Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Jüdisches Museum Frankfurt a.M., 12. März – 25. Juli 2010.
Begleitband: Dmitrij Belkin/Raphael Gross (Hg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010.
Website: http://juedischesmuseum.de/257.html
„Freiheit und Verwirrung“: Ausstellungsraum zur Auflösung der sowjetischen Herrschaft und den ambivalenten Folgen für die jüdische Bevölkerung
(Foto: Jüdisches Museum Frankfurt a.M./Uwe Dettmar)
Die Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland!“ dokumentierte die Geschichte von 20 Jahren jüdischer Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Gleichzeitig ging sie über ein rein historisches Projekt hinaus: Das Jüdische Museum Frankfurt hat gezeigt, dass eine museale Darstellung nicht nur dokumentieren, sondern auch lebendige Gegenwartskulturen zum Sprechen bringen kann.
Das Schlagwort „Ausgerechnet Deutschland!“ hebt die jüdische Zuwanderung in die Bundesrepublik, einen der Nachfolgestaaten des nationalsozialistischen Deutschlands, als erklärungsbedürftig hervor. Dieser Diskurs – der auch in die Frage nach der Möglichkeit eines neuen Judentums in Deutschland mündet – wurde in der Ausstellung auf gelungene Weise mit der Komplexität sozialer Realitäten kontrastiert. Das Konzept ermöglichte es, den historischen Ereignissen und den Wegen jüdischer Zuwanderer zu folgen. Die Ausstellung befasste sich dabei mit Lebenssituationen und Erfahrungen jüdischer Zuwanderer in der Bundesrepublik: Es ging um die politischen Bedingungen der Migration, um die Ausreise und das Kofferpacken, provisorische Wohnheime und Begegnungen mit Ämtern, die jüdischen Gemeinden in Deutschland – und nicht zuletzt darum, was eigentlich „jüdisch“ ist.
Für Besucher der Ausstellung begann zunächst alles in der Sowjetunion, in einer politischen und gesellschaftlichen Umbruchphase, und fand seine Fortsetzung mit politischen Entscheidungen in der Bundesrepublik zwischen Wiedergutmachung und Asyldebatten. Die Präsentation kombinierte übersichtliche Textinformationen anschaulich mit Exponaten. Einen Blickfang auf dem Weg in die Ausstellung stellte eine Videoinstallation dar, die durch Ausschnitte aus einer Reportage des Südwestrundfunks (SWR) von 1991 und Interviews mit Politikern die gesellschaftlichen Hintergründe der Zuwanderung eindrücklich vermittelte. Die Darstellung löste sich zugleich von den politischen und medialen Diskursen und nahm die Geschichtserfahrung der Betroffenen in den Blick. Hingewiesen wurde auch auf die ironischen Spiegelungen der besonderen Konstellation, die das Stigma der jüdischen Herkunft in die Chance verwandelte, die Gesellschaften Osteuropas, des Kaukasus und Zentralasiens zu verlassen.
„Koffer packen“: Ausstellungsraum zur Ausreise aus der ehemaligen Sowjetunion
(Foto: Jüdisches Museum Frankfurt a.M./Uwe Dettmar)
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Einen kleinen Einblick in diesen Diskurs bot eine unterhaltsame Audio-Installation. Hob man den Hörer eines altmodischen, klingelnden Telefons ab, konnte man sich Witze über die Auswanderung von Juden aus der Sowjetunion anhören: „Abramovich kommt in das OVIR-Büro,1 um seine Papiere für seine Ausreise nach Israel zu besorgen. Warum, Abramovich, warum willst Du uns verlassen, uns, das Land, das dich so lange ernährte?, fragt der Beamte. Abramovich schweigt. Hast Du hier nicht eine gute, anerkannte Arbeit? Abramovich nickt. Und hast Du hier nicht eine gute und bezahlbare Wohnung?, fährt der Beamte fort. Abramovich nickt wieder. Und kostenlose medizinische Versorgung? Wieder Nicken. Und kostenlose Bildung für deine Kinder? Ja, das auch, antwortet der arme Jude. Und warum willst du undankbarer dreckiger Jud dann hier weg?!, brüllt der Beamte. Ah, Sie haben mich gerade wieder daran erinnert, lächelt Abramovich.“ (Begleitband, S. 123)
Der Humor veranschaulicht die ambivalente gesellschaftliche Position der jüdisch-russischen Bevölkerung. Diese Hörinstallation kann als typisch für ein Ausstellungskonzept begriffen werden, das der Präsentation von Quellen breiten Raum gab. Die Ausstellungstexte in deutscher, russischer und englischer Sprache erleichterten als informativer Rahmen das Verständnis der Exponate, Interview- und Filmmaterialien. Die Installationen, darunter ein Wohnzimmer mit Ikea-Möbeln und laufendem russischen Fernsehprogramm sowie eine Amtsstube mit Verlesung von Briefwechseln zwischen Beamten und Migranten, waren aussagekräftig, anschaulich und nicht zuletzt unterhaltsam.
„Schwierige Ankunft“: Ausstellungsraum zur Lebenssituation jüdischer Neuzuwanderer
(Foto: Jüdisches Museum Frankfurt a.M./Uwe Dettmar)
Ausstellungsraum zu den Erfahrungen der Zuwanderer mit deutschen Verwaltungen
(Foto: Jüdisches Museum Frankfurt a.M./Uwe Dettmar)
Zoya Cherkassky, „Together“, Acryl auf Leinwand, 120 cm x 250 cm, Berlin/Tel Aviv 2006. Die in Kiew geborene Künstlerin lebt heute in Israel und in Berlin.
(Mit freundlicher Genehmigung der Rosenfeld Gallery Tel Aviv, Privatsammlung Israel, Foto: Ran Erde)
Der Chronologie der Ereignisse folgend, begleitete man die Zuwanderer in der Ausstellung weiter auf ihrem Weg in die Bundesrepublik, der durch deutsche Botschaften und sowjetische Behörden, beengte Wohnheime und deutsche Amtsstuben führte. In der Darstellung der ersten Schritte der Zuwanderer in der Bundesrepublik standen die Präsentation von Statistiken und Überblicksdaten einerseits und die Verbildlichung der Situation von jüdischen Zuwanderern unmittelbar nach der Einreise andererseits in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Dabei wurden die prägnantesten Daten sinnvoll und reflektiert eingesetzt, wobei auch die Quellen klar ausgewiesen waren. Es wurden etwa Grafiken präsentiert, die über die Einwanderungsstatistiken „jüdischer Kontingentflüchtlinge“ Aufschluss gaben, aber es wurde auch darüber informiert, dass bei weitem nicht alle eingewanderten Personen eine jüdische Volks- oder Religionszugehörigkeit angegeben haben.
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Indem die Ausstellung den Wegen der Zuwanderer durch die Wirren der Geschichte und Politik, durch Botschaften und Sozialämter folgte, verdeutlichte sie die strukturellen Merkmale des Migrationsprozesses sowie die gemeinsamen Erfahrungen der Zugewanderten. Danach geriet die Darstellung, ihrem Gegenstand angemessen, zunehmend facettenreicher. Es zeigte sich, dass die kulturellen Konsequenzen der Migration jenseits von Formalitäten, Integrationsproblemen und Zumutungen äußerst vielschichtig sein können.
Da sind zunächst die Folgen der Zuwanderung für die jüdischen Gemeinden in Deutschland. Man erfuhr, dass weniger als die Hälfte der als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ eingewanderten Menschen in eine jüdische Gemeinde eingetreten ist, dass sich durch die Zuwanderung (welche die Mitgliederzahlen jüdischer Gemeinden innerhalb weniger Jahre vervierfachte) aber dennoch sehr viel in den jüdischen Gemeinden bewegt hat. Zu Wort kamen in der Ausstellung sowohl Mitarbeiterinnen aus den etablierten Gemeindestrukturen Frankfurts als auch Zugewanderte, die ihr eigenes Verhältnis zur jüdischen Religion gefunden haben. In Interviews traten die Zuwanderer als Handelnde auf – und nicht nur als Objekte statistischer Analysen. Beeindruckend war etwa die autobiographische Erzählung des Kurators der Ausstellung, Dimitrij Belkin, der nach dem jüdischen Religionsgesetz nicht jüdisch geboren war, aber in einer liberalen Gemeinschaft zum Judentum konvertierte. Die Geschichten junger Zuwanderer, die sich, aus säkularen Familien stammend, dem orthodoxen Judentum zugewandt haben, zeugen von vielfältigen Wegen der Migranten zu ihrem kulturellen und religiösen Judentum. Mit dieser Herangehensweise zeigte die Ausstellung auch die Facetten jüdisch-russischer Kultur im Spannungsfeld von Kunst, Kitsch und Alltagskultur. Das Spektrum der Exponate und Materialien führte hier vor Augen, was diese Kultur alles sein kann: Sie kann als Rabbi-Matrjoschka, Heine-Rezitation oder als der Stolz der Veteranen auf ihre Teilhabe am Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland in Erscheinung treten. „Russisch-jüdische“ Kultur manifestiert sich als Hochkultur, Popkultur und Alltagskultur. Diese Ausdrucksformen sind nicht einseitig im „Russischen“ verwurzelt, wollen sich nicht als „deutsch“ verstehen und lassen sich ebensowenig auf „Jüdisches“ reduzieren.
Jüdische Matrjoschkas
(Sammlung Alexander und Sonja Freifeld, Bad Vilbel; Foto: Ursula Seitz-Gray, Frankfurt a.M.)
Von den vielfältigen Lebenssituationen der Zuwanderer zeugte auch eine Fotowand, welche die beruflichen Wege vor Augen führte. Die erläuterten Porträts dokumentierten Erfolgsgeschichten von Ärzten, Anwälten und Künstlern, aber auch die Aufnahme des leeren Stuhls eines Toilettenmanns. Die Ausstellung erzählte von Hoffnungen, Enttäuschungen, Schwierigkeiten und Erfolgen auf Seiten der Zugewanderten, der etablierten jüdischen Gemeinden und der deutschen Regierungen. Dabei wurde deutlich, dass durch Migration immer Neues entsteht – und es nicht nur ein Nachteil sein muss, „fremd zwischen allen Stühlen“ zu sein.
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„Momentaufnahmen“: Fotoprojekt über die beruflichen Wege jüdischer Zuwanderer
(Foto: Jüdisches Museum Frankfurt a.M./Uwe Dettmar)
Das kreative Potenzial der Zuwanderung wurde nicht zuletzt mit der Installation einer „Russendisko“ gezeigt. Auf Knopfdruck konnte in einem halbdunklen Raum die typische Musik der „Russendisko“ angehört werden, die unter anderem der Schriftsteller Vladimir Kaminer ins Leben gerufen hat, damit „osteuropäische Musik auch in Alteuropa die Menschen zum Tanzen bringt“.2 Manchem Besucher mochte erst hier bewusst werden, dass auch dieses Berliner Projekt, das längst einen Kultstatus erlangt hat, etwas mit der jüdischen Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland zu tun hat.
Wladimir Kaminers Aufenthaltserlaubnis für die DDR, ausgestellt am 30. August 1990 – wenige Wochen vor dem endgültigen Ende der DDR
(Mit freundlicher Genehmigung von Wladimir Kaminer, Berlin; Foto: Ursula Seitz-Gray, Frankfurt a.M.)
Jenseits solcher bunten Ausdrucksformen integrierte die Ausstellung zudem die Frage nach den Möglichkeiten und Formen eines neuen Judentums in Deutschland. Im Unterschied zu den plastischen Präsentationen russisch-jüdischer Kultur in Deutschland führten hier Zitate im Großdruck in den Diskurs ein, der, wenig erstaunlich, bislang mehr aus Thesen denn aus Antworten auf seine zentrale Frage besteht. Hier kamen kritische, aber auch hoffnungsvolle Stimmen zu Wort. Dieser Diskurs wirkte allerdings im Vergleich zu den vielfältigen subjektiven Zeugnissen, die stärker in Erinnerung bleiben, etwas blass.
Der Titel der Ausstellung machte neugierig: Wie und warum sind zu einem Zeitpunkt, als die Schrecken des Holocaust noch keine 50 Jahre zurücklagen, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ausgerechnet nach Deutschland gekommen? Als besonders gelungen fiel auf, dass die Ausstellung nicht nur über die Zuwanderer sprach, sondern sie mit ihren Gedanken, Perspektiven und Lebenswegen selbst zum Sprechen brachte. Die Verbindung von Zeugnissen wie Fotos, Interviews, historischen und statistischen Daten vermittelte ein facettenreiches Bild von 20 Jahren russisch-jüdischer Einwanderung in die Bundesrepublik. Das Konzept beschränkte sich dabei nicht auf den bislang wenig umfangreichen Forschungsstand. Die wissenschaftliche Eigenleistung des Projektes zeigte sich zum Beispiel darin, dass im März 2009 eine internationale Konferenz veranstaltet wurde,3 deren Ergebnisse in die Ausstellung und die Begleitpublikation eingeflossen sind. Der umfangreiche Essayband ist deshalb auch dann lesenswert, wenn man die Ausstellung nicht besucht hat.
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Die umfassende Raumgestaltung der Ausstellung, die etwa durch die Beschriftung von Bodenbelägen und die begehbaren Installationen erreicht wurde, erleichterte es auch Besuchern mit geringem Vorwissen, sich auf die Thematik einzulassen. Die Ausstellung war farbig, kreativ und kommunizierte ihre Inhalte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Die Anschaulichkeit und Lebendigkeit des Konzeptes passte zum Dargestellten: einer lebendigen russisch-jüdischen Kultur in Deutschland. Gleichzeitig fielen ungelöste Probleme und negative Erfahrungen der Betroffenen nicht unter den Tisch, sondern wurden ebenso reflektiert präsentiert wie Erfolgsgeschichten und Unterhaltsames. Man würde sich wünschen, häufiger eine solch facettenreiche Darstellung von Migration und Migranten zu sehen – nicht nur, wenn es um jüdische Zuwanderer geht.
„Jude?“ Blick in den Ausstellungsraum zu jüdischer Identität
(Foto: Jüdisches Museum Frankfurt a.M./Uwe Dettmar)
1 OVIR = Otdel Vis i Registrazii (Inostrancev), dt.: Abteilung für Visa und Registrierung (von Ausländern) – eine Behörde, die in der Sowjetunion unter anderem für die Erteilung von Ausreisegenehmigungen für Bürger zuständig war.
3 Zum Programm und zur Medienresonanz siehe http://juedischesmuseum.de/260.html.