiker der Zukunft auszuwerten haben, ein Produkt aus technisch sehr komplexen Verwaltungsabläufen und archivischen Transformationsprozessen sein. Die Historischen Grundwissenschaften von morgen müssen daher beide Aspekte im Rahmen der Quellenkritik adäquat berücksichtigen.13
3. Gewährleistung vertrauenswürdiger, unversehrter
digitaler Quellen
These 3: Der Nachweis von Authentizität und Integrität einer Quelle erhält im digitalen Zeitalter eine neue Bedeutung und erfordert ein neues grundwissenschaftliches Instrumentarium.
Die Feststellung der Authentizität und Integrität von Quellen gehört zum klassischen Repertoire der Historischen Grundwissenschaften. Im digitalen Zeitalter erkennt man jedoch bereits in der Behörde die Urheberschaft eines Dokuments sowie nachträgliche Änderungen und Eingriffe nicht mehr an der manuellen Unterschrift oder einem eigenhändigen Vermerk mit Paraphe und Datum auf dem Text, sondern an entsprechend protokollierten Metadaten. Für den besonderen Nachweis der Authentizität und Integrität14 werden in der Verwaltung mitunter qualifizierte elektronische Signaturen eingesetzt, die auf dem Prinzip der asynchronen Datenverschlüsselung basieren. Dokumente, die qualifiziert signiert sind, haben einen besonderen Beweiswert vor Gericht, weswegen das Verfahren entsprechend gesetzlich geregelt und standardisiert ist.15 Diese elektronischen Signaturen werden als Beglaubigungsmittel im Archiv jedoch in der Regel nicht kurrent gehalten, sondern langfristig nur in den archivischen Metadaten dokumentiert. Das behördliche Datenformat, auf das sich eine Signatur bezogen hat, kann sich zudem im Zuge der notwendigen Bestandserhaltungsmaßnahmen ändern, sodass ein direkter Authentizitätsnachweis auf diesem Wege nicht mehr möglich ist.
Doch auch jenseits des Problems, den besonderen Beweiswert digital signierter Dokumente zu erhalten, gibt es bei der Archivierung genuin digitaler Unterlagen neue Herausforderungen hinsichtlich der Sicherstellung und Dokumentation von Datenintegrität. Anders als in der analogen Welt lässt sich ein digitales Objekt so manipulieren, dass die Veränderungen am Objekt selbst nicht nachvollzogen werden können. Die »Spuren«, die eine solche Manipulation hinterlässt, werden immer außerhalb des Objektes dokumentiert – in Metadaten, Protokolldateien, Dateisystemen, Sicherungskopien etc. Der Nachweis der Datenintegrität ist daher eine komplexe, technisch anspruchsvolle und für Nicht-Fachleute nicht unmittelbar nachvollziehbare Sache, aus der oftmals ein subjektiv begründetes Misstrauen digitalen Informationsobjekten gegenüber resultiert.
Diesem Misstrauen begegnet man im Archiv mit der Einrichtung und Offenlegung verschiedener technischer und organisatorischer Maßnahmen. Räumliche Sicherheitskonzepte und gestaffelte Rechtevergaben verhindern illegale Datenzugriffe, und die Datenspeicherung erfolgt mehrfach redundant und revisionssicher. Zudem wird der gesamte Prozess der Archivierung mit standardisierten Metadaten langfristig dokumentiert. Die geschichtswissenschaftliche Forschung der Zukunft wird gleichwohl genaue Kenntnisse der jeweiligen Methoden und technischen Standards in Verwaltung und Archiv benötigen, um besonders in Zweifelsfällen zu angemessenen Beurteilungen der Integrität digitaler Quellen zu gelangen.
Auch die Frage der Authentizität historischer Quellen stellt sich im digitalen Zeitalter neu. Damit ist nicht nur der Erhalt von Informationen über verschiedene technische Entwicklungsstadien hinweg gemeint, sondern auch die Formierung der archivischen Quellen im Übernahmeprozess. Denn anders als in der analogen Welt gibt es Fälle, in denen sich das digitale Archivale strukturell erst im Übergang von der Registratur zum Archiv konstituiert.16 Dies betrifft vor allem den Bereich der Fachverfahren. Wie dargestellt, bestehen sie aus einer Datenbank und einer – auch für Anwenderinnen und Anwender sichtbaren – Zugriffsschicht, über die die Befüllung der Tabellen und die Erstellung von Datenabfragen gesteuert werden. Im Rahmen der bisherigen Möglichkeiten können die Archive das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Software-Ebenen funktional nicht dauerhaft erhalten. Sie beschränken sich daher darauf, die Funktionen der Zugriffsschicht zu dokumentieren und die Informationen der Datenbank zu extrahieren.
Für diese Datenextraktion gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Optionen. Entweder wird eine Datenabfrage archiviert, die alle als archivwürdig betrachteten Datensätze erfasst. Oder man erzeugt ein komplettes Abbild der Datenbank in einem Austauschformat, das alle Tabellen und Verknüpfungen konserviert. Aus quellenkritischer Perspektive handelt es sich bei beiden archivischen Abbildungen um Objekte, die sich strukturell vom Ausgangsmaterial unterscheiden. Zwar verfälschen die im Übernahmeprozess erzeugten Datenbankabfragen das vorgefundene Material nicht inhaltlich, leiten jedoch die Nutzerinnen und Nutzer auf das vom Archiv bestimmte Hauptmerkmal der Abfrage hin. Archiviert man hingegen die komplette Datenbank, so lassen sich Abfragen und Verknüpfungen realisieren, die im Kontext des Fachverfahrens weder möglich noch vorgesehen waren. Die Archive sind sich der Authentizitätsproblematik durchaus bewusst. Angesichts der technischen, praktischen und konzeptionellen Grenzen des Bestandserhaltungsprinzips der Datenmigration gibt es derzeit jedoch keine Alternativen dazu, komplexe Informationseinheiten im Übernahmeprozess neu zu strukturieren. Die Vertrauenswürdigkeit dieses Archivguts kann hier nur durch eine möglichst vollständige Dokumentation des Archivierungsprozesses und eine transparente Darlegung der zugrundeliegenden Motive gewährleistet werden – und setzt zugleich voraus, dass Historikerinnen und Historiker um dieses Problem wissen.
Wollen die Historischen Grundwissenschaften ihren Anspruch aufrechterhalten, die »Echtheit« einer Quelle adäquat einzuschätzen, müssen sie ihr bisheriges Instrumentarium erweitern und laufend aktualisieren, da auch Verwaltung und Archiv ihre Methoden im Laufe der Zeit parallel zur Weiterentwicklung der Sicherheitstechnik verändern. Idealiter würde dieser Prozess im Dialog zwischen Archiv und Geschichtswissenschaft geschehen.
4. Ausblick: Genuin digitale Quellen kompetent auswerten
Auf dem 48. Deutschen Historikertag 2010 in Berlin beschäftigte sich eine maßgeblich von Archivarinnen und Archivaren gestaltete Sektion mit den neuen Anforderungen an eine archivalische Quellenkunde.17 Beim 51. Deutschen Historikertag 2016 in Hamburg veranstalteten VertreterInnen von Archiv, Bibliothek und Geschichtswissenschaft gemeinsam eine Podiumsdiskussion zu »Grundwissenschaften in der digitalen Welt«.18 Nahezu flankierend dazu erschien eine archivfachliche Veröffentlichung, die Beiträge zu Geschichte, Begrifflichkeit und einzelnen Arten zeitgenössischer Akten zusammenfasst.19 Nimmt man die einschlägige Sektion auf dem 52. Deutschen Historikertag 2018 in Münster hinzu, so stehen diese Schlaglichter stellvertretend für das beginnende Engagement, Beiträge zur künftigen Entwicklung einer Grundwissenschaft digitaler Quellen zu leisten. »Gespaltene Gesellschaften«, das Motto des Münsteraner Historikertages, sollte dabei auf die digitalen Perspektiven der Quellenkritik nicht länger zutreffen. HistorikerInnen und ArchivarInnen sollten sich gemeinsam bemühen, eine Grundwissenschaft genuin digitaler Quellen zu entwickeln. Nur so können die Quellen der Archive auch künftig als Basis der wissenschaftlichen Erforschung von Geschichte kompetent genutzt werden.
Anmerkungen:
1 So weisen Frank Bösch und Eva Schlotheuber in ihrem grundlegenden Diskussionsbeitrag eher exemplarisch auf die Herausforderungen hin, die Statistikdaten, audiovisuelle Medien, digitalisierte Massenmedien und »internationales« Material für die Grundwissenschaften darstellen. Vgl. Eva Schlotheuber/Frank Bösch, Quellenkritik im digitalen Zeitalter: Die Historischen Grundwissenschaften als zentrale Kompetenz der Geschichtswissenschaft und benachbarter Fächer, in: H-Soz-Kult, 16.11.2015.
2 Vgl. Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 331-351, v.a. S. 342-345.
3 Vgl. bereits Lorenz Friedrich Beck, Die Historischen Hilfswissenschaften im Informationszeitalter. Vom zeitlosen wie zeitgemäßen Nutzen des quellenkundlichen Instrumentariums für Archivar und Historiker, in: Friedrich Beck u.a. (Hg.), Archive und Gedächtnis. Festschrift Botho Brachmann, Potsdam 2005, S. 239-251.
4 Vgl. hierzu die Beiträge von Andrea Hänger und Andreas Fickers in dieser Sektion.
5 Eine alternative Klassifikation bietet Christian Keitel, Vorschläge zur gemeinsamen Klassifikation konventioneller und digitaler Archivalien, in: Holger Berwinkel/Robert Kretzschmar/Karsten Uhde (Hg.), Moderne Aktenkunde, Marburg 2016, S. 131-144.
6 Vgl. die Begriffsdefinition durch das Projekt »Terminologie der Archivwissenschaft« der Archivschule Marburg.
7 Vgl. zum möglicherweise fließenden Übergang zwischen E-Akte und unstrukturierten Daten Katharina Ernst, Welche Zukunft hat die Akte?, in: Monika Storm (Hg.), Transformation ins Digitale. 85. Deutscher Archivtag in Karlsruhe, Fulda 2017, S. 67-75; vgl. auch Kai Naumann/Michael Puchta (Hg.), Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Ausschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, München 2017.
8 Vgl. Gunnar Wendt/Sina Westphal, Eine Herausforderung des Übergangs. Fileablagen als Quellen der digitalen Überlieferungsbildung, in: Storm, Transformation ins Digitale (Anm. 7), S. 105-113.
9 Vgl. Annekathrin Miegel/Eva Rödel, Wege aus dem Daten-Dschungel. Bewertung und Übernahme großer Dateisammlungen, in: Klara Deecke/Ewald Grothe (Hg.), Massenakten – Massendaten. Rationalisierung und Automatisierung im Archiv. 87. Deutscher Archivtag in Wolfsburg, Fulda 2018, S. 27-36.
10 Für diesen Hinweis danken der Verfasser und die Verfasserin Sigrid Schieber und Annekathrin Miegel vom Digitalen Archiv Hessen des Hessischen Landesarchivs.
11 Vgl. Christoph Schmidt, Signifikante Eigenschaften und ihre Bedeutung für die Bewertung elektronischer Unterlagen, in: Katharina Tiemann (Hg.), Bewertung und Übernahme elektronischer Unterlagen – Business as usual? Beiträge des Expertenworkshops in Münster am 11. und 12. Juni 2013, Münster 2013, S. 20-29.
12 Christian Keitel hat bereits 2009 eine Diskussion mit Historikerinnen und Historikern angestoßen über die Entscheidung, welche Eigenschaften digitaler Archivalien künftig erhalten bleiben sollen: Über den Zusammenhang zwischen Quellenkritik und Informationserhalt. Ergebnisse der Anfrage »Forschen mit ›digitalen Quellen‹«, in: H-Soz-Kult, 24.9.2009. Vgl. auch Christian Keitel, Prozessgeborene Unterlagen. Anmerkungen zur Bildung, Wahrnehmung, Bewertung und Nutzung digitaler Überlieferung, in: Archivar 67 (2014), S. 278-285, v.a. S. 285.
13 Vgl. mit anderer Schwerpunktsetzung Rainer Hering, Digitale Welt – digitale Quellen. Herausforderungen für die historische Forschung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 147 (2011), S. 149-158, hier S. 151.
14 Unter Integrität wird in diesem Kontext die Unversehrtheit und Vollständigkeit von Informationen und Daten verstanden. Integre Daten wurden nicht unbemerkt zufällig oder böswillig verändert. Mit Authentizität ist hier die Identität zwischen Sein und behauptetem Sein gemeint. Eine authentische Information ist genau das, was sie zu sein vorgibt, z.B. dass ein vorliegender Text tatsächlich vom angegebenen Urheber und zum angegebenen Zeitpunkt erstellt wurde.
15 Für den EU-Bereich grundlegend ist die Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG (Amtsblatt der EU, L 257 vom 28.8.2014, S. 73-114).
16 Vgl. ähnlich Christian Keitel, Herausforderungen durch die digitale Welt, in: Berwinkel/Kretzschmar/Uhde, Moderne Aktenkunde (Anm. 5), S. 145-148, hier S. 147f.
17 Die Beiträge sind abgedruckt im 147. Band der Blätter für deutsche Landesgeschichte; vgl. insbesondere Robert Kretzschmar, Hilflose Historikerinnen und Historiker in Archiven? Zur Bedeutung einer zukünftigen archivalischen Quellenkunde für die universitäre Forschung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 147 (2011), S. 133-147. Vgl. zudem Karsten Uhde (Hg.), Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Beiträge zum 12. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg, Marburg 2009.
18 Die von Eva Schlotheuber und Clemens Rehm geleitete Sektion fand am 21.9.2016 statt. Weitere TeilnehmerInnen waren (in alphabetischer Reihenfolge) Robert Giel, Bettina Joergens, Christoph Mackert, Stefanie Menke, Andrea Stieldorf, Lena Vosding, Jürgen Wolf und Nicola Wurthmann. Siehe dazu den Bericht von Claudia Hefter, in: H-Soz-Kult, 12.11.2016.
19 Berwinkel/Kretzschmar/Uhde, Moderne Aktenkunde (Anm. 5).