1991, kurz vor der Abwicklung der DEFA, lief im Ost-Berliner Kino Babylon die nostalgische Filmreihe »Frühe Jahre damals in Berlin«.[1] In einem Streifzug durch die DEFA-Geschichte gab es hier einige alte Berlin-Filme neu zu entdecken: Darunter war auch »Modell Bianka«, ein Paradebeispiel dafür, wie sehr sich die frühe DDR-Filmproduktion für die Arbeits- und Konsumwelt der Frau im Sozialismus interessierte. Besonders das Thema Mode erwies sich in dieser Milieustudie über die Bekleidungsindustrie der DDR als Stoff für heitere Unterhaltung.
Wenn man ein westdeutsches Gegenstück zu »Modell Bianka« angeben müsste, so wäre der nur vier Jahre später herausgebrachte Spielfilm »Ingrid. Die Geschichte eines Fotomodells« zu nennen. Das gegensätzliche ideologische Muster der Modeherstellung und -praxis führen die beiden Filme eindrücklich vor Augen. Während im Osten die Kreation der Mode in den Kollektivismus des Volkseigenen Betriebs und in das Bild vom friedlichen Wettbewerb eingebunden ist, dominieren im Westen Konkurrenz, Individualismus und Starkult sowohl bei den Modemachern als auch bei den Modellen – so sollten es die beiden Filme zumindest vermitteln. Dennoch weisen sie wesentliche Gemeinsamkeiten auf. Sie beschäftigen sich mit dem deutlich sichtbaren Aufschwung der Konsumkultur im Westen und Osten; damit weichen sie signifikant ab von den damals herrschenden Trends in den Filmindustrien der beiden deutschen Staaten: Die DEFA hielt sich zu dieser Zeit recht strikt an das Modell des sozialistischen Realismus und produzierte kaum Unterhaltungsfilme; im westdeutschen Kino triumphierte der Heimatfilm. In »Modell Bianka« ebenso wie in »Ingrid« wird die Mode nicht nur als attraktive Kulisse für die Handlung gezeigt, sondern auch als vitales Thema der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, vor allem für die Frauen als Modemacherinnen und -konsumentinnen. Aus heutiger Perspektive lassen sich »Modell Bianka« und »Ingrid« als kulturhistorische Quellen begreifen, die wichtige Einsichten in die Haltungen der Deutschen zu Mode und Konsum liefern können – an der Nahtstelle des Kalten Krieges.
Zwar wird die Rolle der Konsumkultur im Allgemeinen sowie der Schönheit und Mode im Besonderen (vor allem im politischen Kontext der DDR) in neueren Studien mittlerweile anerkannt, aber sie ist selten in Einzelheiten und in vergleichender Perspektive zur Bundesrepublik untersucht worden.[2] Noch seltener werden Spielfilme in der Konsumgeschichte als legitime historische Quellen betrachtet. Der Beitrag möchte dazu anregen, diese Lücke zu schließen. Er folgt dem aktuellen Trend in filmhistorischen Studien, Filme als ein »Archiv der Gegenstände und Gesten, der Kleidungs- und Bewegungsgewohnheiten, der Lebensformen und Esskulturen« aufzufassen und wiederzuentdecken.[3]
Die konsumpolitische Agenda der beiden Filme ist ohne die Berücksichtigung der politischen Entwicklungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht zu verstehen. Die Währungsreform vom Juni 1948, die der Berliner Blockade sowie der Gründung der DDR und der Bundesrepublik vorausging, stellte eine tiefe Zäsur in der Nachkriegsgeschichte dar. Die Einführung der D-Mark in den Westzonen erleichterte die Umsetzung des Marshall-Plans, sorgte für das Ende des Schwarzmarktes und machte den Weg frei für die Entfaltung der Marktwirtschaft, während sich im Osten die sozialistische, oft von Mangel bestimmte Planwirtschaft durchsetzte. Die Konsequenzen der Währungsreform waren im Westen sofort sichtbar: Die langen Schlangen vor den Geschäften verschwanden, in den Schaufenstern war eine Vielfalt von Konsumgütern einschließlich eleganter Kleidung zu sehen, und das vermeintliche »Wirtschaftswunder« mit seinen in den Medien notorisch präsentierten Wellen (die »Fresswelle«, die »Urlaubswelle« und die »Kleidungswelle«) wurde in die Wege geleitet.[4] Zur gleichen Zeit blieb der ersehnte Wohlstand in der DDR aus: Noch bis in das letzte Drittel der 1950er-Jahre mussten die DDR-Bürger und Bürgerinnen in ihrem Alltag mit Punktkarten für Kleidung und Lebensmittelkarten sowie mit allgemeiner Knappheit an Konsumgütern zurechtkommen – und das bei steigenden, anspruchsvoller werdenden Konsumwünschen.[5] Bereits seit Ende der 1940er-Jahre fielen auch andere wichtige Entscheidungen in der SBZ bzw. DDR: die Verstaatlichung der Bekleidungsfirmen, die Konsolidierung der Volkseigenen Betriebe (VEB) und die Gründung der staatlichen Handelsorganisation (HO), einer Ladenkette, die in der Zeit der Rationierung den freien Kauf von Waren des täglichen Bedarfs zu stark erhöhten Preisen ermöglichte.[6]
Mangel herrschte auch im Angebot der Filmindustrie der DDR. Noch Jahre nach der Gründung der DEFA (1946) fehlte es – wie die Studioleitung selbst erkannte – an zeitnahen Komödien oder »heiteren Gegenwartsfilmen«, die Alltagsprobleme ansprachen und zugleich dem Publikum leichte Unterhaltung boten.[7] Die Erfüllung dieser Aufgabe übernahm 1951 der Regisseur Richard Groschopp. Gemeinsam mit Erich Conradi entwickelte er eine Idee des DEFA-Dramatikers Wolfgang Krügler zu einem Drehbuch, in dem es vorrangig um das Thema Mode ging.[8] Denn, so Groschopp in einem Rückblick von 1987, »die Bevölkerung verlangte schon kurze Zeit nach dem Krieg durchaus nach modischen Dingen. Der Wunsch [...] nach modischer und geschmackvoller Kleidung wurde zum Bedürfnis; aber es mangelte vorn und hinten an Material: Stoffen, Zwirn, Knöpfen, Leder, Accessoires. Übertriebene Forderungen nach einer eigenständigen, den Werktätigen entsprechenden sozialistischen Mode mußten am Mangel scheitern.«[9] Die so beschriebenen aktuellen Probleme und Sehnsüchte der Nachkriegszeit wurden zum Stoff eines leichten Lustspiels, über dessen positive Aufnahme beim amüsierten Publikum der Kritiker Hans-Ulrich Eylau 1951 nicht ohne Ironie in der »Berliner Zeitung« schrieb: »Dieser Film ist eine angenehme Begegnung mit gut aussehenden, gut angezogenen jungen Menschen – und die sind in unseren Filmen sonst ziemlich rar geworden.«[10]
In der Filmhandlung ist »Bianka« ein Modellkleid, das bei der Leipziger Messe einen Preis erhält. Zwei Betriebe der Bekleidungsindustrie sind an seiner Entstehung beteiligt: der VEB Berolina in Berlin und der VEB Saxonia in Leipzig. Der Entwurf für »Bianka« (und für ein weiteres Modell, »Gitta«) stammt vom begabten Musterzeichner Jochen Rauhut (Siegfried Dornbusch). Allerdings hat die Leitung seines Leipziger Bekleidungsbetriebs die Entwürfe als zu kostspielig für eine Massenproduktion abgelehnt (»8% Stoff muss gespart werden!«). In seinem Künstlerzorn und ohne das Wissen seines Kollegen Gerd Neu (Fritz Wagner) verschenkt Jochen Rauhut die Skizzen an die Konkurrenzfirma Berolina, wo die hübsche Direktrice Ursel Altmann (Gerda Falk) und ihre Freundin, die Schneiderin Hilde Meißner (Margit Schaumäker), prompt schöne »Verwandlungskleider« anfertigen und auch gleich selbst anziehen. (Ein Verwandlungskleid konnte in zwei oder mehreren Varianten getragen werden; es war um 1950 in Ost und West besonders beliebt.) Nach einer Reihe komödiantischer und romantischer Verwicklungen entscheiden sich die beiden im Wettbewerb stehenden Betriebe, das Modell »Bianka« als Gemeinschaftsarbeit bei einer Modenschau während der Leipziger Messe vorzuführen. Das Happy End liefert nicht nur die verdiente Auszeichnung für Berolina und Saxonia, sondern bringt auch zwei Liebespaare zusammen (Jochen/Ursel und Gerd/Hilde).
Obwohl Kritiker die Komödie als »ein mißglücktes Modell« oder »ein Modell mit Schönheitsfehlern« bezeichneten und sich über die etwas alberne Handlung mokierten, wurde der Film »Modell Bianka« zu einem eindeutigen Publikumserfolg.[11] Das Bedürfnis nach eleganter Kleidung sollte mindestens mit schönen Bildern auf der Leinwand erfüllt werden. Die Premiere im DEFA-Theater an der Kastanienallee im Juni 1951 und spätere Aufführungen an anderen Orten wurden sogar von Modenschauen begleitet, die die HO organisierte. Bald hatten über vier Millionen Zuschauer »Modell Bianka« gesehen – und noch sechs Monate nach der Premiere stand der Film auf dem Spielplan vieler DDR-Kinos. »Dieser Film spielte gegen alle Erwartungen der DEFA sehr rasch seine hohen Kosten ein«, schrieb das westdeutsche Magazin »Der Spiegel«. Die »Nachfrage nach solchen unproblematischen Fabrikaten« sei »im arbeitsgrauen Osten sehr groß«.[12]
»Modell Bianka« ist eine interessante Mischung aus sorgsam gewählten realistischen Bezügen und reiner Fiktion. Obwohl die erste Hälfte des Films überwiegend in Berlin spielt, sieht man nur wenige Lokalaufnahmen aus dem Stadtbild. Der Grund dafür: Die Zerstörungen und Kriegsschäden waren noch allzu gegenwärtig, zumal Groschopp ja alles andere als einen »Trümmerfilm« machen wollte.[13] Deshalb erhielten die wenigen Außenaufnahmen eine noch größere Bedeutung: Wenn man sich zum Beispiel einige am Berliner Hausvogteiplatz gedrehte Szenen genauer ansieht, bemerkt man, dass die Kamera länger als eigentlich nötig das Schild des dortigen U-Bahnhofs zeigt – als sollten die Zuschauer in diesem Moment daran erinnert werden, dass hier ja einmal das berühmte Konfektionsviertel gewesen war, in dessen Tradition sich die DDR-Bekleidungsindustrie selbst sah.[14] Kurz danach erscheint auf der Leinwand ein sechsstöckiges Gebäude mit dem Firmenschild »Deutsche Handels-Zentrale Textil« – die filmische Beteuerung, dass »die Fäden der Konfektion am Hausvogteiplatz wieder zusammenlaufen«.[15] Eine solche Verwaltung befand sich tatsächlich am Hausvogteiplatz, aber das repräsentative Gebäude, das die Zuschauer im Film eigentlich sehen, ist das Haus des VEB Fortschritt in Berlin-Lichtenberg.
Dieser reale Bekleidungsbetrieb diente auch als Vorbild für die fiktiven Betriebe Saxonia und Berolina im Film, und viele Innenaufnahmen, die Einsicht in die Produktionsbedingungen geben, wurden im Hauptgebäude des VEB Fortschritt gedreht. Die dortigen Arbeiterinnen wirkten als Statistinnen mit. Die im Film zu hörenden Werkhallen-Gespräche verweisen außerdem auf die Probleme der ostdeutschen Bekleidungsindustrie: Während die Näherinnen sich über den Mangel an qualitätsvollen Stoffen und über den technischen Stand der alten Maschinen laut beklagen, bestehen sie darauf, dass bei der Modenschau der Leipziger Messe elegante Modellkleider präsentiert werden müssten. In diesem Sinne evozierten die Dialoge im Film die Kampagne der Aktivistin und Näherin Luise Ermisch, die seit 1949 in der Parteipresse, vor allem im »Neuen Deutschland«, unnachgiebig forderte: »Kollegen, produziert Qualitätskleidung!«[16] Ermisch war fest davon überzeugt, dass »eine Modeschau nicht nur eine unterhaltende Veranstaltung ist. In unseren volkseigenen Betrieben veranstaltet, würde die Modeschau als Wettbewerb zwischen den einzelnen Bekleidungswerken durch die Kritik unserer Werktätigen in den Betrieben entscheidend bereichert werden.«[17]
Tatsächlich markiert die während der Leipziger Messe stattfindende Modenschau im Film einen emotionalen und inhaltlichen Höhepunkt. Groschopp, der bisher nur Erfahrungen als Kameramann für Dokumentarfilme (»Leipziger Messe«, DEFA 1946, Regie: Kurt Maetzig) und die Wochenschau »Der Augenzeuge« gesammelt hatte, bemühte sich, dieser Sequenz die größtmögliche Authentizität zu verleihen. Er ließ den originalen Laufsteg der Leipziger Modenschau im Filmstudio nachbauen und montierte in die neuen Studioaufnahmen von ihm selbst gedrehtes dokumentarisches Bildmaterial ein. Die letzten Szenen des Films belegen mit besonderer Exaktheit, wie beliebt die Modenschau auch bei berufstätigen Frauen in der DDR war: Als Laiendarstellerinnen und Komparsen übernahmen sie die Rollen der Mannequins und Modemacherinnen, des Publikums und der Jury.[18]
Während der Modenschau auf der Leipziger Messe ist das Modell »Bianka«, das gewissermaßen die Titelrolle spielt, zum ersten Mal im Film in allen seinen Verwandlungen zu sehen. Die Berolina-Modistin Ursel (Gerda Falk) führt es vor: Was zunächst wie ein Reisekostüm mit Rock und weiter Jacke aussieht, wird zu einem sportlichen Kleid und dann zu einem eleganten Nachmittagskleid. Nach der dritten Verwandlung erscheint ein berauschendes Abendkleid. Dieses im DEFA-Kino noch nie erlebte Schauspiel stand im Brennpunkt aller Debatten um den Film. Einerseits erkannten sowohl das Publikum als auch die Kritiker die außerordentliche Schönheit dieses Modells an.[19] Groschopp hatte die Fertigung des Kleids keinem anderen als dem seinerzeit berühmten Künstler Walter Schulze-Mittendorf anvertraut,[20] während die übrigen Kostüme vom Debütanten Georg Kaddatz unter den Bedingungen extremer Stoffknappheit entworfen worden waren. Deshalb empörten sich einzelne Kritiker und Leserinnen in der Presse über den bei der Leipziger Messe und auch im Kino zu beobachtenden Trend, auf Modenschauen immer luxuriöse, oft atemberaubend schöne Modelle zu präsentieren, die in den gewöhnlichen DDR-Läden jedoch nicht zu kaufen waren. Der Konflikt zwischen der harten Realität des allgemeinen Mangels einerseits sowie dem Konsumwunsch und Genuss am Anblick schöner Kleidung andererseits bestimmte die 1950er-Jahre in der DDR auch weiterhin.
2. »Ingrid. Die Geschichte eines Fotomodells«
Der Film »Ingrid«, die erste Produktion, die der ungarische Regisseur Géza von Radványi in Westdeutschland gedreht hat,[21] spielt ebenso wie »Modell Bianka« ausschließlich im Mode-Milieu. Doch haben wir es hier nicht mit einer Komödie zu tun, sondern mit dem Melodram einer jungen Frau, die in einem vornehmen Hamburger Modesalon Karriere macht. Die prächtigen Kleider in diesem Film werden also nicht in einem Volkseigenen Betrieb für die Befriedigung der Bedürfnisse der zahlreichen werktätigen Frauen hergestellt. Ganz im Gegenteil, sie stellen ein exklusives Produkt der westdeutschen Haute Couture dar, das sich mit den internationalen Trendsettern in Paris und New York messen kann. Die filmische Darstellung der Mode reflektierte auf diese Weise den neu erworbenen Wohlstand in den Jahren des »Wirtschaftswunders« und entsprach dem Wunsch der Zuschauer, die Eleganz und die Reize der neuesten Schnitte auch auf der Leinwand zu feiern.
Aufwendige Konfektionskomödien im alten UFA-Stil gab es viele in der Bundesrepublik der frühen 1950er-Jahre. Filme wie »Fürst von Pappenheim« (1952, Regie: Hans Deppe) und »Unschuld in tausend Nöten (Das Mädel aus der Konfektion)« (1951, Regie: Carl Boese) amüsierten das Publikum, doch die Kritiker bemängelten fehlende Originalität und sprachen von »Draufgänger-Possen« und »Operettenschwänken«.[22] Oft verkamen die Filme in den Augen der Rezensenten zu bloßen Modenschauen von damals prominenten westdeutschen Modemacherinnen wie Ursula Schewe und Sinaida Rudow.[23] Dazu kamen noch farbige Revue-Filme über Schönheitswettbewerbe wie »Johannes und die 13 Schönheitsköniginnen« (1951, Regie: Alfred Stöger) und »Der bunte Traum« (1952, Regie: Geza von Cziffra), deren Kitsch »die Grenzen des Geschmacks« überschritt, wie ein Kritiker der »Süddeutschen Zeitung« urteilte.[24] Der Film »Ingrid« war auch deshalb bemerkenswert, weil er deutlich von diesem Trend abwich. Er vereinigte Unterhaltung mit filmischer Raffinesse und der realistischen, einfühlsamen Darstellung eines Frauenschicksals.
Der Film beginnt mit einer spektakulären Modenschau im Jahr 1950, die zugleich eine Misswahl ist: Käthe Bienert (Johanna Matz), die das Modellkleid »Ingrid« präsentiert, wird zur »Miss Mannequin« gewählt. Danach eignet sich Käthe den Künstlernamen »Ingrid« an. Zwei Männer nehmen daran besonders Anteil: der Fotograf Walter (Paul Edwin Roth), weil er mit Käthe befreundet ist, und der Journalist Robert (Paul Hubschmid), der beabsichtigt, sie für ein Titelblatt-Feature in einer Illustrierten zu interviewen. In einer Rückblende, die durch das Interview ausgelöst wird, erzählt Käthe ihre Lebensgeschichte während der turbulenten Kriegs- und Nachkriegsjahre: von der Trennung der Familie bei der Evakuierung aus Wien bis zur Flucht zuerst nach Schlesien und dann nach Westdeutschland, die mit der Haft in einem Internierungslager bei Hamburg endet. Zeitgeschichtlich interessant an dieser Rückblende ist auch die Darstellung von Käthes Aufstieg als Mannequin und Fotomodell in Nachkriegs-Hamburg – ein dramatischer Aufstieg, der übrigens der viel beachteten Lebensgeschichte der ersten Miss Germany von 1950, Susanne Erichsen, sehr ähnlich ist.[25] Die völlig mittellose Käthe beginnt als einfache Näherin in einem Modesalon, wo der talentierte, aber exzentrische Couturier D’Arrigo (Louis de Funès) wie ein König über das Heer von jungen Mannequins herrscht. D’Arrigo entdeckt Käthe als Inspiration für das neue Modellkleid »Ingrid«, das er direkt an ihrem Körper entwirft. Die anderen Modelle schickt er mit einer launischen Geste weg. »Ingrid« bringt seinem Salon sowie der jungen Debütantin selbst anhaltenden internationalen Ruhm.
Während sich ihr Privatleben für den Rest des Films im gespannten Liebesdreieck zwischen Robert und Walter entfaltet, bleibt Ingrids berufliche Leistung in der Modewelt beachtlich stabil. Als Star-Mannequin und Fotomodell setzt sie sich mit ihrem souveränen, eher zurückhaltenden Stil durch. Die Schwangerschaft und die Geburt ihres Sohnes, dessen Vater der unzuverlässige Robert ist, scheinen keine Hindernisse für ihre Karriere zu sein: Nach einer kurzen Pause kehrt sie selbstsicherer, entschlossener als zuvor in die Modebranche zurück, diesmal in ein neugegründetes Unternehmen, das von ihrer ehemaligen Chefin geführt wird, der Direktrice (Alice Treff). Als alleinstehende Mutter verdient Ingrid genug, um die Existenz ihrer kleinen Familie zu sichern. Am glücklichen Ende gelingt auch die Versöhnung der Liebenden: Ingrid und Robert wollen fortan zusammenleben und planen den Einzug in eine Neubauwohnung.
Mit seiner Lebensnähe und der eher subtilen Bilanz des ersten Nachkriegsjahrzehnts aus der Perspektive einer jungen Frau aus der Großstadt fand »Ingrid« ein recht positives Kritikerecho in der Bundesrepublik.[26] Der Spielfilm gab Entwicklungen wider, die auch Themen vieler Kurz-Dokumentarfilme waren. Beispielhaft ist dafür der 12-minütige Film »Kleine Reise durch die Zeit (Ursula)« (Bundesrepublik Deutschland/Trans-Rhein-Film, 1953, Regie: Wolfgang Kiepenheuer) über den beruflichen und sozialen Aufstieg der Modeschülerin Ulla. Trotz begeisterter Rezensionen in der westdeutschen Presse und trotz des Beifalls für die Besetzung, besonders für Johanna Matz, war das Publikumsinteresse für »Ingrid« schwach, und der finanzielle Erfolg blieb aus;[27] zu stark war damals die Konkurrenz durch das im Aufschwung befindliche Genre des Heimatfilms. »Ingrid« geriet in Vergessenheit.
Die Gegenüberstellung des DEFA-Films »Modell Bianka« und des westdeutschen Films »Ingrid« zeigt, wie zwei sehr verschiedene Filmindustrien und Wirtschaftssysteme doch eine überraschende Schnittstelle in der Mode fanden – vor allem in der Art und Weise, welche Rolle die Mode als Beruf, als praktischer Teil der Konsumkultur und als Alltag für die Frauen beider Staaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielte. In beiden Filmen wird die direkte ideologische und ästhetische Konfrontation mit dem Rivalen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs vermieden. Stattdessen rücken weibliche Protagonisten in den Vordergrund, Frauen mit Beruf und Karriere, die im ostdeutschen ebenso wie im westdeutschen Kontext die Schönheitsideale und die Modestandards diktieren. Bei »Modell Bianka« sind es die jungen und attraktiven Direktricen, die Zuschneiderinnen im VEB Berolina, die nicht nur das schöne Verwandlungskleid realisieren, sondern es auch selber auf der Modenschau vorführen. Die Stars des Films sind zugleich Mannequins und Führungskräfte im sozialistischen Betrieb: Ästhetische und politische Vorbilder fließen in diesen zentralen Figuren zusammen, und darin sah die DEFA eine passende Form der Unterhaltung. Bei »Ingrid« findet man, was in »Modell Bianka« fehlt, nämlich den Werdegang der professionellen Modistin innerhalb einer knappen Dekade vor dem Hintergrund der Ruinen und dann des rasanten wirtschaftlichen Aufbaus im Westen: Ein Mädchen, das unter traumatischen Kriegsumständen flieht, wird zuerst Schneiderin, dann Modekönigin und endlich ein Fotomodell, das mit dieser Arbeit die Familie unterstützt. In beiden Filmen fungiert das Modethema als Einstieg in die Darstellung von Schönheitsidealen und Lebensentwürfen, die im Leben der Frauen im Westen wie im Osten besondere Resonanz finden. Die filmische Darstellung der Mode bietet einen vergleichsweise differenzierten historischen Einblick in den ostdeutschen bzw. westdeutschen Alltag aus der spezifischen Perspektive berufstätiger Frauen – jenseits der propagandistischen Leitlinien der DDR oder der dominierenden Ideologie der Heimatfilme im Westen. Das heutige Publikum mag bestimmte künstlerische Aspekte dieser Filme ablehnen – »Modell Bianka« könnte eine geschicktere Komödie sein, und »Ingrid« könnte auf die übertriebene Melodramatik verzichten –, aber als zeithistorische Quellen haben beide Filme ihren Wert.
Anmerkungen:
[1] Pressemitteilung für »Modell Bianka«, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Schriftgutarchiv, Dok. Nr. 3725.
[2] Zur Konsumgeschichte vgl. etwa Michael Wildt, »Wohlstand für alle«: Das Spannungsfeld von Konsum und Politik in der Bundesrepublik (S. 305-317), und Ina Merkel, Im Widerspruch zum Ideal: Konsumpolitik in der DDR (S. 289-304), beide in: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 2009; Christopher Neumaier/Andreas Ludwig, Individualisierung der Lebenswelten. Konsum, Wohnkultur und Familienstrukturen in Ost- und Westdeutschland, in: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 239-282. Sogar in neuerer gesellschaftsgeschichtlicher Literatur wird die Bedeutung der Mode oft nur am Rande erwähnt. Siehe etwa den Abschnitt »Kleiderordnung« bei Stefan Wolle, Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR (1949–1961), Berlin 2013, S. 371f.
[3] Bernhard Groß, Die Filme sind unter uns. Zur Geschichtlichkeit des frühen deutschen Nachkriegskinos, Berlin 2015, S. 51.
[4] Vgl. Michael Wildt, Changes in Consumption as Social Practice in West Germany During the 1950s, in: Susan Strasser/Charles McGovern/Matthias Judt (Hg.), Getting and Spending. European and American Consumer Societies in the Twentieth Century, Cambridge 1998, S. 301-316.
[5] Die neue Punktkarte wurde im Januar 1949 in der SBZ eingeführt, und die Rationierung der Textilien dauerte bis Ende 1951. Lebensmittelkarten wurden erst 1958 abgeschafft. Der Bürgerinnen und Bürger der DDR legten hohen Wert auf die Verbesserung der Bekleidungssituation. Laut Statistik stieg der Anteil der Ausgaben vom Haushaltsnettoeinkommen für Textilien und Schuhe von 12,4% für das Jahr 1949 auf 16,5% für 1954. Vgl. Jörg Roesler, Privater Konsum in Ostdeutschland 1950–1960, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 290-303, hier S. 295f.
[6] Siehe z.B. Katherine Pence, Building Socialist Worker-Consumers: The Paradoxical Construction of the Handelsorganisation – HO, 1948, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter in der SBZ – DDR, Essen 1999, S. 497-526.
[7] Vgl. Thomas Heimann, DEFA, Künstler und SED-Kulturpolitik. Zum Verhältnis von Kulturpolitik und Filmproduktion in der SBZ/DDR 1945 bis 1959, Berlin 1994, S. 113.
[8] Richard Groschopp, Heitere Filme – ernste Sache, in: DEFA-Pressedienst Nr. 5/1951, S. 55-58, hier S. 55, in: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Schriftgutarchiv, Dok. Nr. 3728.
[9] Ders., Faszination Film. Ein Gespräch, aufgezeichnet von Ralf Schenk, in: Aus Theorie und Praxis des Films Nr. 3/1987, S. 23-173, hier S. 33.
[10] H.-U.E. [= Hans-Ulrich Eylau], Mode, Mädchen, Modelle, in: Berliner Zeitung, 17.6.1951.
[11] Hermann Müller, Ein mißglücktes Modell, in: Neues Deutschland, 23.6.1951; -ach, Ein Modell mit Schönheitsfehlern, in: Union, 30.6.1951; -d-, Modell Bianka – etwas zu leicht, in: Sonntag, 2.7.1951.
[12] Bitterer Lorbeer, in: Spiegel, 13.2.1952, S. 31f., hier S. 31.
[13] Die Kinobesucher, sowohl im Westen als auch im Osten, hatten ein starkes Bedürfnis danach, die Trümmer zu vergessen, die ihr Lebensumfeld weiterhin prägten. Deshalb finden sich auch im ersten Trümmerfilm, »Die Mörder sind unter uns« (1946), Hinweise auf den überwältigenden Wunsch nach Normalität: Man bewundert da nicht nur das frische, makellose, perfekt geschminkte Gesicht der blonden Hildegard Knef, sondern auch ihre geschmackvollen Kleider – einen hellen Regenmantel, einen weißen Arbeitskittel, verschiedene elegante gebügelte Outfits –, die in starkem Gegensatz zu den sie umgebenden Ruinen und dem allgemeinen Alltagselend stehen. Vgl. Mila Ganeva, Fashion Amidst the Ruins: Revisiting the Early Rubble Films And the Heavens Above (1947) and The Murderers are Among Us (1946), in: German Studies Review 37 (2014), S. 61-85.
[14] Die Aufmerksamkeit des Publikums wurde wahrscheinlich auch auf die Tatsache gelenkt, dass der U-Bahnhof Hausvogteiplatz einer der ersten war, die wiederaufgebaut wurden. Viele Berichte in der Presse hatten mit Stolz darauf hingewiesen. Vgl. Berlins schönster Bahnhof fertiggestellt, in: Neues Deutschland, 8.1.1950; Alter Bahnhof – neuer Glanz, in: Berliner Zeitung, 8.1.1950; Berlin kommt wieder!, in: Neues Deutschland, 26.1.1950.
[15] G.L., Hausvogteiplatz, in: Neue Zeit, 12.1.1950. Vgl. L.Z., Umbau im Berliner Handelsapparat, in: Neue Zeit, 17.5.1950.
[16] Vgl. Luise Ermisch, Jedes Produktionsstück – ein Qualitätsstück, in: Neues Deutschland, 20.9.1949, und dies., Kollegen, produziert Qualitätskleidung!, in: Neues Deutschland, 4.7.1951.
[17] Ermisch, Kollegen (Anm. 16).
[18] Zahlreiche ähnliche Berichte von Modenschauen finden sich in der DDR-Presse der Zeit. Vgl. Edith Höding, Eine Modenschau für die werktätige Berlinerin, in: Berliner Zeitung, 14.12.1948; M.H., Frauen bestimmen die Mode, in: Berliner Zeitung, 18.9.1949; K.B., Eine Modenschau im Betrieb, in: Neues Deutschland, 4.9.1951.
[19] Die Presse berichtete von einer enthusiastischen Rezeption sowohl bei der Premiere als auch bei späteren Aufführungen; vgl. E.K., Liebe und Wettbewerb, in: Der Morgen, 17.6.1951, und [Herrmann] Barkhoff, Um ein Modellkleid. Der lustige DEFA-Film vom lustigen Wettbewerb, in: Die neue Film-Welt Nr. 4/1951, S. 22f.
[20] Schulze-Mittendorf (1893–1976) war ein Architekt und Kostümbildner, der für mehrere Fritz-Lang-Filme die Maschinen, Masken und Kostüme entworfen hat. Im »Dritten Reich« war er ein führender Designer bei der UFA gewesen. Nach Kriegsende und bis zum Mauerbau arbeitete er für die DEFA.
[21] Géza von Radványi (1907–1986), bekannt für die humanistischen Dokumentar- und Spielfilme, die er in Ungarn gedreht hatte, machte Karriere in der Bundesrepublik. Nach »Ingrid« drehte er ein gutes Dutzend erfolgreicher Filme. Die bekanntesten unter ihnen sind »Der Arzt von Stalingrad« (1957) und »Es muß nicht immer Kaviar sein« (1961).
[22] Vgl. Die neue Zeitung, 25.6.1952 und 29.5.1951.
[23] Ab 1953 beteiligte sich auch der Berliner Stardesigner Heinz Oestergaard an der Ausstattung von Filmen.
[24] Gunter Groll, Die Kunst der Filmkritik. 110 Filmkritiken, neu gelesen, Marburg 2015, S. 67f.
[25] Vgl. Susanne Erichsen zusammen mit Dorothée Hansen, Ein Nerz und eine Krone. Lebenserinnerungen des deutschen Fräuleinwunders, München 2003. Erichsen hatte nach Kriegsende zwei Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager verbracht, bevor ihr die Rückkehr nach Berlin gelang. In München wurde sie vom Salon Flacker entdeckt und bald danach zur Miss Mannequin und Miss Germany gewählt. Sie arbeitete jahrelang für den West-Berliner Modesalon Gehringer & Glupp.
[26] Die Geschichte einer verlorenen Generation, in: Film-Echo, 25.9.1954, S. 1102.
[27] Vgl. Jan Sobotka, Die Filmwunderkinder. Die Filmaufbau GmbH Göttingen, Düsseldorf 1999, S. 144f. Es gibt keine Hinweise auf eine Resonanz beim Ost-Publikum; obwohl der Film in Berliner Kinos lief, erschienen keine Rezensionen in der DDR-Presse, wie bei den meisten westdeutschen Filmen üblich.
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