Macht und Geschichte der Wörter

Dolf Sternbergers „Wörterbuch des Unmenschen“ als sprachkritisches Dokument der frühen Bundesrepublik

Anmerkungen

Dolf Sternberger/Gerhard Storz/Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg: Claassen 1957; mehrere Auflagen und Neuausgaben, zuletzt Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein 1989. Sofern nicht anders angegeben, folgen die Zitate der Erstausgabe.

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Die Diskursgeschichte, die sich im Zuge des linguistic turn auch in Deutschland recht erfolgreich etabliert hat,1 eröffnet vielschichtige Zugänge, die auch für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocaust wichtige Impulse zu geben vermögen. Dies gilt etwa für die Rolle von Homosexualitätsdiskursen in NS-Organisationen, für sprachliche Ausformungen genozidaler Gewalt und für narrative (Überlebens-)Strategien von Verfolgten.2 Besonders deutlich geworden sind die Verbindungen von sprachlichen Praktiken und Gewalt in der Diskussion über die 1995 veröffentlichten Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer (1881–1960) aus der NS-Zeit. Diese Tagebücher hatten Klemperer, der den Holocaust in Dresden überlebte, als Vorarbeiten seiner Studie zur Sprache des „Dritten Reiches“ gedient. In dieser bereits 1947 erstmals erschienenen Arbeit argumentierte Klemperer, dass „der Nazismus […] in Fleisch und Blut der Menge […] durch die Einzelworte, die Redewendungen“ übergegangen sei, die ein Großteil der Bevölkerung „mechanisch und unbewußt übernommen“ habe.3 Während Klemperers Studie gerade in den letzten 15 Jahren wieder verstärkte Beachtung gefunden hat, bleibt ihre bedeu-tendste westdeutsche Parallelarbeit heute auffällig unterbelichtet: das von Dolf Sternberger (1907–1989) federführend konzipierte „Wörterbuch des Unmenschen“.

Die Glossen Sternbergers und seiner Mitautoren, des Pädagogen und CDU-Kulturpolitikers Gerhard Storz (1898–1983) und des Schriftstellers Wilhelm E. Süskind (1901–1970), waren ursprünglich zwischen November 1945 und April 1948 in der neu lizensierten Monatszeitschrift „Die Wandlung“ erschienen. Als Herausgeber dieser Zeitschrift ordnete Sternberger die Glossen dezidiert in seine Intention ein, Beiträge zur kulturellen Erneuerung sowie zur sprachlichen und geistigen Entnazifizierung Deutschlands zu leisten. Die Sprache der NS-Zeit habe selbst grundlegend zum „Verderb“ der Menschen beigetragen. Wie es Sternberger im Vorwort zur ersten Glosse formulierte, das auch in die spätere Buchausgabe Eingang fand, müsse diese Sprache nun der deutschen Nachkriegsbevölkerung „fremd“ gemacht werden (S. 9).

Dabei reduzierten Sternberger und seine Mitautoren ihr Vorgehen auf eine Analyse einzelner Wörter; sie trennten etymologisch orientierte Worterklärungen von Benutzungen und semantischen Feldern. Die Erstauflage der Buchfassung von 1957 vereinigte 28 Wortglossen, die sich mit Substantiven wie „Betreuung“ und „Sektor“, Verben wie „durchführen“ und „organisieren“ sowie Adjektiven wie „charakterlich“ und „echt/einmalig“ auseinandersetzten. Im Gegensatz zu anderen, umfassenderen Wörterbucharbeiten aus dieser Zeit4 verzichteten die Autoren bewusst auf eine Untersuchung zentraler Begriffe der NS-Ideologie und speziell des Rassenantisemitismus. So wandte sich Sternberger gegen die von Süskind vorgeschlagene Aufnahme des Wortes „Volksgenosse“ und setzte stattdessen „Vertreter“ durch.5 Diese Orientierung erlaubte es den Verfassern, eher verborgene sprachliche Kontinuitätslinien vom NS-Deutschland bis weit in die junge Bundesrepublik hinein aufzuzeigen, in der die Verwendung von Zentralbegriffen der NS-Herrschaft und NS-Ideologie wie „Rassejude“ und „Volksgemeinschaft“ bald deutlich zurücktrat, andere nationalsozialistische Interpretamente aber nachwirkten. Sternbergers Buchfassung führt die Betonung komplexer Sprachkontinuitäten deutlich vor Augen. Gerade seine oftmals revidierten Beiträge aus der „Wandlung“ hoben das Erbe „totalitären Sprachgebrauchs“ in der Sprache „der Organisationen, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden“ hervor. „Der eine totale Unmensch“, so Sternberger, „lebt in tausend partikularen Unmenschlein fort.“ (S. 10, S. 116f.)

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Einerseits bleibt diese Auseinandersetzung mit dem Wiederauftreten von NS-Begriffen in Teilsprachen der deutschen Nachkriegsbevölkerung eine der herausragenden Leistungen des Glossenprojekts. Während es feinfühlige Beobachter der Alltagssprache wie Klemperer bei Hinweisen auf Kontinuitäten zu einer „Sprache des Vierten Reiches“ vor allem in der SBZ/DDR beließen, suchten Sternberger und seine Mitautoren solche Sprachelemente gerade im Kontext der entstehenden westdeutschen Demokratie exemplarisch herauszuarbeiten und ihre Leserschaft dafür zu sensibilisieren. Dieser Ansatz bietet auch heute noch ein nützliches Korrektiv gegen allzu rigide, politikgeschichtlich orientierte Epochenabgrenzungen.6

Andererseits aber gehört die Art und Weise, in der das Autorentrio diese Kontinuitätslinien herausarbeitete, zugleich zu den auffallendsten Schwächen des Buches. So führte der in der Auswahl der Begriffe weitgespannte Zugriff fast zwangsläufig zu dem resignierenden Resümee, das Sternberger wenige Jahre vor seinem Tod der Neuauflage voranstellte (Frankfurt a.M. 1986, S. 15): Die behandelten Wörter zeigten, so der Verfasser, eine „beharrliche Lebens-Energie“ und hätten in den vorangegangenen vier Jahrzehnten in vielen Fällen gar „eine fortgesetzte, sich noch steigernde epidemische Ausbreitung“ erfahren. So erschien ihm etwa die Verwendung des Wortes „Vertreter“ in „Vertreter von Handel, Industrie“ oder „Vertreter der Kirchen“ während der Adenauer-Jahre als eine Fortsetzung von NS-Propagandafloskeln wie „Vertreter von Partei, Staat und Wehrmacht“. Ein weiterhin namenloses „Vertretervolk“ bringe immer mehr „unmenschliche Vertreter“ hervor (1957, S. 122f.). Angesichts solch weitgefasster Kontinuitätskriterien muss fast jede Verwendung des Wortes „Vertreter“ als eine Fortführung von NS-Sprache gelten. Dabei hätten gerade die sich oft widersprechenden Bedeutungen der untersuchten Begriffe sowie ihre semantischen Neukonstituierungen eine weitreichende Analyse verdient, um den komplexen Sprachwirklichkeiten der Nachkriegszeit gerecht zu werden.

Das Vorgehen der Autoren weist direkt auf eine Reihe methodischer Probleme hin, die gerade von Kritikern aus der Linguistik während des „Sprachkritik-Streites“ der 1960er-Jahre wiederholt angeführt wurden.7 So bediente sich das Buch eines oft feuilletonistisch orientierten Modells von Sprachkritik; auf eine sozialgeschichtlich verankerte Analyse und systematische Sprachtheorie wurde verzichtet. Die Wortanalysen folgen wiederholt dualistischen und vereinfachenden Schemata von „gut“ und „böse“, die sich auch in der zentralen, fast mythischen Kategorie des „Unmenschen“ widerspiegeln. Selbst wenn die Kritik an Sternbergers „Wörterbuch“ mitunter ins Polemische umschlug und den Verfassern etwa eine mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sprachauffassung unterstellte, waren manche Kritikpunkte doch berechtigt – methodisch muss das Buch heute als überholt gelten.8 Dabei sollte indes nicht aus dem Blick geraten, wie hellsichtig die Autoren Fragen von Sprache, Gewalt und Macht vorgriffen, die die Forschung, auch in der Geschichtswissenschaft, bis heute beschäftigen.

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So sahen sich diskursanalytisch arbeitende Historiker in den 1990er-Jahren pauschal dem Vorwurf ausgesetzt, mit der Annahme einer allein sprachlich konstruierten Wirklichkeit Geschichte zu entstellen.9 Bereits Sternberger wandte sich gegen Vorhaltungen, einem verfälschenden Sprachmodell anzuhängen, demzufolge die Sprache – nicht aber der jeweilige Sprecher – allmächtig lüge und manipuliere. Mit seiner Entgegnung in der Buchauflage von 1968, „Wörter sind nicht unschuldig […], sondern die Schuld der Sprecher wächst der Sprache selber zu“ (S. 12), begann Sternberger eine differenziertere Position zu vertreten. Wie die Diskursgeschichte geht dieser Zugriff ebenfalls nicht von der Intention bestimmter Sprecher aus, sondern sieht deren Bewegungsfreiraum in andere Zusammenhänge eingebettet, die Diskursanalytiker heute als diskursive Muster und politisch-institutionelle Machtgefüge beschreiben.

Darüber hinaus liegt der Wert einer Re-Lektüre von Sternbergers Buch in seiner dokumentarischen Qualität; der Band gibt über weit mehr Auskunft als über das Thema der Sprachkontinuität. So sollte das Glossenprojekt auch als ein Appell an den Wissenschaftsbetrieb der Nachkriegsjahre gesehen werden, insbesondere an die Sprachwissenschaft, die sich einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle ihrer Exponenten im NS-Deutschland damals noch entzog. In seinen Ausführungen über „Kulturschaffende“ wies etwa Wilhelm E. Süskind direkt auf die Sprachwissenschaft hin, die „mit dem Vokabular des Unmenschen“ und seiner Analyse „nicht so recht Schritt“ halte (S. 58). Während sich bundesdeutsche Linguisten im Verlauf der 1960er-Jahre diesen Verflechtungen mit dem NS-Staat zu stellen begannen, prallten solche Impulse von anderen Disziplinen noch lange ab. Die Geschichtswissenschaft etwa nahm erst im „Historikerstreit“ der späten 1980er-Jahre und mehr noch in den Debatten um die im „Dritten Reich“ betriebene „Volksgeschichte“ später führender Sozialhistoriker Ende der 1990er-Jahre diese Herausforderungen an.

Zudem bietet das „Wörterbuch des Unmenschen“ zahlreiche Erkenntnismöglichkeiten über ein weiteres schwieriges geistesgeschichtliches Kapitel, das direkt mit der Tätigkeit der Verfasser während der NS-Diktatur verbunden ist. Sternberger, Süskind und Storz schrieben in dieser Zeit für die „Frankfurter Zeitung“, das einstige Aushängeschild der liberalen deutschen Presse, das die NS-Machthaber sukzessive in ihr Herrschaftskalkül integrierten. Sich selbst als Teil einer „inneren Emigration“ begreifend, sensibilisierten sich die Autoren für den Sprachgebrauch in der Diktatur, passten ihr eigenes Schreiben an und veröffentlichten, zunehmend verklausuliert, einige sprachkritische Beiträge. Gerade Sternberger, der aufgrund seiner Ehe mit einer deutschen Jüdin den Nationalsozialisten als „jüdisch versippt“ galt, war sich stets der Zensur und drohenden Entfernung aus der Redaktion bewusst. Diese Diktaturerfahrung und diese frühen Beiträge klingen in den späteren Wortglossen an und machen sie erst verständlich.10 Zu einer nachträglichen Auseinandersetzung des Autorentrios mit der fortschreitenden Nazifizierung der „Frankfurter Zeitung“ und deren Sprache im „Dritten Reich“, zu der sie bewusst und unbewusst beitragen mussten, kam es freilich nicht.

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Die weitreichende Rezeption und zeitgeschichtliche Relevanz von Sternbergers Projekt zeigte sich auch noch Ende der 1980er-Jahre, als der Journalist Rainer Jogschies einen Sammelband unter dem Titel „Aus dem neuen Wörterbuch des Unmenschen“ herausgab. Mit einem nun explizit linken politischen Selbstverständnis wollten die Verfasser gegen ein „begriffliches Vakuum“ anschreiben, das die „konservative Koalition“ unter Helmut Kohl mit „Wortleichen“ wie „Vaterland“, „Tugenden“ und „Leistung“ zu füllen begonnen habe.11

Insgesamt liefert das „Wörterbuch des Unmenschen“ trotz der aufgezeigten Probleme auch heute noch vielfältige Anknüpfungspunkte und Anregungen.12 Die im Rahmen der Reihe „Geschichtliche Grundbegriffe“ betriebene Forschung hat das 20. Jahrhundert kaum beleuchtet; dementsprechend wären konzeptionelle und inhaltliche Erweiterungen zu wünschen.13 Gerade diskursgeschichtlich orientierte Arbeiten könnten hier noch manches leisten und in der Behandlung der Zusammenhänge von Sprache, Diskursen und Gewalt ältere Ansätze fortführen. Dem „Wörterbuch des Unmenschen“ und seiner jahrzehntelangen Rezeptionsgeschichte käme dabei eine bedeutende Rolle zu.

Anmerkungen: 

1 Vgl. etwa Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2008.

2 Vgl. Sven Reichardt, Homosexualität und SA-Führer. Plädoyer für eine Diskursgeschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 737-740; Thomas Pegelow Kaplan, The Language of Nazi Genocide. Linguistic Violence and the Struggle of Germans of Jewish Ancestry, Cambridge 2009; Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“, Cambridge 1992.

3 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945, 2 Bde., hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 1995, und ders., LTI. Notizbuch eines Philologen [1947], 3. Aufl. Leipzig 1975, S. 26f., S. 256.

4 Vgl. z.B. Cornelia Berning, Vom „Abstammungsnachweis“ zum „Zuchtwart“. Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1964.

5 William J. Dodd, Jedes Wort wandelt die Welt. Dolf Sternbergers politische Sprachkritik, Göttingen 2007, S. 250f.

6 Vgl. zu den Kontinuitäten über 1945 hinweg etwa Y. Michal Bodemann, Mentalitäten des Verweilens, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Leben im Land der Täter. Juden im Nachkriegsdeutschland (1945–1952), Berlin 2001, S. 15-29.

7 Als Reaktion auf diese anhaltenden Debatten, in denen das „Wörterbuch“ ein stetiger Referenzpunkt für Kritiker blieb, fügte Sternberger den weiteren Auflagen eine Auswahl von Diskussionsbeiträgen hinzu. Vgl. Dolf Sternberger/Gerhard Storz/Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1968, S. 227-339.

8 So auch Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 317f.

9 Vgl. Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 55f.

10 Dodd, Jedes Wort (Anm. 5), S. 24f., S. 50. Vgl. auch Dolf Sternberger, Figuren der Fabel, Berlin 1950.

11 Rainer Jogschies (Hg.), Aus dem neuen Wörterbuch des Unmenschen, Frankfurt a.M. 1987, S. 10, S. 13.

12 Neuere sprachwissenschaftliche Arbeiten sehen dies auch für den Bereich der Sprachkritik. Vgl. etwa Mark Fiedler, Sprachkritik am öffentlichen Sprachgebrauch seit 1945. Gesamtüberblick und korpusgestützte Analyse zum „Wörterbuch des Unmenschen“, Lübeck 2005, S. 263f.

13 Vgl. die Debatte „Zeitgeschichte der Begriffe? Perspektiven einer Historischen Semantik des 20. Jahrhunderts“ in Heft 1/2010 dieser Zeitschrift.

Anm. der Red., 9.9.2024:
Zur Fortführung und Vertiefung der hier diskutierten Themen siehe insbesondere unser Heft Jüdische Sprachkritik nach dem Holocaust (2/2023), hg. von Nicolas Berg, Elisabeth Gallas und Aurélia Kalisky.

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