einestages. Zeitgeschichten auf Spiegel Online
(http://einestages.spiegel.de)
Startseite „einestages“ (Stand: 16. März 2010)
Im Oktober 2007 startete der „Spiegel“ sein eigenes Historien-Portal „einestages“. Die Seite wurde zunächst als lebendige Art der Geschichtsvermittlung und der Konservierung von Erinnerungen überwiegend gelobt und heimste entsprechend auch Preise ein.1 Dieser Erfolg bewog den „Spiegel“ dazu, ausgewählte Beiträge in einer Printausgabe zu veröffentlichen, die sich jedoch nicht am Markt etablieren konnte. Bei „einestages“ soll es weniger um die großen historischen Fragen gehen, als um Episoden des Alltags, biographische Skizzen und antiquarische Erinnerungsstücke – Geschichten statt Geschichte, lautet das erklärte Ziel. So sollen etwa auch „das Musik-Phänomen Tokio Hotel“ und die „Tapeten der 1970er Jahre“ thematisiert werden. Dabei bedienen sich die Macher des Portals recht großzügig des mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen Memoria-Vokabulars und verkünden ganz unbescheiden den „Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses unserer Geschichte“.2
Das „Neue“ und „Einmalige“ des Projekts bezieht sich vor allem darauf, dass die Leser als „Partner“ eingeladen werden, sich an der nationalen Gedächtnisarbeit zu beteiligen (dass das angesprochene Wir-Kollektiv vornehmlich national verstanden wird, geht aus den entsprechenden Erläuterungen zum Begriff „Zeitgeschichte“ hervor3). Leser können sich unter „meinestages“ kostenlos als Mitglieder registrieren und erhalten so die Möglichkeit, die erschienenen Beiträge zu diskutieren oder zu ergänzen (etwa durch Fotos), Suchanfragen zu stellen (Rubrik „Fundbüro“) und Artikel durch die Vergabe von Sternchen zu bewerten. Vor allem aber werden die Nutzer angehalten, eigene Beiträge einzureichen, die dann auch veröffentlicht werden, sofern sie die Prozedur redaktioneller Prüfung und Bearbeitung erfolgreich durchlaufen.
Die publizierten Beiträge unterteilen sich in die Bereiche „Themen“ und „Zeitzeugen“. Die Einladung zur Mitarbeit bezieht sich vor allem auf letztere Rubrik: Hier richtet man sich explizit an alle, die „dabei waren, als Geschichte gemacht wurde“ (was auch immer das heißen mag), oder einfach „interessante Alltagsgeschichten“ zu erzählen haben. Entsprechend wird dem einzelnen Beiträger auch die direkte Aufnahme seiner Erlebnisse ins Walhall der Erinnerung zugesagt: Durch Publikation bei „einestages“ würden diese Erlebnisse zum „Teil des kollektiven Gedächtnisses“.4 Zwar lassen sich anhand der Autorenprofile unter den Beiträgern durchaus jene klischeehaften Laienhistoriker ausfindig machen – pensionierte Beamte, vornehmlich Lehrer, mit Interesse für Lokalgeschichte und Ahnenforschung –, die gleich mit mehreren Beiträgen in Erscheinung treten. Indes zeigt sich bald, dass ein erheblicher Teil der bisher gut 900 Zeitzeugen-Beiträge (Stand: 15. März 2010) von Journalisten und Zeithistorikern stammen – jedenfalls von Menschen, die „irgendwas mit Medien“ zu tun haben und immer schon ihre Brötchen mit dem Verfassen von Texten verdient haben.
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Als Autor gleich mehrerer Beiträge legt etwa „einestages“-Projektleiter Hans Michael Kloth höchstpersönlich Zeugnis ab von seinen Erfahrungen mit dem Dauerlutscher oder dem „Diercke“-Schulatlas in den 1970er-Jahren. Man erfährt auch, dass er im selben Hamburger Kiez aufgewachsen ist wie Robert Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten Höß und später Angeklagter im Frankfurter Auschwitz-Prozess.5 Zudem kann man nachlesen, wie sich der ehemalige „Spiegel“-Kulturchef Matthias Matussek nach dem Mauerfall für das Nachrichtenmagazin in Ost-Berlin einquartierte und dort seine spätere Ehefrau kennenlernte.6 Unter dem Aufruf an die Nutzer und Nutzerinnen des Portals, ihre persönlichen Erinnerungen an den 9. November 1989 ins kollektive Gedächtnis einzuspeisen („Wo waren Sie, als die Mauer fiel?“), finden sich bezeichnenderweise lediglich zehn Beiträge.7 Wie bewusst niedrig die Zeitzeugenschwelle bei „einestages“ angesetzt wird, davon zeugt schließlich die Undercover-Erotik-Reportage des vor einigen Jahren als „Literat der Generation Golf“ gepriesenen Roman-Autors Marc Fischer, der, verkleidet als Santa Claus, der Frage nachgegangen ist: „Wie heiß finden Frauen den Weihnachtsmann?“8
Weitgehend rätselhaft ist ferner, wieso manche Texte überhaupt ihren Weg in die Zeitzeugen-Rubrik gefunden haben – etwa der lesenswerte Artikel Hans-Joachim Langs über die Opfer der „jüdischen Skelett- und Schädelsammlung“ des Straßburger SS-Anatomen August Hirt9 oder Ralf Bülows (einer der Spitzenmänner unter den professionellen Zeitzeugen) witzige Deutung der „Astro-Archäologie“ Erich von Dänikens als genuin europäisches Konkurrenzprodukt der amerikanischen Ufologie auf dem Weltmarkt des Esoterik-Blödsinns.10 Fraglich ist auch, was Interviews mit Günther Netzer über die Aktualität der „deutschen Tugenden“11 oder mit Götz Alsmann über seine Liebe zum deutschen Schlager12 hier zu suchen haben. Es drängt sich der Verdacht auf, dass einfach nicht genügend eingereichtes Material vorhanden ist, das den selbst gesetzten Definitionen des Zeitzeugenberichts entspricht – „packende“, „authentische“ und „ganz persönlich“ gehaltene Erzählungen über „persönliche Erlebnisse“.13 Ob dies an mangelndem Interesse der Nutzer oder eher an den ökonomischen Zwängen in Zeiten der Wirtschaftskrise liegt (User-Beiträge bedürfen einer intensiveren und dadurch kostspieligeren redaktionellen Betreuung), ist schwer zu sagen.
Wie anhand dieser Beispiele deutlich geworden sein dürfte, gestaltet sich das Feld der als Zeitzeugenberichte veröffentlichten Texte inhaltlich und thematisch äußerst heterogen. Vergleicht man die Anzahl der zu jeder Dekade des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Beiträge, so zeigt sich eine deutliche Dominanz der 1940er-, 1960er- und – mit Abstand an der Spitze – der 1980er-Jahre. Dies überrascht angesichts von Weltkrieg, „68“ und Mauerfall freilich ebenso wenig wie die Tatsache, dass nach dem Erinnerungsjahr 2009 das Thema „DDR“ (247 Beiträge) im Vergleich zur alten Bundesrepublik wie auch zum „Nationalsozialismus“ (75 Beiträge) klar in Führung liegt.14
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Insgesamt aber werden die Zeitzeugen-Berichte von den mittlerweile ungefähr 1.500 erschienenen Beiträgen in der Rubrik „Themen“ bei weitem übertroffen (Stand: 15. März 2010). Dabei bestätigt sich der Eindruck, dass bei „einestages“ vorrangig das kollektive Gedächtnis professioneller Schreiber entsteht. Anders als bei den „subjektiven“ Zeitzeugen war es allerdings im Falle der „objektiv“ zu erzählenden „Themen“ von vornherein Teil des Konzepts, dass hier „renommierte Experten“ zeigen, wie es eigentlich gewesen. In diesem Sinne, so heißt es, werden die Themen denn auch von der Redaktion gesetzt und an Profis vergeben. Der User bekommt hier zunächst lediglich ein Vorschlagsrecht eingeräumt, darf aber unter gewissen Umständen („wenn Sie sich in einem Sachgebiet besonders gut auskennen“) auch selbst etwas ausarbeiten.15 Das Ergebnis wird vor Veröffentlichung von der Redaktion sprachlich noch auf „Spiegel-Qualität“ gebracht16 und mit mehr oder weniger passenden Fotografien und abgelichteten Dokumenten versehen, die die Redaktion in der Regel von Agenturen und Archiven bezieht (nicht zuletzt fungieren unter anderem die Deutsche Fotothek, das Bundesarchiv und das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz als „Partner“ von „einestages“17). Dieses Material wird in kurz kommentierten Bilderschauen präsentiert.
Unter den Autoren im Bereich „Themen“ nehmen hinter den Journalisten Zeithistoriker einen zunehmend größeren Anteil ein. So ist es gerade unter jüngeren Historikern offenbar verbreitet, „einestages“ als Spielwiese im journalistisch-populären Schreiben zu nutzen und geeignet erscheinende Stories aus der eigenen Forschungspraxis zu präsentieren (der Autor dieser Zeilen schließt sich hier ausdrücklich ein). Häufig wird das Portal dabei jedoch schlicht für einen ausgedehnten Klappentext zur Vermarktung des neuesten Buches gebraucht. Mancher Beitrag endet gar mit einem regelrechten Cliffhanger – schließlich findet sich am Ende des Artikels der entsprechende Hinweis auf die Publikation und häufig auch direkt ein Link zum „Spiegel“-Buchshop.
Inhaltlich, thematisch und qualitativ sind die „Themen“-Beiträge ähnlich heterogen wie die „Zeitzeugenberichte“. Jeden Tag gibt es ein paar neue Häppchen Zeitgeschichte, ein pauschales Urteil ist kaum möglich: Klamauk, Banales und romantische Rührstücke lassen sich hier ebenso finden wie „packende“ Darstellungen von Naturkatastrophen und Kriegen oder Biographien wankelmütiger Abenteurer und Entdecker aus vergangenen Zeiten, wobei auch schon mal unverhohlen der Kolonialromantik gefrönt werden darf.18 Daneben stehen durchaus lesenswerte biographische Skizzen von Opfern staatlicher Verfolgung während der NS-Zeit oder in der DDR. Zwischendurch lässt sich dann auch ein bisschen Werbung für andere Produkte des Hauses machen – so wird geraten, sich die von „Spiegel TV“ eingefangenen letzten „Stimmen aus dem Führerbunker“ nicht entgehen zu lassen.19 Quantitativ dominieren auch hier die 1940er-, 1960er- und 1980er-Jahre, und das Thema „DDR“ (258 Beiträge) schlägt den „Nationalsozialismus“ (180 Beiträge).20
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Ein kursorischer Blick auf die Namen aller Beiträger zeigt zudem eine bemerkenswerte Dominanz von Männern an: Die Liste der mehr als 5.000 Autoren und sonstigen Beiträger (geordnet nach „Aktivität“ in den letzten sieben Tagen) weist auf den ersten 100 Plätzen 95 Männer und lediglich 5 Frauen auf.21 Dieses Verhältnis wiederholt sich schließlich auch auf der Ebene der behandelten Gegenstände – d.h. die Anzahl an „packenden“ Beiträgen über große und weniger große Herren übertrifft die der Frauen-Biographien bei weitem. Inwieweit hieraus Rückschlüsse auf das zeitgeschichtliche Interesse im Allgemeinen, das Mitteilungsbedürfnis von Männern oder das Profil von „Spiegel“-Lesern abgeleitet werden können, sei einmal dahingestellt.
Um das angekündigte „Netzwerk der Erinnerungen“ hingegen, welches zwischen zeithistorischen Experten, der Redaktion und den Lesern geknüpft werden sollte,22 scheint es nicht allzu weit bestellt. Die Beteiligung an den Diskussionen der Beiträge fällt in der Regel bescheiden aus – zumindest zeigt sich auf diesem Gebiet eine erheblich ungleiche Verteilung. Welche Themen beim Publikum den meisten Anklang finden, ist kaum überraschend: Ein Artikel über Verschwörungstheorien regt offenbar den Äußerungsdrang der Leser ebenso an wie die Suche nach Wesen und Ursprung des deutschen Ostfriesenwitzes.23 Auch wer sich für die Kontroverse interessiert, ob der deutsche HipHop in Dresden oder Stuttgart das Licht der Welt erblickte, ist herzlich eingeladen, den Diskussionen auf „einestages“ zu folgen.24 Ansonsten scheinen sich vor allem Beiträge über technische Themen (schnelle Autos, große Flugzeuge, riesige Staudämme) besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Viele andere Texte hingegen stehen kommentarlos verwaist da, und auch die geringe Anzahl der „Bewertungen“ zeigt hier das weitgehende Desinteresse des Publikums an.
Was soll man von einem derartigen Produkt auf dem Markt der populären Zeitgeschichtsschreibung halten? Die „Zeitgeschichten“ von „einestages“ bieten sich durchaus als Alternative für mehr oder weniger sinnige Wikipedia-Recherchen an (Was macht eigentlich der Gitarrist einer bestimmten Band heute? Was ist aus diesem oder jenem Fußballer geworden? Wo befindet sich das längste U-Bahn-Netz? usw.) oder für virtuelle Weltreisen mit Google Earth in den schöpferischen Arbeitspausen vor dem Computer. In diese Richtung geht auch die „Zeitmaschine“, mit der man inmitten einer Flut vorbeirauschender Bilder durch das Jahrhundert surfen und sich seine Stationen vom Zufall diktieren lassen kann.25 Mehr als von anderen Online-Gadgets sollte man hier allerdings nicht erwarten.
1 So erhielt „einestages“ im März 2008 die Auszeichnung „Web-Magazin des Jahres“ bei den deutschen „LeadAwards“. Im Oktober 2009 wurde das Portal mit dem „Mira Award“ ausgezeichnet, dem Medienpreis des Bezahlsenders Sky.
2 Alle Zitate nach [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
3 Vgl. [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
4 Vgl. das Interview mit Hans Michael Kloth, dem Leiter des Portals, vom 19.11.2007: http://www.onlinejournalismus.de/2007/11/19/eines-tages-interview-kloth. Dieser Selbstbeschreibung folgt auch die Einleitung von: Wolfgang Hardtwig/Alexander Schug (Hg.), History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009, S. 11.
5 Vgl. die Links zu Hans Michael Kloth: [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
6 http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/5601/nach_dem_taumel.html.
7 http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumdiscussion/5425/wo_waren_sie_als_die_mauer_fiel.html.
8 http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/5725/_sie_waren_bereit_fuer_mich_den_sexy_santa.html.
9 http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/5804/die_spur_der_skelette.html.
10 http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/1997/goetter_im_raumanzug.html.
11 http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/3273/_wir_sind_nicht_gut_genug.html.
12 http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/1936/_der_schlager_hat_sich_selbst_entmannt.html.
13 Vgl. die Erklärung „Was sind Zeitzeugen?“ ([...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar]) sowie das Stichwort „Zeitzeugenbericht“ im Glossar ([...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar]).
14 Stand: 18. März 2010. Diese Zahlen lassen sich über die Suchfunktion ermitteln: [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
15 Alle Zitate aus den Erläuterungen „Was sind Themen?“, [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
16 So Hans Michael Kloth im Interview (Anm. 4).
17 Vgl. [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
18 Vgl. http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/2271/die_rueckkehr_von_afrikas_fitzcarraldo.html.
19 Vgl. http://einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackground/a5903/l6/l0/F.html#featuredEntry.
20 Stand: 18.3.2010. Ermittelt über die Suchfunktion: [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
21 [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar] (Stand: 15.3.2010).
22 [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].
23 http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/5749/wo_die_flachen_kerle_wohnen.html.
24 http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/499/rap_auf_saechsisch.html.
25 [...][Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar].