1. Amerikanische Dominanz – sowjetische Vielfalt
2. Ringen um die Zukunft:
Das Einheitssystem Elektronischer Rechenmaschinen
3. Startschwierigkeiten des Einheitssystems –
und sowjetisch-britische Kontaktversuche
4. Technologietransfer durch Spionage
5. Fazit
Vom „Ural-1“ wurden in den Jahren 1956 bis 1961 insgesamt 183 Exemplare produziert. Die Leistungsfähigkeit war um den Faktor 1.000 niedriger als diejenige des 1955 fertiggestellten schnellsten sowjetischen Computers „BĖSM“. Der „Ural-1“ war der erste sowjetische „Gebrauchsrechner“, der auch abseits der Spitzenforschung zum Einsatz kam – in kleineren Forschungseinrichtungen und industriellen Konstruktionsbüros (vorrangig für Ingenieursberechnungen).
(Wikimedia Commons, Foto von 2009; Panther, Ural-1 front view, CC BY-SA 3.0)
Es sind vor allem Bomben und Raketen, die die Wahrnehmung des technischen Wettlaufs zwischen den Supermächten USA und UdSSR geprägt haben. Nukleartechnik und Raumfahrt standen an vorderster Front dieser fast 50 Jahre andauernden Konfrontation. Begriffe wie Atom- und Wasserstoffbombe, Sputnik, Apollo-Projekt und SS-20-Mittelstreckenraketen wurden zu Chiffren des Kalten Kriegs. Computer erhielten keine ähnliche Aufmerksamkeit – weder in der Wahrnehmung der Zeitgenossen noch in der historischen Forschung. Zweifellos aber hat die Informationstechnik, die seit den 1950er-Jahren rasante Fortschritte erzielte, die Entwicklungen in den anderen Bereichen überhaupt erst ermöglicht. Computer waren die „Arbeitspferde“1 im Rüstungswettlauf der Supermächte.
Bereits in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre arbeiteten Erfinder in verschiedenen Staaten unabhängig voneinander an der Entwicklung von Rechenmaschinen, die die Spannungszustände elektrischen Stroms zur Darstellung von Zahlen nutzten. In den USA erhielten Wissenschaftler finanzielle Unterstützung aus dem Rüstungsetat und somit die Möglichkeit, Ideen umzusetzen, für die sich in Friedenszeiten nur schwer Finanziers gefunden hätten. Urahnen der heutigen Computer wie der englische Collossus und der amerikanische ENIAC entstanden im Rahmen kriegswichtiger Projekte. Vor allem amerikanische Entwickler übertrugen das technologische Know-how für eine kommerzielle Verwertung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den zivilen Bereich. Es waren staatliche Stellen und Rüstungsfirmen, die sich in den frühen 1950er-Jahren trotz hoher Kosten die neuen Computer leisteten und die junge Branche damit förderten. Eine Reihe von Firmen stieg in das Geschäft mit der neuen Technik ein, und der Computer wandelte sich im Laufe des Jahrzehnts vom hoch geheimen Rüstungsprojekt zur „business machine“.2 Die Firma International Business Machines (IBM) ließ in den USA das durch Rüstungsaufträge erworbene Wissen in zivile Entwicklungen einfließen und machte diese zum lohnenden Geschäft. Ende der 1950er-Jahre hatte IBM mehr Computer ausgeliefert als alle anderen Computerfirmen weltweit zusammen und erreichte einen US-Marktanteil von 70 Prozent. Der nach wie vor eng mit dem Militär und der Rüstungsindustrie verbundene Computersektor der USA war zu einem gigantischen Geschäft geworden, das zu Beginn der 1960er-Jahre als Quasi-Monopol von einer einzelnen Firma beherrscht wurde.3
Aus dieser Position heraus wagte IBM einen revolutionären Schritt. Die technologisch sehr verschiedenen Computermodelle wurden zugunsten einer Reihe kompatibler Computer unterschiedlicher Leistungsfähigkeit aufgegeben. Diese Reihe, die am 7. April 1964 unter dem programmatischen Namen „System /360“ öffentlich vorgestellt wurde – anspielend auf die allumfassenden 360 Grad des Kreiswinkels –, umfasste 6 Modelle, die in 19 verschiedenen Leistungsabstufungen geordert sowie mit 44 neuen Peripherie- und Speichergeräten gekoppelt werden konnten. Durch die Standardisierung der Ein-/Ausgabe-Schnittstellen konnten Peripheriegeräte an alle unterschiedlichen IBM System /360-Typen angebunden werden. Dank einheitlicher instruction sets der Prozessoren liefen Softwareprogramme, die für ein Modell der Reihe geschrieben worden waren, auch auf den anderen Modellen. Zudem konnten Programme, die für eines der älteren IBM-Modelle erstellt worden waren, auch für die neue Rechnerarchitektur verwendet werden. Das System /360 markierte mit dem Reihenkonzept den vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung der Computerindustrie von einer größtenteils staatlich finanzierten Hochtechnologieforschung hin zu einer zivilen Massenproduktion. Im Ergebnis gelang es IBM, seine ohnehin schon klare Dominanz noch weiter auszubauen – nicht nur in den USA, sondern weltweit.4
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„The war is industrial, and it’s major battle is over computers“ – so brachte 1967 der französische Journalist Jean-Jacques Servan-Schreiber die „amerikanische Herausforderung“ Westeuropas auf den Punkt.5 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) legte 1969 eine Studie vor, die in Bezug auf Computer zwischen Europa und den USA eine technologische Lücke (technology gap) konstatierte und speziell die Bedeutung des Reihenkonzepts von IBM hervorhob.6
Während dies schon den Verbündeten der Vereinigten Staaten Kopfzerbrechen bereitete, so war ein technologischer Rückstand in einer verteidigungsrelevanten Schlüsselindustrie für die Sowjetunion vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs erst recht nicht hinzunehmen. Mit dem größten Investitionsprojekt der sowjetischen Computerindustrie wandte sich die UdSSR am Ende der 1960er-Jahre erstmals von bisherigen eigenen Entwicklungslinien ab und begann sich im großen Stil an amerikanischer Technologie zu orientieren.
Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen die Konflikte um die Einführung des neuen Systems, das die sowjetische Computerindustrie grundlegend umstrukturierte. Die Debatte, die um die sowjetische Antwort auf die amerikanische Herausforderung entbrannte, kreiste nur vordergründig um technische Fragen; im Kern waren es Machtkämpfe zwischen der Zentrale und den lokalen Eliten. Während die ministeriale Verwaltungsbürokratie bemüht war, ihre unterschiedlichen Entwicklungs- und Produktionsstandorte auf eine zentrale Linie und Koordination zu verpflichten, versuchten lokale Verantwortliche, eigene Entwicklungslinien zu verteidigen und die konzeptionelle Unabhängigkeit ihrer Institutionen zu bewahren. Die Auseinandersetzungen erlauben nicht nur einen tiefen Einblick in die sowjetische Technikgeschichte, sondern ihre Analyse trägt auch zu einem besseren Verständnis sowjetischer Wirtschaftsplanung insgesamt bei.
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Sowohl in der westlichen wie auch in der russischsprachigen Historiographie stellt das Thema ein Forschungsdesiderat dar.7 Generell handelt es sich bei der historischen Forschung zu den technologischen Grundlagen der Informationsgesellschaft zum großen Teil um eine „maschinenfixierte Computergeschichtsschreibung“,8 die oft von früheren Protagonisten jener Geschichte betrieben wird. Diese Arbeiten sind wichtig, verlangen jedoch eine besondere quellenkritische Aufmerksamkeit. Solange sich kulturwissenschaftlich und diskurstheoretisch geschulte Historiker nicht an technische Themen herantrauen, werden stärker analytische Arbeiten weiterhin Randerscheinungen bleiben.
Der vorliegende Aufsatz basiert auf Materialien, die von ehemaligen osteuropäischen Computerentwicklern zusammengetragen und in Buchform sowie vor allem im Internet veröffentlicht worden sind. Portale wie das „Virtuelle Computermuseum“ von Ėduard Projdakov9 und das von Hanns-Georg Jungnickel betreute Dokumentationsprojekt zur Computerindustrie der DDR10 bieten eine Fülle an Informationen. Darüber hinaus habe ich in den Jahren 2009 und 2010 Interviews mit ehemaligen Computerentwicklern im ukrainischen Kiew und im sächsischen Tharandt geführt sowie Dokumente der amerikanischen Central Intelligence Agency (CIA) ausgewertet.11
1. Amerikanische Dominanz – sowjetische Vielfalt
Während IBM den amerikanischen und auch den Weltmarkt nahezu unangefochten dominierte, herrschte hinter dem Eisernen Vorhang ein kreatives Chaos. In den frühen 1940er-Jahren verfolgte die UdSSR keine ähnlichen Projekte wie ihre westlichen Alliierten. Auch in den ersten Nachkriegsjahren hatte die Entwicklung elektronischer Rechentechnik in der Sowjetunion keine Priorität. Die Planungen für den ersten Computer der UdSSR, der schließlich den Namen „Kleine Elektronische Rechenmaschine“ (MĖSM) erhielt, entsprangen einer Initiative von Ingenieuren des Kiewer Instituts für Elektrotechnik und fanden in deren Kommunalwohnungen statt. Da die Wissenschaftsadministratoren vom Nutzen der neuartigen Maschine meist nicht überzeugt waren, musste sich der Projektleiter Sergej Lebedev alle Räumlichkeiten, Elektronik und Baumaterialien angesichts von Kriegszerstörungen und Mangelwirtschaft mühsam erkämpfen. Der Gegensatz zu den Bedingungen, die zur selben Zeit in den Vereinigten Staaten herrschten, konnte kaum größer sein.12
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Das Kontrollpult der „Kleinen Elektronischen Rechenmaschine“, des ersten Computers der Sowjetunion. Unter der Leitung von Sergej Lebedev war dieser Rechner Ende der 1940er-Jahre in Kiew entwickelt worden.
(aus: Boris Malinovskij, Store Eternally, Kiew 2007, S. 38; mit freundlicher Genehmigung von Boris Malinovskij)
War MĖSM noch als „Bastlerprojekt“ behandelt worden, so hatten Nachfolgeprojekte dank engagierter Unterstützer auf der mittleren Entscheidungsebene und institutionellem Rückhalt deutlich geringere Akzeptanzprobleme. Die streng geheimen Programme wurden in akademischen Forschungsinstituten und industrienahen Sonderkonstruktionsbüros angesiedelt, die weitgehend isoliert voneinander arbeiteten. Im Ergebnis war der sowjetische Computersektor in den 1960er-Jahren stark fragmentiert. Mehrere Industrieministerien, im System der Planwirtschaft für die Administration ganzer Branchen zuständig, unterhielten ihre jeweils eigenen Konstruktionsbüros, Forschungsinstitute und Produktionsstätten. Aufgrund dieser Strukturen, die Abschottung und Kompetenzgerangel begünstigten, brachte die zersplitterte sowjetische Computerlandschaft bis Ende der 1960er-Jahre zahlreiche Insellösungen mit den verschiedensten technischen Spezifikationen hervor. Mehrere Entwicklerkollektive arbeiteten an einer ganzen Reihe unterschiedlicher Computertypen. Die am weitesten verbreiteten Rechner, die auch im zivilen Bereich zur Anwendung kamen, waren jene der Produktfamilie BĖSM in Moskau,13 die Minsk-Serie des Computerwerks in der belorussischen Hauptstadt und die Ural-Rechner aus Penza.
Die Entwicklerteams dieser Universalrechner folgten ihren jeweils eigenen technischen Vorstellungen. Eine Kombination von Maschinen aus unterschiedlichen Baureihen war nicht vorgesehen und nur mit großem Aufwand möglich. Da die Maschinen für die Kodierung von Datenwörtern keine einheitlichen Bit-Längen verwendeten, wurde die Übertragung von Software erschwert. Selbst der Austausch von Nutzdaten war nur schwer möglich, da standardisierte Kodierungen fehlten. Auch Peripheriegeräte waren nicht austauschbar: Speichersysteme oder Eingabeterminals eines BĖSM zum Beispiel ließen sich an einem Ural-Rechner nicht nutzen. Diese Einschränkungen trafen indes auch auf Rechner innerhalb einer Serie zu. Weiterentwicklungen erforderten in der Regel neue Software und neue Peripherie-Geräte.
Die Produktionszahlen waren anfangs gering und blieben hinter denen westlicher Hersteller weit zurück. Lange herrschte die Laborfertigung in Kleinserien vor; viele Entwicklungen kamen über Prototypen nie hinaus. Erst mit dem Ausbau der Rechentechnik seit dem Ende der 1950er-Jahre begann die Computerproduktion in der Sowjetunion industrielle Maßstäbe anzunehmen. In der Folge erreichte man sowohl in Penza als auch in Minsk dreistellige Produktionszahlen über die gesamte Herstellungsdauer einzelner Maschinen. Doch erst mit dem Modell Minsk-32 setzte eine echte Massenproduktion ein: Die 2.889 Maschinen, die zwischen 1968 und 1975 in der Hauptstadt der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik vom Band liefen, bildeten zusammen mit ihren Vorläufermodellen 70 Prozent des Geräte-Gesamtbestands in sowjetischen Rechenzentren.14 Diese Zahlen nahmen sich, verglichen mit der amerikanischen Seite, indes eher bescheiden aus: Allein das erfolgreichste IBM-Modell der frühen 1960er-Jahre wurde über 10.000-mal gebaut.15
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Grafische Darstellung einer Minsk-32-Installation, des ersten in Massenproduktion hergestellten sowjetischen Computers
(aus: Viktor M. Gluškov [Hg.], Ėnciklopedija kibernetiki [Enzyklopädie der Kybernetik], Bd. 1, Kiew 1974, S. 605)
Der Rückstand in Bezug auf die Hardware ging mit jenem im Bereich der Software einher. Während im Westen Computer mit immer umfangreicheren Softwarebibliotheken ausgeliefert wurden, blieb in der UdSSR Programmierung bis zum Ende der 1960er-Jahre die Angelegenheit der Anwender und einiger weniger Institute der Akademie der Wissenschaften. So wurde die Rechnerfamilie Ural weitgehend ohne Software ausgeliefert, und beim Hersteller in Penza waren lediglich 50 Personen mit Software-Entwicklung befasst. Fortgeschrittene Programmiertechniken, die den mühsamen und fehlerträchtigen Prozess der Programmerstellung vereinfachten, hielten nur langsam Einzug. Die begrenzten Speicherkapazitäten und die mangelhaften Ein-/Ausgabegeräte sowjetischer Computer verhinderten den Einsatz von Hochsprachen, die der Software-Entwicklung in den USA und in Westeuropa ab Mitte der 1950er-Jahre einen Produktivitätssprung beschert hatten.16 Die schwer überschaubare Vielzahl unterschiedlicher Hardware-Plattformen, zwischen denen Programme nicht austauschbar waren, trug darüber hinaus wesentlich dazu bei, dass das Software-Angebot beschränkt blieb.
Der Aufbau der Computerindustrie erfolgte in einer Zeit, als mit Reformen und Gegenreformen die Verwaltung von Betrieben und ganzen Industrien wiederholt umorganisiert wurde. Dies bremste die Dynamik des neuen Industriezweigs ebenso wie diejenige schon länger bestehender Branchen.17 Die enge Verknüpfung mit dem Rüstungssektor führte anders als in den USA nicht zur Technologieübertragung in die zivile Wirtschaft. Die strenge Geheimhaltung, der die sowjetischen Projekte oft unterlagen, isolierte stattdessen die vielen institutionellen Akteure voneinander. Im Vergleich zu den USA verfügte die Sowjetunion in den 1960er-Jahren über wenige Computer, die in ihrer Mehrzahl leistungsschwach waren und deren Nutzung durch ein geringes Angebot an Software und Peripheriegeräten erschwert wurde.
2. Ringen um die Zukunft:
Das Einheitssystem Elektronischer Rechenmaschinen
Knapp ein Jahr nach der Inbetriebnahme der ersten IBM System /360-Installationen in den USA versuchte Moskau ab 1965 eine Neuordnung der sowjetischen Computerindustrie. Mit dem Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR „Über die Verbesserung der Arbeitsorganisation bei der Schaffung und Einführung von Mitteln der Rechentechnik und automatischer Steuerungssysteme in der Volkswirtschaft“ vom 6. März 1966 sollten die Computerindustrie ausgebaut und die Verantwortlichkeiten maßgeblicher Institutionen voneinander abgegrenzt werden.
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Die „Analyse des Niveaus der in- und ausländischen Rechentechnik“ sowie die Erarbeitung von Strategien für künftige Entwicklungen wurden an das Staatliche Komitee für Wissenschaft und Technik des Ministerrats delegiert. Unter dessen Führung diskutierten Fachleute aus Ministerien und Forschungseinrichtungen die Ausrichtung der heimischen Computerindustrie. Im Mittelpunkt stand ein 1966 vom Ministerium für Radioindustrie initiiertes Vorab-Projekt mit dem Codenamen rjad (dt.: Reihe) zur „Ausarbeitung eines Komplexes typisierter, hochgradig zuverlässiger Informations- und Rechenmaschinen mit einer Leistungsbandbreite von 10.000 bis zu 1 Million Operationen pro Sekunde, basierend auf einer einheitlichen strukturellen und mikroelektronischen Basis und kompatibler Programmiersysteme für Rechenzentren und automatische Datenverarbeitungssysteme“.18 Ab 1967 firmierte dieses Projekt unter der offiziellen Bezeichnung „Einheitssystem Elektronischer Rechenmaschinen“ (ES ĖVM).19
Mit dem Einheitssystem sollte ein Paradigmenwechsel von oben initiiert werden. Wirtschaftsplaner hatten die Zersplitterung des sowjetischen Computersektors erkannt; Industriestandorte sollten zukünftig zusammengefasst, Produktionsketten vereinheitlicht und Entwicklungsleistungen gebündelt werden. Diesem Großprojekt gingen jedoch jahrelange Debatten voraus. Schon in der Frühphase stieß es auf den erbitterten Widerstand lokaler Entscheidungsträger, der sich vor allem an technischen Fragen kristallisierte.
Unter den Computerexperten war es weitgehend Konsens, dass die Sowjetunion dringend eine eigene Reihe kompatibler Computer benötigte. Im Vordergrund stand die Frage, an welcher Computerarchitektur sich die Entwickler künftig orientieren sollten. Hintergrund der Auseinandersetzungen waren aber vor allem die Interessen der bis dahin weitgehend eigenständig agierenden Entwicklungsinstitutionen, die sich auf eine Zusammenarbeit unter zentraler Lenkung nicht ohne weiteres einlassen mochten. So stießen die Beamten im Ministerium für Radioindustrie schon im Rahmen eines Vorprojekts auf das ausgeprägte Desinteresse der von ihnen konsultierten Einrichtungen. Deren Direktoren vertraten als Computeringenieure einen eigenen Standpunkt in der Debatte um die rjad. Sie hatten es nicht eilig, eigene Entwicklungslinien aufzugeben, die sie viele Jahre lang gepflegt hatten. In der Planungsphase war es deshalb außerordentlich schwierig, etablierte Experten für das größte Computerprojekt der Sowjetunion zu begeistern.
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So beantwortete der schon erwähnte Sergej Lebedev, Direktor des führenden Rechentechnikinstituts unter dem Dach des Ministeriums für Radioindustrie, dem ITMiVT,20 die Anfrage zur Ausarbeitung des rjad-Projekts 1966 mit einer lapidaren Absage. In seiner Stellungnahme bezweifelte er ungeachtet der Erfolge des IBM Systems /360 die technische Realisierbarkeit und den Nutzen einer kompatiblen Computerreihe; er konzentrierte sich weiterhin auf die von seinem Institut entwickelten BĖSM-Computer. „Und wir machen etwas, das aus dieser Reihe fällt!“ – Mit diesem Wortspiel kommentierte Lebedev seine Weigerung, an der rjad maßgeblich mitzuwirken.21 Offenbar konnte sich der Computer-Pionier, der sich damit gegen die ihm übergeordnete Ministerialbürokratie stellte, der Protektion seiner militärischen Auftraggeber gewiss sein. Das von ihm geführte Institut, das sich auch künftig am Großprojekt rjad nicht beteiligte, blieb in der Nische der Entwicklung von Hochleistungsrechnern für Spitzenforschung und Rüstung über Jahrzehnte hinweg unangefochten. Auch andere Einrichtungen wie das vom Ministerium für Radioindustrie für die Entwicklung von Peripheriegeräten vorgesehene Wissenschaftliche Forschungsinstitut für Rechenanalyse- und mathematische Maschinen22 aus Moskau oder die Computerinstitute in der Stadt Penza zeigten nur mäßiges Interesse am Projekt einer kompatiblen Reihe.
Während sich viele führende Computerentwickler der Zusammenarbeit verweigerten, legten sich zentrale Beratungsgremien dennoch fest. Anfang 1967 wurde in einer gemeinsamen Sitzung der Kommission für Rechentechnik der Akademie der Wissenschaften und des Rats für Rechentechnik des Staatlichen Komitees beim Ministerrat der UdSSR das IBM System /360 als Vorbild für die rjad beschlossen. Für die direkte Orientierung an den amerikanischen Computern sprachen deren beispielloser internationaler Erfolg und nicht zuletzt die Verfügbarkeit von Software. Angesichts der bis dahin bescheidenen sowjetischen Ausstattung mit Standardsoftware und der Tatsache, dass die Erstellung von immer umfangreicheren Programmen mit einer steigenden Komplexität im Entwicklungsprozess einhergehen würde, hoben die sowjetischen Befürworter der IBM-Option hervor, dass die im Westen vorhandene reiche Auswahl an System- und Anwendungsprogrammen genutzt werden könne. An ein eigenes, auch nur annähernd so umfangreiches Software-Spektrum war wegen des Zustands der sowjetischen Programmierlandschaft nicht zu denken. Ausbildungszentren für Software-Entwickler mussten erst noch geschaffen werden. Dieser Fachkräftemangel war den führenden Programmierern bewusst, als sie für den Nachbau der IBM-Maschinen eintraten.23
Pläne für eine Reihe kompatibler Rechner hatte es in der Sowjetunion schon früher gegeben. Im Juni 1961 startete ein Pilotprojekt zur Weiterentwicklung der Ural-Serie des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Steuerungsrechenmaschinen (NIIUVM) in Penza,24 in dessen Verlauf der Computerentwickler Bašir I. Rameev grundlegende Ideen für eine technische Vereinheitlichung sowjetischer Rechner skizzierte. Er entwarf eine Reihe kompatibler Maschinen, die durch die universelle Austauschbarkeit und Kombination der einzelnen Rechner ausländischen Fabrikaten ebenbürtig sein sollte. Am 23. April 1963 – also noch vor der Vorstellung des IBM Systems /360 – verschickte Rameevs Institut das Papier an eine Handvoll Experten aus dem Einflussbereich der Radioindustrie-Verwaltung. Schon Ende Mai genehmigte das Staatskomitee des Ministerrats der UdSSR für Radioelektronik die Herstellung der einheitlichen Ural-Reihe. Doch entgegen den Vorstellungen Rameevs blieb diese im Wesentlichen auf Penza konzentriert; zu einer Ausweitung auf andere wichtige Standorte der sowjetischen Computerindustrie kam es nicht.
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M.K. Sulim, der Leiter der Hauptverwaltung Rechentechnik des Komitees, bemühte sich vergeblich darum, auf höheren Ebenen Unterstützung zu erhalten für Rameevs Ideen; dies blieb im Sumpf der bürokratischen Strukturen stecken. Auf Anfragen, die an die Volkswirtschaftsräte der Unionsrepubliken gesandt wurden – und an die Standorte der Computerindustrie in Minsk und Erevan gerichtet waren –, kam keine Antwort. Schon zuvor hatte der Besuch eines leitenden Minsker Entwicklers in Penza nicht zur Zusammenarbeit und erst recht nicht zur Adaption von Rameevs Ideen geführt. So berichtet ein damaliger Mitarbeiter des Instituts in Penza: „V.V. Pržijalkovskij aus Minsk traf sich mit B.I. Rameev wegen technischer Aufgaben in Bezug auf die Maschine ,Minsk-2‘, aber leider wurde keine Entscheidung über die Vereinigung der Kräfte unserer Einrichtungen zur gemeinsamen Entwicklung von Maschinen getroffen.“25 Auch zu einer Zusammenarbeit mit Sergej Lebedev, der sich in Penza über die Fortschritte der Ural-Entwicklung informiert hatte und zu dessen Moskauer Institut enge Arbeitsbeziehungen bestanden, kam es nicht.
Ausgebootet: Der bis 1974 hergestellte Ural-14 gehörte zu der von Bašir I. Rameev konzipierten Reihe kompatibler Computer, die wegen der Orientierung des „Einheitssystems Elektronischer Rechenmaschinen“ (ES ĖVM) an IBM nicht mehr weiterentwickelt wurde.
(http://www.computer-museum.ru/images/histussr/ural14.jpg)
Als einige Jahre später im Ministerium für Radioindustrie das Projekt rjad ausgearbeitet und von Ministerrat und ZK beschlossen wurde, wähnte sich das Kollektiv der Ural-Entwickler am Ziel. Mit den zwei schon in Serienproduktion befindlichen, untereinander kompatiblen Rechnern Ural-11 und Ural-14 konnten sie auf erste praktische Erfahrungen bei der Konstruktion einer Reihe verweisen. Allerdings fanden diese Ideen außerhalb Penzas auch jetzt nur wenig Aufmerksamkeit. Enttäuscht wandten sich die Ural-Entwickler im Oktober 1967 gemeinsam an das Ministerium für Radioindustrie, um erneut für die eigenen, sowjetischen Computer zu werben und gegen die IBM-Reihe Stimmung zu machen. Sie argumentierten, dass das IBM System /360 als Entwicklung der frühen 1960er-Jahre nun schon veraltet sei – verschwiegen jedoch, das die Ural-Reihe in jeder Hinsicht weit hinter der amerikanischen Konkurrenz rangierte.26
3. Startschwierigkeiten des Einheitssystems – und sowjetisch-britische Kontaktversuche
Angesichts der vielen Widerstände hatte das zentrale sowjetische Computerprogramm einen schweren Start. Zwar erfolgte am 18. März 1968 die Gründung des Wissenschaftlichen Forschungszentrums für elektronische Rechentechnik (NICĖVT) als Dachorganisation für die Entwicklung und Herstellung des Einheitssystems Elektronischer Rechenmaschinen. Doch fehlte es zu Beginn an allem, was eine effektive Arbeit ermöglicht hätte: erfahrenen Mitarbeitern, Büroräumen, Technik, Labor- und Archivkapazitäten. Zudem wies die Führungsmannschaft noch zahlreiche Lücken auf. Mehrere hundert Mitarbeiter des Moskauer Konstruktionsbüros für industrielle Automatisierung (KBPA)27 wurden mit einem ministeriellen Erlass vom 1. Juli 1968 in die neue Organisation überführt, und bis Ende 1968 wurde das Personal noch einmal um 400 Mitarbeiter aufgestockt.28 Doch die Belegschaft des Forschungszentrums, das sich auf mehrere Standorte im Moskauer Stadtgebiet verteilte, bestand überwiegend aus jungen Absolventen, die direkt von den Moskauer Universitäten engagiert worden waren und keinerlei Berufserfahrung vorweisen konnten. Innerhalb des Zentrums war das Verständnis für die industrielle Fertigung von Computern daher noch weniger ausgeprägt als in den akademischen Forschungsinstituten, die zumindest Erfahrungen mit der Herstellung von Prototypen besaßen.29
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Noch 1968 wurde der Ural-Chefentwickler Rameev auf einen der Chefsessel für die Entwicklung des Einheitssystems ans NICĖVT berufen. Dies war der Versuch, das Entwicklungs- und Fertigungs-Know-how aus Penza für die geplante Computerreihe doch noch nutzbar zu machen. Allerdings verwandte Rameev auch seinen neuen Moskauer Posten dafür, die IBM-Orientierung für die rjad weiter zu torpedieren – nun trat er für eine Zusammenarbeit mit der britischen ICL ein (International Computers Limited).30 Nach Aussage von Boris Malinovskij, einem Kiewer Computerentwickler und späteren Chronisten des sowjetischen Computerbaus, handelte es sich bei der geplanten Kooperation um „a proposal by ICL, the British computer company, and it was supposed that this mutual effort would help Europe outstrip the United States in the field of fourth generation computers“.31
Ein sowjetisch-britisches, gegen die USA gerichtetes Projekt entspricht wohl eher dem Wunschdenken des Autors als der politischen Realität im Kalten Krieg. Allerdings bemühte sich die Firma ICL tatsächlich darum, mit der Sowjetunion ins Geschäft zu kommen. Da wirtschaftliche Kontakte im Hochtechnologiebereich während des Kalten Kriegs durch das Embargo des Koordinationsausschusses für mehrseitige Ausfuhrkontrollen (CoCom) empfindlich eingeschränkt waren, musste für den Export von Computersystemen in Staaten des Ostblocks in der Regel eine Ausnahmegenehmigung eingeholt werden.32 Diese Genehmigungen konnten zum Gegenstand diplomatischer Verhandlungen zwischen den westlichen Verbündeten werden. Hochrangige britische Vertreter bis hin zum Premierminister bemühten sich darum, in den USA Ausfuhrgenehmigungen für ICL-Rechner in die UdSSR zu erwirken.33 Schließlich warben die Briten im Juli 1968 bei den Amerikanern um deren Zustimmung für einen Technologieexport, der die Sowjetunion in die Lage versetzen sollte, Modelle der ICL System-4-Reihe nachzubauen.34 Diese Reihe beruhte auf Patenten des amerikanischen Herstellers RCA und wies große Ähnlichkeiten mit dessen Spectra 70-Computern auf, die die Software der IBM System /360-Rechner ausführen konnten. Die Entwicklung des System-4 hatte die Firma English Electric derart überfordert, dass sie – finanziell weitgehend ruiniert – dem staatlichen Druck nachgegeben hatte und mit der Firma International Computers and Tabulators (ICT) zu ICL fusioniert war.35
Dem Versilbern von Entwicklungs-Know-how hinter dem Eisernen Vorhang schob Washington laut CIA-Unterlagen jedoch einen Riegel vor: „The US opposed the sale on the grounds that the acquisition of Western state-of-the-art computer production technology would facilitate Soviet production of computers which could have both military and civilian applications. The British subsequently withdrew their proposal.“36 Malinovskij irrte, als er das Scheitern der Verhandlungen der sowjetischen Führung zuschrieb: „Prominent USSR computer scientists approved this idea, but in 1970, the government of the USSR decided to stop contacts with ICL and to take the American IBM-360 system (without USA permission) as an industry model. It was [a] huge mistake with dramatic consequences.“37 Vielmehr waren die amerikanischen Behörden nicht gewillt, der Systemkonkurrenz dabei behilflich zu sein, den Technologierückstand zu verringern. Der Ausgang der Gespräche mit ICL hatte der sowjetischen Seite deutlich gemacht, dass Kooperationen mit Firmen aus den westeuropäischen NATO-Staaten immer auch vom Wohlwollen der USA abhängig waren, die insbesondere bei versuchten Transfers von „dual-use“-Technologien in die UdSSR ihren Einfluss geltend machten. Mit der Erteilung von Lizenzen zum Nachbau von IBM-Computern war freilich ebenso wenig zu rechnen. Von einer Firma wie IBM, die eng mit dem Militärisch-Industriellen Komplex der USA verflochten war, hatten die Verantwortlichen in der Sowjetunion nichts zu erwarten.
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Das IBM System /360, seit 1964 auf dem Markt, wurde zum maßgeblichen Vorbild in Ost und West. Das Foto zeigt ein Modell dieser Reihe, das Ende der 1960er-Jahre bei der NASA im Einsatz war.
(Wikimedia Commons; NASA/Public Domain)
4. Technologietransfer durch Spionage
Dass sich die UdSSR die IBM System /360-Architektur letztlich doch als Vorbild nahm, hing damit zusammen, dass diese Technologie in der DDR bereits erfolgreich adaptiert worden war. Ab 1966 konnten die ostdeutschen Computerentwickler auf Informationen aus IBM-Niederlassungen zurückgreifen: Bereitgestellt wurden diese vom Sektor Wissenschaft und Technik der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit. Wie frühere Mitarbeiter berichten, war es dem DDR-Auslandsgeheimdienst unter seinem Chef Markus Wolf gelungen, „Mitte der 60er Jahre im führenden EDV-Unternehmen der Welt [...] eine Quelle an einer für die EDV-Entwicklung entscheidenden Position zu schaffen. Dadurch war es möglich, daß ab 1966 über viele Jahre hinweg Entwicklungsdokumente von IBM unmittelbar nach ihrer Verfügbarkeit in die DDR gelangten und für die Eigenentwicklung ausgewertet und aufbereitet werden konnten.“38
Der Informationsfluss hatte mit Dokumentationen über das IBM System /360 begonnen. Die Auswertung des Materials, das die im Geheimdienstjargon als „Kundschafter“ bezeichneten Industriespione nach Ost-Berlin sandten, trug nicht unwesentlich zu den Fortschritten in den Entwicklungszentren des Kombinats Robotron beim Nachbau des IBM Systems /360 bei. Allerdings reichte der Zugriff auf die Herstellerdokumentation nicht aus, um die komplexe Computerhardware genau zu kopieren. Dies war auch nicht das Ziel der ostdeutschen Ingenieure, die mit einem ganz anderen Vorrat an Bauteilen auskommen mussten als die IBM-Entwickler. Vielmehr sollte die eigene Maschine dazu in der Lage sein, Software auszuführen, die für das IBM System /360 erstellt worden war. Westliche Computerproduzenten wie RCA oder English Electric hatten diesen Weg der IBM-Kompatibilität ebenfalls beschritten.39 Im Laufe des Jahres 1968 besuchten mehrere hochrangige sowjetische Funktionäre aus dem Umfeld des Ministeriums für Radioindustrie die sächsischen Betriebe. Nach zähen Verhandlungen um die Arbeitsteilung wurde am 22. Dezember 1968 in einem bilateralen Abkommen zwischen der Sowjetunion und der DDR schließlich festgehalten: „Beide Seiten schaffen in den Jahren 1971–1973 ein einheitliches System der elektronischen Datenverarbeitungstechnik.“40
Das als Leitinstitut vorgesehene Moskauer NICĖVT war zunächst freilich nicht in der Lage, die Arbeit zwischen den Partnern in Moskau, Minsk, Erevan und nun auch noch in der DDR zu koordinieren. Erst hohe Entscheidungsträger aus der Führungsebene des sowjetischen Militärisch-Industriellen Komplexes schafften es, eine Dachorganisation für die Herstellung der neuen Computerreihe zu etablieren. Der Leiter der Abteilung für die Rüstungsindustrie im ZK-Sekretariat, I.D. Serbin, und der stellvertretende Vorsitzende der Kommission für militärisch-industrielle Fragen des Präsidiums des Ministerrats, L.I. Gorškov, vollbrachten schließlich, was dem Ministerium für Radioindustrie allein nicht gelungen war.41 Unter ihrer direkten Kontrolle wurde das Wissenschaftliche Forschungszentrum für elektronische Rechentechnik zu einer leistungsfähigen Institution ausgebaut – indem das KBPA, das sich bislang vollständig auf die Entwicklung von Computertechnik für den militärischen Einsatz konzentriert hatte, kurzerhand komplett in das neue Zentrum integriert wurde. Die Interventionen von Serbin und Gorškov verdeutlichten einmal mehr, welche Relevanz der Computerindustrie und insbesondere dem Einheitssystem Elektronischer Rechenmaschinen für die nationale Sicherheit auf höchster Ebene beigemessen wurde. Nach einer Neustrukturierung von 1969 stellte das Forschungszentrum einen um die zivile Computer-Entwicklung ergänzten Rüstungsbetrieb dar. Von den drei Hauptabteilungen, denen weitere Unterabteilungen zuarbeiteten, waren zwei ausschließlich mit Rüstung befasst.42 Anders als in den USA galt die Entwicklung von Computern in der Sowjetunion weiterhin vorrangig als Aufgabe der Landesverteidigung.
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Das Produkt einer grenzüberschreitenden sozialistischen Zusammenarbeit: ein ab 1977 in Minsk produzierter Computer vom Typ EC-1035 – ein Modell der zweiten Generation des Einheitssystems. Dieses Bild von 1981 zeigt eine Verwendung in der DDR, im VEB Bergbau- und Hüttenkombinat „Albert Funk“ Freiberg.
(Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden [SLUB]/Deutsche Fotothek, Foto: Eugen Nosko; Wikimedia Commons, Fotothek df n-11 0000385, CC BY-SA 3.0 DE)
Die wissenschaftliche Debatte um das Einheitssystem war zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht abgeschlossen, ungeachtet der starken Unterstützung für das NICĖVT aus der Führung des Rüstungssektors und der Einbindung weiterer RGW-Staaten in das Projekt. Die DDR-Spitze – vertreten durch Günther Kleiber, den damaligen Staatssekretär für Datenverarbeitung und Kandidaten des Politbüros des ZK der SED – schaltete sich schließlich in die Debatte der sowjetischen Experten um eine Referenzarchitektur für das ES ĖVM ein. Die Verantwortlichen von Robotron machten ihren sowjetischen Kollegen ein weitreichendes Angebot, indem sie Arbeitsergebnisse für die Adaption von IBM-Technologie präsentierten.43 Mit den Prototyp-Unterlagen, die die „Kundschafter“ illegal beschafft hatten, lieferten die Ostdeutschen wertvolle Argumente zugunsten der IBM-Option. Der Chef des Moskauer NICĖVT, zugleich Generalkonstrukteur des Einheitssystems in den multilateralen Gremien, setzte in einer Sitzung der aus allen beteiligten Staaten entsandten Chefkonstrukteure im April 1969 mit Verweis auf die Vorarbeiten in der DDR das IBM System /360 als Referenzarchitektur für das Einheitssystem durch – gegen den Willen der Vertreter Bulgariens, Ungarns, Polens und der ČSSR.44
Am 18. Dezember 1969 beendeten der Minister für Radioindustrie Valerij D. Kalmykov und der Akademiepräsident Mstislav V. Keldyš, einmal mehr unter Aufsicht des Rüstungsfunktionärs L.I. Gorškov, mit einer gemeinsamen Entscheidung schließlich auch die innersowjetische Debatte um das Einheitssystem Elektronischer Rechenmaschinen. „Wir werden uns nicht auf ICL umorientieren. Wir werden bei den Deutschen anfragen, uns stärker zu unterstützen.“45 Mit diesen Worten setzte der Minister für Radioindustrie den Schlusspunkt unter eine mehr als dreijährige Auseinandersetzung, die man im Kontext einer Zentralplanwirtschaft nicht unbedingt vermuten würde.
Von den 1970er-Jahren bis zum Zusammenbruch der sozialistischen Staaten wurde das Einheitssystem elektronischer Rechenmaschinen zu einem der erfolgreichsten transnationalen Kooperationsprojekte des Ostblocks. Durch die Bündelung von Ressourcen und die Koordination zwischen Standorten im In- und Ausland wurde ein Grad von Arbeitsteilung erreicht, der für die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen des RGW eine Ausnahmeerscheinung blieb. Damit gelang es, die Produktionszahlen erheblich zu steigern. Das Ziel, die technologische Lücke zu den USA zu schließen, blieb indes ein Wunschtraum der sowjetischen Führung. Nur mit Mühe schafften es die Ingenieure, zumindest einen einigermaßen stabilen Abstand von ein bis zwei Computergenerationen zu den Amerikanern zu halten. Als Haupthindernis erwies sich die leistungsschwache Halbleiterindustrie, die so zersplittert blieb, wie es die Computerindustrie vor dem ES ĖVM gewesen war.46 Dass diese Fragmentierung zumindest phasenweise beseitigt und die Modelle der rjad zehntausendfach gebaut werden konnten, erschien für die damaligen Akteure als wichtiger Teilerfolg – und wirft im Rückblick ein bezeichnendes Licht auf das ökonomische System der Sowjetunion. Offenbar war die Wirtschaftsverwaltung weder dazu in der Lage, zentral zu führen, noch dazu, den lokal vorhandenen Innovationspotenzialen einen sinnvollen Rahmen zu geben.
12
Herstellung von Computerpaneelen im Kiewer Werk für Rechen- und Steuerungsmaschinen (VUM), 1983
(aus: Boris Malinovskij, Očerki po istorii komp’juternoj nauki in techniki v Ukraine [Skizzen zur Geschichte der Computerwissenschaft und -technik in der Ukraine], Kiew 1998, S. 388; mit freundlicher Genehmigung von Boris Malinovskij)
Die Vorgänge um die Etablierung des ES ĖVM werfen eine ganze Reihe allgemeinerer Fragen zum Herrschaftssystem und zur Herrschaftspraxis auf. Ohne Zweifel geriet der Sozialismus sowjetischer Prägung, der sich mit dem technologischen Fortschritt im Bunde wähnte, durch den Rückstand im Bereich der Informationstechnologien in ein profundes ideologisches Dilemma. Die politisch-ideologischen Bewertungen hatten wechselnde Konjunkturen – in den frühen 1950er-Jahren waren Kybernetik und Computerindustrie verpönt, während ab dem Beginn der 1970er-Jahre eine große Begeisterung für die Rechentechnik herrschte und technokratische Diskurse positiv besetzt waren. Zugleich blieb jener Bereich der Rüstungsindustrie, in dem Computertechnik zum überwiegenden Teil geschaffen und genutzt wurde, von den ideologischen Konjunkturen weitgehend unabhängig. Was Philosophen im Parteiauftrag über Computer predigten, war für die praktische Arbeit von Entwicklern und Programmierern nahezu ohne Belang. Diese Arbeit gehörte zum Bereich der Landesverteidigung, dem die höchste Priorität eingeräumt wurde – was trotzdem nicht genügte, um den Rückstand zum Westen zu verringern, da die dort herrschenden Vorgaben zur Geheimhaltung institutionenübergreifende Kooperationen stark erschwerten.47
Dass die Debatte um die Etablierung des Einheitssystems überhaupt so intensiv geführt wurde, lässt erkennen, wie stark die politische Führung auf die wissenschaftlich-technische Intelligentsia einzugehen bereit war. Am Vermögen von Experten wie Rameev und Lebedev, zentral getroffene Entscheidungen zu ignorieren oder sich diesen zu widersetzen, lässt sich ablesen, wie groß die Spielräume lokaler Entscheidungsträger gegenüber dem Zentrum bemessen sein konnten. Weil die für die Rüstungsindustrie zuständigen Ministerien angesichts des technologischen Rückstands und des quantitativen Mangels an Rechentechnik auf die wissenschaftlich-technische Intelligentsia angewiesen waren, konnte sich diese der zentralen Industriepolitik wirksam entgegenstellen. Die Vereinheitlichung, die mit dem von höchsten Stellen durchgesetzten ES ĖVM einherging, blieb die Ausnahme und konnte im Bereich der Kleinrechner und der Halbleiterindustrie nicht wieder erreicht werden.48
Letztlich sorgte erst die Spionagetätigkeit der DDR-Staatssicherheit dafür, dass der Expertenstreit endete und IBM-Technologien zum verbindlichen Maßstab für die sowjetische Computerindustrie wurden. Diese doppelte „Hilfe“ für die UdSSR – aus den USA und zugleich aus der DDR – gehört zu den paradoxen Konstellationen und überraschenden Wirkungsmechanismen, die für die Ära des Kalten Kriegs nicht untypisch sind.
1 N.C. Davis/S.E. Goodman, The Soviet Bloc’s Unified System of Computers, in: Computing Surveys 10 (1978) H. 2, S. 93-122, hier S. 96.
2 Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Computers aus vorrangig amerikanischer Perspektive: Paul N. Ceruzzi, A History of Modern Computing, 2. Aufl. Cambridge 2003; Martin Campbell-Kelly/William Aspray, Computer. History of the Information Machine, New York 1996; Kenneth Flamm, Creating the Computer. Government, Industry, and High Technology, Washington 1988.
3 Kaum eine Computerfirma stand in den 1960er- und 1970er-Jahren im Zuge von Börsenhöhenflügen, Anti-Trust-Prozessen und Produktvorstellungen derart im Rampenlicht wie IBM. Entsprechend umfangreich ist die Literatur zur Geschichte und insbesondere zur dominanten Position des amerikanischen Konzerns. Vgl. etwa Emerson W. Pugh, Building IBM. Shaping an Industry and Its Technology, Cambridge 1995; Richard Thomas DeLamarter, Big Blue. IBM’s Use and Abuse of Power, London 1986; Franklin M. Fisher/James W. McKie/Richard B. Mancke, IBM and the U.S. Data Processing Industry. An Economic History, New York 1983. Zu einem der größten Rüstungsprojekte mit IBM-Beteiligung siehe Kent C. Redmond/Thomas M. Smith, From Whirlwind to MITRE. The R&D Story of the SAGE Air Defense Computer, Cambridge 2000.
4 Siehe Fisher/McKie/Mancke, IBM (Anm. 3), S. 111-118, und Emerson W. Pugh/Lyle R. Johnson/John H. Palmer, IBM’s 360 and early 370 Systems, Cambridge 1991, S. 36f.
5 Jean-Jacques Servan-Schreiber, The American Challenge, New York 1979, S. 99 (frz. Erstausg.: Le défi américain, Paris 1967).
6 OECD, Electronic Computers. Gaps in Technology, Paris 1969, S. 115f.
7 Zu den wenigen Analysen, die bisher vorliegen, zählen die vornehmlich auf die DDR bezogenen Arbeiten von Simon Donig, Die DDR-Computertechnik und das COCOM-Embargo 1958–1973. Technologietransfer und institutioneller Wandel im Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Modernisierung, in: Friedrich Naumann/Gabriele Schade (Hg.), Informatik in der DDR, Bonn 2006, S. 251-272; ders., Vorbild und Klassenfeind. Die USA und die DDR-Informatik in den 1960er Jahren, in: Osteuropa 59 (2009) H. 10, S. 89-100.
8 Hans Dieter Hellige, Sichtweisen der Informatikgeschichte. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Geschichten der Informatik, Berlin 2004, S. 1-28, hier S. 1.
9 Virtual’nyj Komp’juternyj Muzej, URL: http://www.computer-museum.ru/.
10 Die Website http://www.eser-ddr.de enthält nicht nur viele Informationen zur Computerentwicklung in der DDR, sondern auch Dokumente zur Sowjetunion in deutscher Übersetzung.
11 Ausführliche Literaturbelege finden sich in meiner Magisterarbeit, auf der dieser Beitrag basiert: Felix Herrmann, Hammer, Sichel, Mikro-Chip. Sowjetische Computer im Kalten Krieg, Berlin 2010. Sie erscheint voraussichtlich 2012 auf dem Dokumentenserver der Humboldt-Universität zu Berlin. Eine Vorabversion ist verfügbar unter http://www.herrmannfx.de/HammerSichelMikrochip.html.
12 Die „Kleine Elektronische Rechenmaschine“ (Malaja ėlektronnaja sčëtnaja mašina) wurde 1952 fertiggestellt. Vgl. Boris N. Malinovsky, Sergey Alexeevich Lebedev, in: Georg Trogemann/Alexander Y. Nitussov/Wolfgang Ernst (Hg.), Computing in Russia. The History of Computer Devices and Information Technology Revealed, Braunschweig 2001, S. 108-124, hier S. 113ff., und Seymour E. Goodman/Gregory D. Crowe, S.A. Lebedev and the Birth of Soviet Computing, in: IEEE Annals of the History of Computing 16 (1994), S. 4-24, hier S. 11ff.
13 Große Elektronische Rechenmaschine (Bol’šaja ėlektronno-sčëtnaja mašina), entwickelt unter Leitung von Sergej Lebedev, inzwischen Direktor am Moskauer Akademie-Institut für Präzisionsmechanik und Rechentechnik.
14 Vgl. V.V. Pržijalkovskij, Serija ĖVM „Minsk“, online unter URL: http://www.computer-museum.ru/histussr/55.htm.
15 Siehe DeLamarter, Big Blue (Anm. 3), S. 46.
16 Vgl. Davis/Goodman, Unified System (Anm. 1), S. 98.
17 Zur Wirtschaft in der UdSSR nach der Stalin-Ära vgl. Stefan Plaggenborg, „Entwickelter Sozialismus“ und Supermacht 1964–1985, in: ders. (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 5.1, Stuttgart 2002, S. 319-517.
18 V.K. Levin, Očerk stanovlenija Edinoj sistemy ĖVM [Abriss der Entstehung des Einheitlichen Systems Elektronischer Rechenmaschinen], online unter URL: http://www.computer-museum.ru/histussr/es_levin.htm. Siehe auch V.V. Pržijalkovskij, Istoričeskij obzor semejstva ES ĖVM [Historischer Überblick zu den Modellreihen des ES ĖVM], online unter URL: http://www.computer-museum.ru/histussr/es_hist.htm.
19 Der Begriff rjad ist bis heute gebräuchlich, wenn vom ES ĖVM die Rede ist. Im Folgenden werden beide Bezeichnungen synonym verwendet. In der DDR wurde das ES ĖVM als „Einheitssystem der elektronischen Rechentechnik“ bezeichnet, abgekürzt ESER.
20 Institut für Präzisionsmechanik und Rechentechnik (Institut točnoj mechaniki i vyčislitel’noj techniki).
21 „A my sdelaem čto-nibud’ iz rjada von vychodjaščee!“ Zit. bei Boris N. Malinovskij, Istorija vyčislitel’noj techniki v licach [Biographien zur Geschichte der Rechentechnik], Kiew 1995, S. 79. Vgl. auch Levin, Očerk stanovlenija (Anm. 18).
22 Naučno-issledovatel’skij institut sčetno-analitičeskich i matematičeskich mašin.
23 Siehe A.B. Bezborodov, Vlast’i naučno-techničeskaja politika v SSSR serediny 50-ch – serediny 70-ch godov [Die Führung und die wissenschaftlich-technische Politik in der UdSSR von Mitte der 1950er- bis zu den 1970er-Jahren], Moskva 1997, S. 139-148.
24 Naučno-issledovatel’skij institut upravljajuščich vyčislitel’nych mašin.
25 Vgl. G.S. Smirnov, Avan-proekt rjada poluprovodnikovych mašin „Ural“ [Vorabprojekt einer Reihe von Halbleitermaschinen „Ural“], online unter URL: http://www.computer-museum.ru/books/urals/urals14.htm. Smirnovs hier und in der folgenden Anm. genannte Artikel sind Auszüge aus: ders., Semejstvo ĖVM „Ural“. Stranicy istorii razrabotok [Die Familie der Ural-Computer. Eine Entwicklungsgeschichte], Penza 2005.
26 Siehe Smirnov, Avan-proekt (Anm. 25), sowie ders., Vybor varianta realizacii mašin edinogo rjada [Auswahl einer Variante zur Realisierung der Maschinen einer einheitlichen Reihe], online unter URL: http://www.computer-museum.ru/books/urals/urals20.htm. Der Inhalt des Briefs ist wörtlich wiedergegeben bei Malinovskij, Istorija vyčislitel’noj techniki (Anm. 21), S. 264f. Amerikanische Beobachter beurteilten die Maschinen aus Penza wenig schmeichelhaft: „The Ural line was apparently difficult to program, expensive, and poorly designed.“ Siehe Davis/Goodman, Unified System (Anm. 1), S. 98.
27 Konstruktorskoe bjuro promyšlennoj avtomatiki. Das KBPA war mit der Entwicklung von Computern für den militärischen Einsatz befasst. A.F. Kondrašev/V.V. Pržijalkovskij, NII „Argon“. Istoričeskaja spravka [Wissenschaftliches Forschungsinstitut „Argon“: Historischer Überblick], online unter URL: http://www.computer-museum.ru/histussr/niiargon.htm.
28 Siehe V.V. Pržijalkovskij, Naučno-issledovatel’skij centr ėlektronnoj vyčislitel’noj techniki. Istoričeskaja spravka [Das Wissenschaftliche Forschungszentrum für die elektronische Rechentechnik. Historischer Überblick], online unter URL: http://www.computer-museum.ru/histussr/nicevt1.htm.
29 Gespräch mit Hanns-Georg Jungnickel am 22. März 2010 in Tharandt/Sachsen.
30 Vgl. hierzu Pržijalkovskij, NICĖVT (Anm. 28), sowie Smirnov, Vybor varianta (Anm. 26).
31 Boris N. Malinovsky/Lev Malinovsky, Information Technology Policy in the USSR and Ukraine. Achievements and Failures, in: Richard Coopey (Hg.), Information Technology Policy. An International History, Oxford 2004, S. 304-319, hier S. 305.
32 Vgl. Frank Cain, Computers and the Cold War. United States Restrictions on the Export of Computers to the Soviet Union and Communist China, in: Journal of Contemporary History 40 (2005), S. 131-147.
33 CIA, ICL Computers for the USSR, 22.2.1971, online unter URL: https://www.cia.gov/library/readingroom/docs/DOC_0000969851.pdf, S. 3f.
34 Ebd., S. 11.
35 Vor allem das Interesse aus der UdSSR sorgte dafür, dass im neuen Konzern noch eine Weile an der Reihe festgehalten wurde, obwohl ihr mit der von ICT eingebrachten 1900er-Serie eine wesentlich besser etablierte hauseigene Konkurrenz gegenüberstand. Campbell-Kelly äußerte 1989 wenig konkret: „[System 4] appealed to certain users, including some in the Eastern Bloc.“ Vermutlich hatte sich ICL, welche die Veröffentlichung zur Firmengeschichte finanzierte und Campbell-Kelly Zugang zu Archivdokumenten gestattete, die ausführliche Darstellung ihres Ostgeschäfts zum damaligen Zeitpunkt verbeten. Vgl. Martin Campbell-Kelly, ICL. A Business and Technical History, Oxford 1989, S. 256, S. 271, S. 280, bes. S. 269.
36 CIA, ICL (Anm. 33), S. 11.
37 Malinovksy/Malinovsky, Information Technology Policy (Anm. 31), S. 305.
38 Horst Müller/Klaus Rösener, Die Unterstützung der elektronischen Industrie, in: Horst Müller/Manfred Süß/Horst Vogel (Hg.), Die Industriespionage der DDR, Berlin 2008, S. 77-109, hier S. 78f.
39 Gespräch mit Hanns-Georg Jungnickel (Anm. 29), und Ceruzzi, A History (Anm. 2), S. 161-165.
40 Zit. nach http://eser-ddr.de/Startvor40Jahren.htm.
41 Westliche Autoren konnten die konkreten Aufgaben beider Abteilungen nur erahnen, doch wurde ihr Einfluss auf den Rüstungssektor der UdSSR als beträchtlich eingeschätzt. Die Abteilung für die Rüstungsindustrie des ZK-Sekretariats war unter Chruščev als Instrument der Parteikontrolle über die Rüstungsministerien geschaffen worden und blieb nach seinem Sturz weiter bestehen. An den Sitzungen der Militärisch-Industriellen Kommission – wie die Kommission für militärisch-industrielle Fragen des Präsidiums des Ministerrats auch bezeichnet wird – sollen regelmäßig hochrangige Spitzenfunktionäre des ZK teilgenommen haben, u.a. Brežnev und Andropov. Vgl. Ulrich Albrecht/Randolph Nikutta, Die sowjetische Rüstungsindustrie, Opladen 1989, S. 141-147, S. 156, sowie I.V. Bystrova, Sovetskij voenno-promyšlennyj kompleks. Problemy stanovlenija i razvitija (1930-e – 1980-e gody) [Der Sowjetische Militärisch-Industrielle Komplex. Probleme seiner Entstehung und Entwicklung (1930er- bis 1980er-Jahre)], Moskva 2006, S. 630ff. Bis heute gibt es zur Zusammensetzung und Tätigkeit des Steuerungsorgans für die Rüstungsindustrie, das wöchentlich im Kreml tagte, nur wenig gesicherte Erkenntnisse.
42 Vgl. Pržijalkovskij, NICĖVT (Anm. 28).
43 Gespräch mit Hanns-Georg Jungnickel (Anm. 29).
44 Malinovskij, Istorija vyčislitel’noj techniki (Anm. 21).
45 Zit. bei: Boris N. Malinovskij, Istorija vyčislitel’noj techniki v licach. Akademik S. Lebedev [Biographien zur Geschichte der Rechentechnik. Akademie-Mitglied S. Lebedev], Kiew 1992, S. 118f.
46 Zur ausführlichen Bewertung des ES ĖVM sei auf die Kapitel 7 bis 9 meiner Magisterarbeit verwiesen: Herrmann, Hammer, Sichel, Mikro-Chip (Anm. 11), S. 84-107.
47 Zur wechselhaften Entwicklung der sowjetischen Diskurse um Informationstechnologien vgl. Slava Gerovitch, From Newspeak to Cyberspeak. A History of Soviet Cybernetics, Cambridge 2002, und neuerdings ders., Kyberkratie oder Kyberbürokratie in der Sowjetunion, in: Bernd Greiner/Tim B. Müller/Claudia Weber (Hg.), Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg 2011, S. 376-395.
48 Siehe Herrmann, Hammer, Sichel, Mikro-Chip (Anm. 11), S. 93-103.